Von wegen „Wirtschaftsflüchtlinge“: Wovor die Syrer wirklich fliehen!

Syrische Flüchtlinge werden seit einigen Monaten als „Wirtschaftsflüchtlinge“ und „Migranten“ verunglimpft. Allen voran verlangt Innenminister Wolfgang Sobotka, dass solche, die er am Besitz eines Smartphones erkennen kann, zurückgewiesen oder deportiert werden. Es ist an der Zeit daran zu erinnern, was die Syrer_innen zum verzweifelten Schritt der Flucht treibt.
27. September 2016 |

Seit dem Beginn der syrischen Revolution wurden 12 Millionen Menschen aus Syrien in die Flucht getrieben, etwas mehr als die Hälfte der gesamten Bevölkerung. Präsident Assads gewissenloses Bombardement der befreiten Zonen hat sie vertrieben. Über 90 Prozent der Toten im Bürgerkrieg gehen auf das Konto seines Regimes. Baschar al-Assad kam im Jahr 2000 an die Macht, kurz nachdem sein verhasster Vater Hafez al-Assad verstorben ist. Er galt als Hoffnungsträger. Wer er wirklich ist und wozu er fähig ist, das wurde für die breite Masse der Bevölkerung erst seit der brutalen Niederschlagung der anfangs sehr moderaten Proteste klar.

Im August 2016 waren laut UNHCR 6,1 Millionen Menschen Binnenflüchtlinge. Etwa 5,9 Millionen haben es ins Ausland geschafft. Zuerst flohen die Wohlhabenderen, die sich meist in den Nachbarländern wieder eine Existenz aufbauen können. Viele finden Unterschlupf in den Häusern von Freunden oder Verwandten, die trotz aller Widrigkeiten Raum für neue Familien schaffen.

Robin Yassin-Kassab und Leila Al Shami beschreiben in ihrem Buch Burning Country die furchtbaren Zustände in den Lagern im Landesinneren, die von syrischen Aktivist_innen betrieben und nicht von der UNO betreut werden.

Horror in Lagern

In Bab al-Hawa an der Grenze zur Türkei sind Plastikzelte dicht gedrängt an Felsblöcken befestigt und stehen auf Asphalt. Bei Regen werden sie überflutet und in der Sommerhitze brodeln sie.

Wenige Kilometer entfernt, in Atmeh, schmiegt sich ein Lager an den Grenzzaun. Die Zelte sind manchmal zwischen Olivenbäumen aufgestellt, manchmal auf umgepflügtem Boden. Im Sommer werden die Hügel von einem nervenaufreibenden Wind geplagt, im Winter von trockener klirrender Kälte. Die Kinderfüßchen sind mit nichts als Flip-Flops vor dem Schnee geschützt. Einige sind erfroren, andere in Zeltbränden getötet worden.

Verschiedene Lager sind von Hubschraubern der Regierung mit Maschinengewehrsalven durchsiebt worden, deshalb haben die Menschen oft Angst die Lager zu betreten und hausen in Höhlen und unter Büschen. Viele Kinder sind traumatisiert. Ein freiwilliger Psychologe beschreibt ein Kind, das sich weigert, das Zelt zu verlassen. Es hat mit ansehen müssen, wie sein Onkel in Stücke zerhackt wurde.

Hauptziel Nachbarländer

Es ist nicht einfach das Land zu verlassen und für viele ist es viel zu teuer. Abo Hajar hat es nach Jordanien geschafft: „Ich hatte etwas Geld auf meinem Konto. Für die Flucht brauchst du 1.000 oder 2.000 Dollar. Ich kenne viele, für die das undenkbar ist. Diese Leute sind immer noch dort, sie können nicht weg.“

Von den sechs Millionen, die es ins Ausland geschafft haben, waren laut UN-Zahlen vom August 2016 waren 2,7 Millionen in der Türkei, eine Million im Libanon, 650.000 in Jordanien und 240.000 im Irak untergebracht. In der gesamten EU haben zwischen April 2011 und Juli 2016 über 1,1 Millionen syrische Flüchtlinge um Asyl angesucht.

Rückkehr der Flüchtlinge

In den befreiten Zonen, das sind nach Yassin-Kassab und Al Shami mittlerweile 80 Prozent des syrischen Territoriums, haben sich „lokale Räte“ (nicht zu verwechseln mit den Lokalen Koordinierungskomitees, LCC) etabliert, eine Struktur die zu 45% demokratisch gewählt wird. Sie sind eine hart erkämpfte Errungenschaft der Bevölkerung und unter den schwierigsten aller vorstellbaren Umstände, während pausenlosem Bombardement und Belagerung, entstanden. Sie kümmern sich um die grundlegendsten Notwendigkeiten für die Bevölkerung: sie improvisieren Spitäler, betreiben unterirdische Schulen, sorgen für Wasser und Strom und lokale Nahrungsmittelproduktion.

Ghayath Naisse: „Flüchtlinge sind die Zukunft der syrischen Revolution“

Ghayath Naisse: „Flüchtlinge sind die Zukunft der syrischen Revolution“

Man muss das Augenmerk auf diese lokalen Räte und ein Wiederaufflammen der arabischen Revolutionen richten, wenn man sich die Zukunft Syriens vorzustellen versucht. Wenn Assad einmal weg ist, dann können solche demokratischen Strukturen einen Grund zur Rückkehr bieten, die Menschen in die Gestaltung der Zukunft ihrer Heimat einbinden und ihnen eine Perspektive geben.

Buchtipp: Burning Country von Robin Yassin-Kassab und Leila Al-Shami. Pluto Press, 2016, 262 Seiten 17,99 Euro

Der Verfasser/die Verfasserin hat den Artikel mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt.