Identitätspolitik und Klassenpolitik

Wer wegen seiner Identität unterdrückt wird, kann deshalb den Kopf einziehen, oder ihn stolz erheben. „Black is beautiful“ oder stolze Dragqueens – sie behaupten sich gegen Unterdrückung. Identitätspolitik bietet Möglichkeiten zur Selbstemanzipation, die allerdings auch auf Grenzen stoßen.
17. Juni 2019 |

Der weltweite Aufstieg rechtsextremer Parteien und damit die Zunahme von Rassismus und anderen reaktionären Ideen bewirken, dass immer mehr Menschen nach Möglichkeiten suchen, sich gegen diese Politik zu wehren. Es gibt viele verschiedene Ansätze, und immer mehr Menschen, die einer bestimmten unterdrückten Gruppe angehören – z.B. einer Religion – verschaffen ihrer Identität selbstbewusst Geltung.

Identitätspolitik bedeutet in diesem Sinne, dass man von einer bestimmten Identität ausgehend politisch handelt. Wenn man von der etablierten Politik ständig als anders als die „normale“ Bevölkerung definiert wird und dieser Unterschied auf bestimmte Eigenschaften oder Merkmale reduziert wird, ist es verständlich, dass man sich auch selbst die Frage nach der eigenen Identität stellt. Wenn also eine Frau immer wieder mit Sexismus konfrontiert wird und aufgrund ihres Geschlechts ständig auf Hindernisse, z.B. im Beruf, stößt, erscheint es nur logisch, sich in der feministischen Bewegung zu engagieren.

Erfolge

Vergangene Bewegungen haben gezeigt, dass Kämpfe auf Basis der Identität durchaus ein Hebel sind, um die herrschenden Verhältnisse und ihre Legitimität anzugreifen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Black Power-Bewegung in den 1960er/70er-Jahren in den USA. Die schwarze Bevölkerung, die nach jahrhundertelanger Unterdrückung und Ausbeutung als Sklaven immer noch durch die Rassentrennung vom Staat offiziell diskriminiert wurde, forderte Gleichberechtigung.

Die Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King versuchte dies auf friedliche Art zu erreichen. Andere, wie Malcolm X, einer der Anführer der Nation of Islam, gingen einen konfrontativeren Weg. Sie beharrten darauf, dass die schwarze Bevölkerung genau auf ihre Identität als Afroamerikaner, die von den Weißen als Rechtfertigung für die Unterdrückung verwendet wurde, stolz sein soll.

Dazu gehörte auch das bewusste sich Lossagen von weißen Schönheitsidealen und die Betonung: „Black is beautiful“. Bekannte Vertreter_innen der Black Power-Bewegung, wie Angela Davis, trugen stolz ihren Afro-Look und halfen so vielen Menschen, Selbstbewusstsein für den weiteren Kampf um Gleichberechtigung zu gewinnen.

Hauptnenner Klasse

Trotz dieser Erfolge gibt es aus marxistischer Sicht aber einen entscheidenden Punkt, den die Identitätspolitik vernachlässigt, nämlich, dass Unterdrückung als eine Funktion von Klassengesellschaften auftritt. Ausbeutung funktioniert nicht, ohne die Ausgebeuteten auf die eine oder andere Weise zu unterdrücken – mit Gewalt, Rassismus oder Sexismus.

Indem man sich nur auf das Element der Unterdrückung konzentriert, wird die tiefste Kluft in der Gesellschaft, die zwischen den Klassen, nicht nur ausgeblendet, sondern auch ihre Rolle als Basis der Unterdrückung verkannt. Das kapitalistische System basiert auf der Ausbeutung der Arbeiter_innenklasse durch die Klasse der Kapitalisten.

Seit 2012 gibt es Kämpfe von den Fastfood-Arbeiter_innen für 15 Dollar Mindestlohn in zahlreichen US_Bundesstaaten, seit März 2019 erfolgreich. Vor allem schwarze Frauen sind an vorderster Front dabei © Wikimedia Commons (The All-Nite-Images)


Die arbeitende Klasse hat somit aber auch eine enorme Macht über die Kapitalisten, da sie deren Profit erst erarbeitet und die Kapitalisten so von ihnen abhängig sind. Wenn die Ausgebeuteten sich von einer Klasse „an sich“, wie es Karl Marx formuliert, zu einer Klasse „für sich“ entwickeln, sich also als Einheit wahrnehmen und die eigene Stärke durch gemeinsame Kämpfe erfahren, können sie das gesamte System zerstören und selbst die Macht übernehmen.

Die Kapitalisten sind sich dessen natürlich bewusst, sie tun deshalb alles dafür, die arbeitende Klasse zu spalten. Die Diskriminierung von Frauen etwa bringt für den Staat (als Gesamtkapitalisten) viele Vorteile: durch das Betonen des „mütterlichen“ Charakters der Frau erscheint es normal, dass sie kostenlos Reproduktionsarbeit wie Kinderpflege oder Haushalt erledigt. Auch die schlechtere Bezahlung in Pflegejobs etc. findet hier ihre Rechtfertigung.

Dabei ist Reproduktionsarbeit grundlegend für den Kapitalismus, Marx schreibt im ersten Band des Kapitals: „Sowenig eine Gesellschaft aufhören kann zu konsumieren, kann sie aufhören zu produzieren. In einem stetigen Zusammenhang und dem beständigen Fluß seiner Erneuerung betrachtet, ist jeder gesellschaftliche Produktionsprozeß daher zugleich Reproduktionsprozeß. Die Bedingungen der Produktion sind zugleich die Bedingungen der Reproduktion.“ Gleichzeitig wird „produktive“ Arbeit als übergeordnet eingestuft, da sie Mehrwert schafft. Mit der Abwertung der Reproduktionsarbeit festigt sich der ideologische und politische Überbau aus festgeschriebenen Rollenbildern.

Marx verstand die Stellung der Frau als ein Maß für die Ungleichheit in der Gesellschaft als Ganzes. In Die heilige Familie zitiert er die Vorhersage des französischen Philosophen und Frühsozialisten Charles Fourier, dass „der Grad der weiblichen Emanzipation“ das „natürliche Maß der allgemeinen Emanzipation“ sei. Die Befreiung der Unterdrückten kann also nur einhergehen mit einer allgemeinen Befreiung.

Argumente der Identitätspolitik

Eine typische Argumentation der Identitätspolitik ist das Hervorheben der persönlichen Erfahrung. Demnach könne man Unterdrückung nur richtig verstehen und deshalb auch kritisieren, wenn man selbst von dieser Unterdrückung betroffen ist. Zwar ist es richtig, dass Menschen, die nicht einer bestimmten Gruppe angehören, gewisse Erfahrungen nicht machen und die Auswirkungen der Diskriminierung nicht am eigenen Leib spüren. Und es stimmt natürlich auch, dass die Erfahrungen Betroffener und ihre Vorstellungen davon, wie eine gerechtere Gesellschaft aussehen soll, gehört werden müssen. Doch es rechtfertigt nicht, anderen die Kritikfähigkeit abzusprechen und sie aus dem Kampf auszuschließen, schließlich macht genau das uns Menschen aus – dass wir uns in andere hineinversetzen können, darauf beruht die Forderung nach „Internationaler Solidarität“.

Ein weiteres Argument ist, dass man eine Gesellschaft aufgrund dessen, wie sie mit Minderheiten umgeht, definieren könne. Auch das ist nicht falsch, aber es blendet die Interessen aus, die hinter der Unterdrückung von Minderheiten stehen, nämlich die Spaltung und somit die Schwächung der Arbeiter_innenklasse.

Außerdem heißt es nicht, dass alle Personen, die theoretisch einer bestimmten Identität angehören, auch die gleichen Erfahrungen machen. So ist zwar möglicherweise ein Milliardär ebenso betroffen von antimuslimischem Rassismus wie ein Arbeiter in einem Wiener Vorort, Ersterer wird aber kaum Probleme damit haben, aufgrund seiner Religionszugehörigkeit eine Arbeitsstelle zu finden.

Für eine muslimische Frau mit Kopftuch zeigt sich das oft noch viel deutlicher. Viele hatten die Hoffnung, dass ein schwarzer US-Präsident dem Rassismus in Amerika ein Ende setzen würde. Barack Obama als erster Afroamerikaner in diesem Amt setzte zwar ein wichtiges Zeichen, aber an den Strukturen des Staates hat das nichts geändert – immer noch werden regelmäßig schwarze Jugendliche von der Polizei erschossen.

Ausgrenzung durch das System

Ein Problem an der Orientierung an der eigenen Identität als Grundlage für politisches Handeln ist die Konzentration auf das Individuum. Die amerikanische Feministin Nancy Fraser betont, dass Feminismus früher auf eine grundlegende Kritik der bestehenden Verhältnisse abzielte, Diskriminierung also als politisches Problem wahrnahm. Heute jedoch bestehe die Gefahr, sich dem neoliberalen Trend der individuellen Lösungen einzugliedern. Die Kritik ist nicht mehr auf ein System gerichtet, das den beruflichen Erfolg überhaupt erst notwendig macht, sondern will vielmehr erreichen, dass auch jede einzelne Frau sich im Karrierekampf beweisen kann und soll.

Natürlich ist es ein Fortschritt, dass Frauen heute die Möglichkeit haben, Karriere zu machen. Es ändert aber nichts am Grundproblem und es haben auch nicht alle Frauen – oder Personen anderer unterdrückter Gruppen – die gleichen Chancen. So können sich Frauen der herrschenden Klasse beispielsweise Haushaltshilfen und Kindermädchen leisten, für eine alleinerziehende Frau aus der unteren Schicht ist das völlig undenkbar. Diskriminierung geht nicht nur von Individuen aus, sondern vom ganzen System.

Von Rechten übernommen

Dass sich Linke der Identitätspolitik bedienen, ist zwar nichts Neues, historisch gesehen war es aber eher ein Mittel der rechten beziehungsweise konservativen Seite. Wenn von Identität die Rede ist, gibt es automatisch immer jemanden, der bestimmt, wer zu dieser Community gehört und wer nicht. Sie basiert also stark auf dem Ausschluss anderer und eignet sich deshalb hervorragend für nationalistische Propaganda.

Nicht zufällig steckt Identität im Namen der rechtsextremen, erst kürzlich aufgrund ihrer Verbindungen zum Attentäter von Christchurch aufgefallenen „Identitären“. Diese berufen sich auf eine angeblich homogene, christlich-abendländische Kultur, deren Identität durch Einwanderer, besonders aus islamischen Ländern, bedroht sei.

Auch US-Präsident Donald Trump rechtfertigt seinen offenen Rassismus mit der herbeiphantasierten Bedrohung der Weißen durch die „Multi-Kulti“-Gesellschaft.

Haben nichts mit linker Identitätspolitik gemein – die „Identitären“ © Wikimedia Commons (Ataraxis 1492)


„Rainbow Coalition“

Ein großartiges Beispiel für die Verbindung von Identitätspolitik und Klassenpolitik ist die Rainbow Coalition. In den 1960er Jahren verbündeten sich die Black Panthers, eine revolutionär-sozialistische Bewegung für die Gleichberechtigung von Afroamerikaner_innen, die puerto-ricanischen Young Lords und die Young Patriots (Patrioten, weil sie für „ihre Leute“ kämpften), um gemeinsam gegen staatliche Unterdrückung zu kämpfen.

Die Young Patriots stammten aus Uptown, einem Stadtteil in Chicago, in dem fast ausschließlich Arbeitsmigrant_innen aus den armen Gegenden der Südstaaten wohnten. Zur Provokation verwendeten sie deshalb auch die Südstaaten-Flagge. Als „White Trash“ („Weißer Müll“) bezeichnet, wurden sie auch diskriminiert und waren ebenso wie die schwarze Bevölkerung von Armut und Polizeigewalt betroffen. Sie übernahmen auch das 10-Punkte Programm der Panthers (z.B. Selbstverwaltung, Antikapitalismus und internationale Solidarität).

Der Black Panthers-Aktivist Bob Lee sagte über den Zusammenschluss: „Es ist nichts falsch an dem Prozess, Stolz auf dich selbst, deine Community, deine Kultur oder deine Leute zu entwickeln. Viele sind aber in dieser Phase steckengeblieben und haben sich nie darüber hinausgewagt. Die Rainbow Coalition war nur ein Codewort für Klassenkampf.“ Die Rainbow Coalition erkannte, dass der Kampf gegen Rassismus mit dem Kampf gegen Ausbeutung zusammengehört, sie haben gesehen, dass sie trotz unterschiedlicher Hautfarbe der gleichen Klasse angehören und also den gleichen Feind haben.

Das war der Zeitpunkt, an dem sie für den Staat richtig gefährlich wurden. Es kam zu mehreren Morden an Mitgliedern, bei denen eine Beteiligung der Polizei vermutet wird. „Zu wirklich starker Repression kam es erst, als die Panthers Allianzen bildeten. In dem Moment, in dem die Partei nicht mehr einfach anti-weiß war, sondern begann, richtige Politik zu betreiben, wurde sie zur Bedrohung“, so Lee.

Black Panthers und Young Patriots bei einer Versammlung der Rainbow Coalition © MintPress News


Revolutionäre Theorie

Dass die Menschen nach Möglichkeiten suchen, der Unterdrückung, die sie täglich erleben, zu begegnen, ist wichtig. Allerdings muss klar gesagt werden, dass nur mit der Abschaffung der wesentlichsten Trennlinie innerhalb der Gesellschaft – eine Klasse beutet die andere aus – der Unterdrückung dauerhaft die Basis entzogen werden kann. Anstatt uns in unterschiedliche Identitäten wie Geschlecht, Hautfarbe oder sexuelle Orientierung aufteilen zu lassen, braucht es ein kollektives Identitätsbewusstsein als Klasse.

Einer der Gründe, wieso viele Menschen sich in der Identitätspolitik wiederfinden, ist die momentane Abwesenheit großer Klassenkämpfe und dass in neueren Theorien (z.B. Postmarxismus) der Klasse weniger Bedeutung beigemessen wird – Unterteilungen mit Begriffen wie „Prekariat“ oder „Neue Mittelschicht“ verschleiern, dass sie alle der ausgebeuteten Arbeiter_innenklasse angehören.

Tony Cliff: Warum wir eine revolutionäre Partei brauchen

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Und genau da liegt die Aufgabe von uns Sozialist_innen, unser Ziel muss, wie Lenin schreibt: „der Volkstribun sein, der es versteht, auf alle Erscheinungen der Willkür und Unterdrückung zu reagieren, wo sie auch auftreten mögen, welche Schicht oder Klasse sie auch betreffen mögen, der es versteht, an allen diesen Erscheinungen das Gesamtbild der Polizeiwillkür und der kapitalistischen Ausbeutung zu zeigen, der es versteht, jede Kleinigkeit zu benutzen, um vor aller Welt seine sozialistischen Überzeugungen und seine demokratischen Forderungen darzulegen, um allen und jedermann die welthistorische Bedeutung des Befreiungskampfes des Proletariats klarzumachen.“