Oswalda Tonka: Buchengasse 100

Promedia Verlag, 232 Seiten. 17,90 Euro.
4. Oktober 2018 |

„Unfassbar, 124 Jahre Arbeiterelend und Arbeiterverfolgung. Der Kapitalismus hat wahrhaftig eine ruhmreiche Geschichte aufzuweisen.“ So lautet das treffende Urteil von Oswalda „Ossy“ Tonka, als sie zurückschaut auf die österreichische Arbeiterbewegung, die gleichzeitig auch ihre eigene Familiengeschichte ist. 1923 geboren und aufgewachsen in der Buchengasse 100 im 10. Wiener Gemeindebezirk, erlebt sie nicht nur die von den Arbeiter_innen erkämpften sozialen Fortschritte im „Roten Wien“, sondern auch, wie diese schleichend wieder abgebaut werden und schließlich, wie der Austrofaschismus in den Nationalsozialismus übergeht.

Tonkas Aufzeichnungen liefern ein authentisches Zeitbild, beginnend mit dem Leben ihrer Großeltern zeichnet sie über drei Generationen hinweg das Leben einer Arbeiterfamilie, die stets bei den großen historischen Ereignissen zugegen – und oft maßgeblich daran beteiligt – war. Ihre Tochter Gitta veröffentlichte diese wertvollen Erinnerungen.

Dass ein großer Teil ihrer Verwandtschaft bei den Sozialdemokraten oder Kommunisten aktiv war, war ein großes Glück für Tonka. Von der Bewunderung der Russischen Revolution und den Erzählungen über die Rote-Fahnen-schwenkende Euphorie während des Jännerstreiks lässt sie sich gern anstecken. Nach dem Tod der Eltern mussten sie und ihre Schwester Trude zwei Jahre im Waisenhaus verbringen, wo sie gleich zu Anfang gezwungen wurden, kriegsverherrlichende Nazilieder zu singen und den braunen Aufmärschen zuzujubeln. Die Mädchen suchten Zuflucht bei ihren Tanten, deren Wohnung ein geheimer Treffpunkt für Widerständige war.

Schon als kleines Kind eignete sich Tonka so die „roten“ Wörter an. Großes Mitleid hatte sie etwa mit den geschlachteten Hühnern: „Einmal werden sich die Hendln das nimmer g`fallen lassen, und sie werden a Revolution machen!“ Doch neben solch lustigen Anekdoten erlebte sie auch die Verelendung der Arbeiter_innen, die Schrecklichkeit des Krieges, sah, wie Genossen hingerichtet wurden. Tonka schloss sich schließlich den jugoslawischen Partisan_innen an, um aktiv gegen den Faschismus zu kämpfen.

Dieses ebenso erschütternde wie wunderbare Buch fesselt ab der ersten Seite. So ehrlich, vielseitig und hautnah erlebt man Geschichte selten. Tonka lässt persönliche Gedichte von ihr und ihrer Schwester miteinfließen, illustriert mit Wiener Mundart und beschreibt Personen und Geschehnisse mit viel Liebe zum Detail.

Aus den Seiten dieses Stücks Zeitgeschichte wirbelt uns nicht nur der Staub der Vergangenheit entgegen, sondern es führt uns auch die Aktualität von der Notwendigkeit zum vereinten Widerstand vor Augen. Tonkas Mut und politische Überzeugung kann und soll für uns alle ein Vorbild sein.