Antisemitismus und die russische Revolution

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts war das europäische Land, das den härtesten Antisemitismus erlebte, nicht Deutschland, sondern das Russische Reich. Die zaristische Staatspolizei organisierte regelmäßig Pogrome, bei denen betrunkene „Schwarzhunderter“ oder Kosaken jüdische Dörfer angriffen, die Einwohner ermordeten und ihr Eigentum zerstörten.
4. Juni 2018 |

Als Peter der Große, der von 1682 bis 1725 Russland regierte, gefragt wurde, ob er Juden in das Reich aufnehmen wolle, antwortete er, er ziehe Mohammedaner und Heiden vor. „Sie (die Juden) sind Schurken und Betrüger.“

Während der Regierungszeit von Katharina II. (1762 bis 1796) wurde die jüdische Besiedlung auf das Ansiedlungsrayon – ein kleines Gebiet des heutigen Weißrusslands, Litauens, Polens und der Ukraine – beschränkt. Im Ansiedlungsrayon wurden den Juden viele der Rechte, die sie im Russland des späten 17. Jahrhunderts genossen hatten, weggenommen.

Eine aktiver diskriminierende Politik begann mit der Teilung Polens im späten 18. Jahrhundert. Zum ersten Mal in seiner Geschichte erwarb Russland Land mit einer großen jüdischen Bevölkerung. Und 1772 verlangte Katharina die Große von den Juden des Ansiedlungsrayons, in ihren Schtetln (Dörfern) zu bleiben und verbot ihnen, in die Städte zurückzukehren, in denen sie vor der Teilung gelebt hatten.

Schwaches Bürgertum

Während die Juden in Westeuropa nach der Französischen Revolution eine größere Freiheit erlebten, wurden im Russischen Reich die Gesetze für das jüdische Leben restriktiver. Im Gegensatz zur schrittweisen Ausweitung der rechtlichen und sozialen Rechte für Juden in Westeuropa waren liberale und demokratische Tendenzen in Russland schwach.

Verschiedene Schriftsteller haben festgestellt, dass die Renaissance, die Reformation und die Aufklärung Russland umgangen haben. Der russisch-jüdische Revolutionär Leo Trotzki führte dies weitgehend auf die Nicht-Etablierung einer starken bürgerlichen Klasse und einer kapitalistischen Gesellschaft in Russland zurück.

Emanzipation

Die Herrschaft Alexanders II. (1855-1881) war von bedeutenden Reformen geprägt, von denen die wichtigste die Emanzipation der Bauern aus ihrer Knechtschaft gegenüber den Grundbesitzern im Jahr 1861 war. Gegenüber den Juden verfolgte Alexander II. eine mildere Politik, mit dem Ziel, (wie sein Vorgänger) ihre Assimilation in die russische Gesellschaft zu erreichen.

Er hob die schwersten Dekrete seines Vaters auf, einschließlich des „kantonistischen“ Systems, bei dem jüdische Kinder im zaristischen Russland zu militärischen Einrichtungen eingezogen wurden, mit der Absicht, dass die ihnen gestellten Bedingungen, sie zwingen würden, das Christentum anzunehmen.

Er entwickelte auch eine andere Interpretation des Klassifizierungssystems, indem er ausgewählten Gruppen von „nützlichen“ Juden verschiedene Rechte zugestand – in erster Linie das Aufenthaltsrecht in ganz Russland – darunter reiche Kaufleute (1859), Universitätsabsolventen (1861), zertifizierte Handwerker, (1865), sowie medizinisches Personal jeder Kategorie.

Die jüdischen Gemeinden außerhalb des Siedlungsrayons expandierten schnell, besonders die in St. Petersburg und Moskau, so dass ihr Einfluss auf die Lebensweise des russischen Judentums wichtig wurde.

Die allgemeine Atmosphäre, die durch die neuen Gesetze erzeugt wurde, war so bedeutend wie die Gesetze selbst. Die Verwaltung entspannte den Druck auf die Juden, und unter ihnen herrschte das Gefühl, dass die Regierung langsam aber sicher auf ihre Emanzipation einging.

Juden begannen am intellektuellen und kulturellen Leben Russlands in Journalismus, Literatur, Recht, dem Theater und den Künsten im Allgemeinen teilzunehmen. Die Zahl der Fachkräfte war in Russland sehr gering, und die Juden stiegen bald in Quantität und Qualität in ihren Reihen auf.

Rassistische Reaktion

Diese zunehmende Bedeutung der Juden im wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Leben erregte in der russischen Gesellschaft eine scharfe Reaktion. Zu den Hauptgegnern der Juden zählten einige der angesehensten Intellektuellen des Landes, wie die Autoren Ivan Aksakow und Fjodor Dostojewski, einer der größten europäischen Romanschriftsteller des 19. Jahrhunderts. Die Haltung der liberalen und revolutionären Elemente in Russland gegenüber den Juden war ebenfalls lauwarm.

Die Juden wurden beschuldigt, „einen Staat in einem Staat“ zu unterhalten und die russischen Massen „auszubeuten“. Sogar die Ritualmordlegende wurde von Agitatoren erneuert – wie im Kutaisi-Prozess von 1878, als Juden beschuldigt wurden, ein christliches Mädchen ermordet zu haben, um ihr Blut beim Backen zu verwenden.

Das Hauptargument der Hassprediger war allerdings, dass die Juden ein fremdes Element darstellten, das in die verschiedenen Bereiche des russischen Lebens eindrang und Kontrolle über wirtschaftliche und kulturelle Positionen gewann, ein insgesamt destruktives Element.

Viele Zeitungen, angeführt vom einflussreichen Novoye Vremya, führten eine antijüdische Agitation durch. Die antijüdische Bewegung gewann besonders nach dem Balkankrieg (1877-1878) an Stärke, als eine Welle des slawophilen Nationalismus die russische Gesellschaft durchzog.

Organisierter Massenmord

Opfer des Pogroms von Kischinau © Wikimedia commons

Es war jedoch die Ermordung von Zar Alexander II. durch die Narodniki (Anarchisten) im Jahr 1881, die einen Wendepunkt markierte. Der Mord wurde den Juden angelastet und provozierte weitverbreitete, drei Jahre andauernde Pogrome.

Die Staatspolitik unter seinem Nachfolger Alexander III. verhärtete sich, was zu den Gesetzen von 1882 führte, die die Bürgerrechte der Juden im Russischen Reich stark einschränkten. Nach dem früheren Dekret von 1881 war es Juden verboten, selbst in den riesigen eurasischen Steppen Land zu kaufen.

Der Zarenminister Konstantin Pobedonoszew erklärte das Ziel der Regierung in Bezug auf die Juden: „Ein Drittel wird aussterben, ein Drittel wird das Land verlassen und ein Drittel wird vollständig in der umliegenden Bevölkerung aufgelöst werden.“

Die Pogrome und die repressive Gesetzgebung führten in der Tat zur Massenemigration von Juden nach Westeuropa und Amerika. Zwischen 1881 und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges verließen schätzungsweise 2,5 Millionen Juden Russland – eine der größten Migrationsbewegungen in der Geschichte.

Verschwörungstheorie

Trotzki schrieb 1937: „Der Antisemitismus war im zaristischen Russland unter den Bauern, dem Kleinbürgertum der Stadt, der Intelligenz und den rückständigen Schichten der Arbeiterklasse ziemlich weit verbreitet.“ Trotzki hätte auch erwähnen können, dass die russisch-orthodoxe Kirche in ähnlicher Weise an antisemitischen Verfolgungen beteiligt war.

Die völlige Unterwerfung der russischen Kirche gegenüber dem Staat bedeutete, dass sie keine Schritte zum Schutz der Juden unternahm. Tatsächlich hatten viele Geistliche antisemitische Einstellungen – das erste Kischinauer Pogrom von 1903 wurde von orthodoxen Priestern angeführt.

Am Ende des 19. Jahrhunderts waren die antisemitischen Ansichten führender Kleriker weithin bekannt. Diese Personen drückten nicht die offizielle kirchliche Position zur Judenfrage aus, die gar nicht erst ausformuliert worden war, sondern spiegelten die weitverbreitete negative Haltung der allgemeinen Bevölkerung gegenüber den Juden wider.

Die Kischinauer-Pogrome, die von der Polizei organisiert wurden, waren die Reaktion des Staates auf die Massenstreiks von 1902/03, dem ersten Aufblitzen der Arbeiter_innenkämpfe vor der Revolution von 1905.

Im Jahr 1903, während der ersten Welle der Gewalt, die zu Ostern stattfand, wurden 49 Juden getötet, viele jüdische Frauen vergewaltigt und 1.500 Häuser beschädigt. Der Vorfall konzentrierte die weltweite Aufmerksamkeit auf die Judenverfolgung in Russland.

In diesem Jahr wurden auch die berüchtigten „Protokolle der Weisen von Zion“ veröffentlicht, ein gefälschtes Dokument, das behauptete, Aufzeichnungen eines Treffens jüdischer Führer im späten 19. Jahrhundert zu sein, bei dem sie ihr Ziel einer globalen jüdischen Hegemonie diskutiert hätten, das sie durch die Untergrabung der Moral der Nichtjuden und durch die Kontrolle der Presse und der Weltwirtschaft erreichen wollten.

Es wurde in der Zeit von 1903/06 im Russischen Reich verbreitet, als Werkzeug, um Juden zu Sündenböcken zu machen. Die Monarchisten machten sie für ihre Niederlage im Russisch-Japanischen Krieg verantwortlich und für die Revolution von 1905.

Ein zweites Pogrom im Oktober 1905, bei dem 19 Juden getötet wurden, war Teil einer Welle von 600 Pogromen, die nach der Veröffentlichung des Oktober-Manifests des Zaren von 1905 über das Russische Reich schwappte. Hunderte von Juden wurden bei den Pogromen massakriert.

Kehrtwende

Der erste Sowjet entstand in der Revolution von 1905 und wählte den jüdischen Revolutionär Trotzki zum Vorsitzenden © Wikimedia commons

Eine bemerkenswerte Veränderung ergab sich allerdings mit der Eroberung der Staatsgewalt durch die russische Arbeiterklasse, angeführt von den Bolschewiki in der Oktoberrevolution von 1917. Als erstes hat die bolschewistische Regierung alle 650 gesetzlichen Beschränkungen für Juden abgeschafft und ein formales Gleichheitsregime eingeführt.

Mitte 1917 waren die Sowjets (Arbeiter- und Soldatenräte) zum wichtigsten Instrument im Kampf gegen den Antisemitismus geworden, mit einer Kampagne, die sich an Fabrikarbeiter_innen und sogar an einige Aktivist_innen innerhalb der breiten revolutionären Bewegung richtete.

Im Spätsommer hatten die Sowjets eine breit angelegte Kampagne gegen den Antisemitismus gestartet. Zum Beispiel organisierte der Moskauer Sowjet im August und September überall in den Fabriken Treffen und Vorträge über Antisemitismus. Im ehemaligen Siedlungsrayon traten die lokalen Sowjets auf den Plan, um Pogrome zu verhindern.

Vertiefend

Als die politische Krise sich verschärfte und die Bolschewiki ihre Unterstützung in der Arbeiterklasse vertieften, starteten zahlreiche Provinzsowjets eigene Kampagnen gegen den Antisemitismus. Viele Parteimitglieder halfen, die parteiübergreifende Antwort auf Antisemitismus auf Fabrik- und Sowjetniveau zu entwickeln.

Die Zeitung Jewish Weekly hatte befürchtet, dass die bolschewistische Machtergreifung mehr antisemitische Gewalt einläuten würde, denn „wo auch immer slawische Massen sich versammeln“ bedeutete dies im Allgemeinen „gegen die Yids losschlagen“. Aber in den Tagen nach dem Aufstand gab es in Russland keine Pogrome.

Natürlich hatte diese Veränderung ihre Grenzen, wie Trotzki betonte: „Die Oktoberrevolution hat den illegalisierten Status der Juden abgeschafft. Das bedeutet aber keineswegs, dass es mit einem Schlag den Antisemitismus weggefegt hat … Die Gesetzgebung allein verändert die Menschen nicht.“

Wie Brendan McGeever in seinem Artikel „Die Bolschewiki und der Antisemitismus“ in der Zeitschrift Jacobin betont hat, gab es im Verlauf des Revolutionsjahres 1917 etwa 235 Angriffe auf Jüdinnen und Juden – nur 4,4 Prozent der Bevölkerung, aber Opfer von etwa einem Drittel der gewalttätigen Angriffe gegen Minderheiten in diesem Jahr. Während der Bürgerkriegsjahre (1918-1921) gab es eine verheerende Welle von Gewalt gegen Juden, die allerdings zum allergrößten Teil von der konterrevolutionären Weißen Armee verübt wurde.

Vorurteile und Verwirrung

Manchmal überlagerten sich Klassenzorn und antisemitische Vorstellungen über Juden und Jüdinnen: Im Juli forderten Redner bei einer Straßenkundgebung die Menge auf, „die Juden und die Bourgeoisie zu zerschlagen“.

Eine Geschichte erzählt, wie Arbeiter und Bauern in der Roten Armee, die für die Verteidigung der Revolution gegen die Konterrevolution kämpften, Lenin kritisierten, der die Regierung in Moskau anführte und Trotzki, ihren Militärbefehlshaber, lobten – „Trotzki ist ein guter Kerl, aber Lenin in Moskau ist ein verdammter Jude!“ Die Realität war natürlich umgekehrt, Trotzki war Jude.

Ein ähnlicher Fehler wurde an der Wand des Winterpalais gemacht. Kerenski, der Premierminister der Provisorischen Regierung, welche die Bolschewiki zu zerschlagen versuchte, bemerkte ein Graffiti, als er während des bolschewistisch geführten Aufstandes aus dem Winterpalais floh: „Nieder mit dem Jid Kerenski, es lebe Genosse Trotzki!“

Rechte morden weiter

McGeever behauptet auch, dass im Frühling 1918 „in Städten der nordöstlichen Ukraine wie Hluchiw (Gluchow) die bolschewistische Macht durch die antijüdische Gewalt seitens der örtlichen Kader der Partei und der Roten Garden konsolidiert wurde“. In einer Zeugenaussage von Harriet (Hasia) Segal, einer jüdischen Frau, die damals noch ein Kind war, wird klar, dass das Pogrom von anti-bolschewistischen Kosaken verübt wurde (siehe YouTube, „A Pogrom in Glukhov“).

Damit soll nicht bestritten werden, dass einige Elemente der Roten Armee während des grausamen Bürgerkrieges antisemitische Gewalt ausgeübt haben könnten. Aber die Führer der Revolution und Tausende von Revolutionären im ganzen ehemaligen Reich haben sich gemeinsam und bemerkenswert bemüht, den Antisemitismus zu beseitigen. Und zumindest zu einem gewissen Grad funktionierte es.

Echte Verbesserung

Sowjets – die demokratischste Regierungsform aller Zeiten

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Das Zentralkomitee der Bolschewistischen Partei, das im Oktober 1917 eine Mehrheit im Allrussischen Kongress der Sowjets gewann, enthielt sechs Juden unter 21 Mitgliedern. Das wäre in den dunklen Tagen der zaristischen Unterdrückung undenkbar gewesen. Etwas Grundlegendes war mit den Arbeitern und Bauern passiert, die die Revolution durchgeführt hatten.

Sicherlich haben die klassenbewusstesten Arbeiter, von denen viele vor der Revolution antisemitische Gefühle und Einstellungen hegten, nicht nur äußerlich eine tiefgreifende Veränderung durchgemacht. Durch ihre revolutionären Aktionen hatten sie sich selbst, ihre emotionalen Einstellungen und ihren intellektuellen Blick verändert.

Das Vertrauen, das sie sich durch ihre eigenen politischen Aktionen gegen den wahren Feind – die zaristische herrschende Klasse – eingeflößt hatten, bedeutete, dass die antisemitischen Einstellungen bis zu einem gewissen Grad verkümmerten.

Wie Lenin in einer Radiosendung im März 1919 bemerkte: Die Landbesitzer und Kapitalisten versuchten, den Hass der Arbeiter und Bauern, die durch Not gefoltert wurden, gegen die Juden abzulenken … Diese alte, feudale Unwissenheit vergeht; die Augen der Menschen werden geöffnet.“

Aus Geschichte lernen

In Großbritannien und Europa ist die Gruppe, die am stärksten von Rassismus betroffen ist, die muslimische Bevölkerung, obwohl Antisemitismus noch lange nicht tot ist und tatsächlich in den letzten Jahren wiederbelebt wurde. Um den wachsenden anti-muslimischen Rassismus zurückzuschlagen und zu besiegen, können wir viel vom bolschewistischen Kampf gegen den Antisemitismus während der russischen Revolution lernen.

Der Artikel ist zuerst in Socialist Review erschienen. Übersetzung aus dem Englischen von Mario Wagner.