Frankreich: „Blockieren wir alles“ – eine neue, radikale Aufstandsbewegung entsteht
Zuerst veröffentlicht auf REBELNEWS. Geschrieben von Catherine Curran Vigier. Übersetzt von Echo Vinasha Lex.
Update der Redaktion: Während des Veröffentlichens hat Bayrou tatsächlich sein Misstrauensvotum verloren. Laut France24.com soll Prasident Macron innerhalb weniger Tage einen neuen Premierminister ernennen.
Im Juni/Juli 2024 wurden in Frankreich vorgezogene Parlamentswahlen durchgeführt, nachdem Präsident Macron das Parlament aufgelöst hatte. Vierzehn Monate danach könnte Frankreich wieder vor der Wahlurne stehen. Der unmittelbare Grund der Krise ist die Entscheidung des Premierministers Bayrou, sich der Vertrauensfrage im Parlament zu stellen. Der Punkt des Anstoßes ist das von ihm vorgeschlagene Budget, in dem er € 44 Mrd. an Kürzungen plant, während sich die französische Bevölkerung noch von den € 32 Mrd. Kürzungen vom Jänner 2025 erholt.
Bayrou möchte sich das Krankengeld vorknöpfen: Er schlägt vor, dass die ersten sieben Tage des Krankenstandes nicht mehr bezahlt werden sollten. Langzeiterkrankte sehen sich mit drastischen Kürzungen der Rückerstattungen für Medikamente konfrontiert. Die Obergrenze, die regelt, wie viel Privatärzte über dem gesetzlichen Sozialversicherungsbeitrag rückerstattet bekommen, soll ebenfalls gestrichen werden – Ärzt:innen können also verrechnen, so viel sie wollen, während die Sozialversicherung nur einen Bruchteil der Kosten deckt. Der Rest würde aus privater Versicherung oder der eigenen Tasche der Bevölkerung bezahlt werden müssen.
Pensionen sollen eingefroren und um € 350 pro Jahr gekürzt werden. Am umstrittensten ist aber die Streichung zweier Feiertage. Arbeiter:innen würden am Ostermontag und am 8. Mai arbeiten müssen – aber unbezahlt. Das Geld soll die Staatskassen wieder füllen. Die Unternehmerschaft möchte auch die fünfte bezahlte Urlaubswoche streichen, die Arbeiter:innen zusteht.
Diese Kürzungen stehen vor dem Hintergrund der reichsten 500 französischen Familien, die gemeinsam € 1,1 Billion an akkumuliertem Kapital ihr Eigen nennen. Diese Familien haben ihren Reichtum seit 2017 – durch neoliberale Politik der Umverteilung von der Masse an die Reichen – verdoppelt. Der Senat hat berechnet, dass sich die öffentliche Unterstützung privatwirtschaftlicher Betriebe pro Jahr auf € 211 Milliarden beläuft – Unterstützung, die hauptsächlich an große multinationale Unternehmensgruppen geht.
„Blockieren wir alles“ verbreitet sich
Die Reaktion auf diese Pläne war leise und beschränkte sich hauptsächlich auf Social Media Gruppen, die den Slogan „Bloquons Tout – Blockieren wir alles“ skandierten. Ähnlich wie bei der Gelbwesten-Bewegung von 2018, befürchteten die Menschen, dass der Slogan von der extremen Rechten kommt. Einige der Vorschläge dieser Gruppen waren passiver Natur: Die Menschen sollten am 10. September zuhause bleiben, nichts konsumieren, oder ihre Kreditkarten nicht verwenden. Die Antwort der organisierten politischen Linken und der Gewerkschaften darauf war bestenfalls lauwarm. Jean Luc Mélenchon, der Anführer von La France Insoumise (Unbeugbares Frankreich), schrieb am 30. Juli in seinem Blog, dass es zwar gut sei, dass eine solche Bewegung existiere, aber dass dessen Autonomie und Unabhängigkeit eine notwendige Bedingung für ihren Erfolg wäre. Diese mehr als vorsichtige Herangehensweise wurde auch von der Gewerkschaftsführung gewählt.
Im August jedoch begannen diese Gruppen, die auf Telegram ihren Ursprung nahmen, schlagartig zu wachsen. Damit wuchs auch das Interesse der Führung der Linken. Inzwischen haben sich alle Parteien der Linken zur Unterstützung der Blockaden bekannt und Jean-Luc Mélenchon rief sogar zum Generalstreik auf. Das hat die Gewerkschaftsführung unter Druck gesetzt: Die Vorsitzende der CGT (Confédération Générale du Travail – Allgemeiner Gewerkschaftsbund), Sophie Binet, antwortete Mélenchon gereizt, dass er „einer Gewerkschaft beitreten und in seiner lokalen Zweigstelle [für einen Generalstreik] argumentieren sollte [wenn er einen solchen möchte.]“. Jetzt hat der CGT dazu aufgerufen den Streik wo immer möglich aufzubauen.
Mehrere Zweigstellen des CGT haben entschieden zu streiken: Im Energiesektor organisieren Gas- und Stromarbeiter:innen seit dem 2. September Streikposten. Die CGT der chemischen Industrie hat ihre Mitglieder ebenfalls zum Streik am 10. September aufgerufen. Die CGT im kommerziellen Sektor hat Ladenmitarbeiter:innen von beispielsweise Carrefour, Primark, Kiabi oder Sodexo auf die Straße gerufen. Auch die Arbeiter:innen des öffentlichen Sektors wurden zum Streik aufgerufen. SUD (Solidaires Unitaires Démocratiques) eine Gewerkschaftsgruppe, die oft radikalere Forderungen stellt hat zum Streik am 10. aufgerufen.
Sämtliche Gewerkschaften des Gesundheitsdienstes haben zu Betriebsversammlungen in Spitälern aufgerufen, um einen Streik vorzubereiten. SUD ist derzeit die einzige Gewerkschaft, die Bahnangestellte auf die Straße ruft.
Die Schülergewerkschaft hat ihre Mitglieder dazu aufgerufen, am 10. ihre Schulen zu blockieren, während die UNEF die Universitätsstudenten zum Streik aufgerufen hat. Die Lehrer:innengewerkschaften kommen am 3. September zusammen um Aktionen zu besprechen.
Andere Gewerkschaften (CFDT und FO) – traditionell konservativer – haben die vereinte Gewerkschaftsführung (die „Intersyndicale“) gebeten, zu einem Streiktag am 18. September aufzurufen. Fluglots:innen sind derzeit in einer Serie von Streiks und haben für den 18. den nächsten geplant. Sud Aérien (Gewerkschaft der Luftfahrtangestellten) hat aber dazu aufgerufen, am 10. die Flughäfen zu blockieren. Die Führung der CGT argumentiert, dass der spätere Termin besser für alle sei. Das zeigt, wie institutionalisiert die Gewerkschaftsführung in Wirklichkeit ist und wie sehr sie sich vor gemeinschaftlicher Aktion scheuen – sie wollen das politische Boot nicht wirklich ins Wanken bringen.
Sie wollen zeigen, wie vernünftig sie einerseits sind, wollen aber nicht von einer Basisbewegung übermannt werden, die sie nicht kontrollieren können.
Die stark politisierte, radikale Linke setzt sie mit Argumenten unter Druck, die in der Arbeiter:innenklasse Anklang finden.
Am 1. September wurde in Libération eine Studie der Jean Jaurès Stiftung publiziert, die ein Profil der durchschnittlichen Aktivist:in hinter der „Blockieren wir alles“ Bewegung erstellt. (Der Slogan wird von 63 % der französischen Bevölkerung unterstützt.) Über Fragebögen, die in sozialen Netzwerken verbreitet wurden, schlussfolgert die Studie, dass die Bewegung sich stark von jeder der Gelbwesten 2018 unterscheidet.
Eine typische Unterstützer:in der Bewegung sympathisiert mit der radikalen Linken, arbeitet, ist in die Gesellschaft integriert und lebt in einer kleineren Stadt im provinziellen Frankreich. Die Gelbwesten dagegen waren durch eine hohe Diversität politischer Präferenzen gekennzeichnet.
69 % der Antwortenden gaben an, 2022 im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen Mélenchon gewählt zu haben (er erreichte 22 % der Stimmen). Nur 11 % hatten demnach für Macron oder die extreme Rechte gewählt. Die Bewegung ist dem extrem rechten Rassemblement National (RN) gegenüber nicht aufgeschlossen – das deckt sich auch mit der fehlenden Unterstützung des RN für die Bewegung.
Über 68 % sagten, sie hätten sich des zweiten Wahlganges enthalten oder ungültig gewählt – verglichen mit 35 % der Gesamtbevölkerung. Die politischen Prioritäten der Bewegung zeigen eine hohe ideologische Kohärenz.
Dem Statement „wir müssen von den Reichen nehmen und es den Armen geben, um soziale Gleichheit zu erreichen“ stimmten 91 % der Befragten der Bewegung zu (nur 63 % der Gesamtbevölkerung).
Nur 11 % stimmten zu, dass Arbeitslose Arbeit finden könnten, wenn sie wollten – im Gegensatz zu 60 % der Gesamtbevölkerung.
Nur 15 % gaben an, dass es in Frankreich zu viele Fremde gab (65 % der Gesamtbevölkerung).
Während die Einheit der Gelbwesten von gemeinsamer Erfahrung von Unsicherheit und einem Fokus auf die Forderung nach stärkerer Kaufkraft stammt, sind die Unterstützer der neuen Bewegung ideologisch homogener. Fast alle befürworten eine radikale Umverteilung von Reichtum und lehnen rechtsextreme Identitäts-Thematiken ab.
Die Verstärkung sozialer Ungleichheit war die Hauptsorge der Antwortenden, Umweltschutz kam an zweiter Stelle – 43 % gaben an, es wäre eine Priorität (nur 23 % der Gesamtbevölkerung). Die Zukunft des Gesundheitssystems hat für 30 % der Befragten Priorität (19 % der Gesamtbevölkerung).
Lebenskosten waren (ähnlich wie in der Gesamtbevölkerung) für 38 % eine Priorität. Allerdings gaben nur 3-4 % an, dass Fragen der Sicherheit oder nationalen Identität eine Priorität für sie wären.
Die Studie kam zum Schluss, dass Mitglieder der „Blockieren wir alles“ Bewegung schon hochpolitisiert und politischen, sowie ideologischen Themen gegenüber sensibilisiert sind. Die Gelbwesten dagegen waren eine direkte Antwort auf den Ärger der schweren Lebensbedingungen und der Unsicherheit, der die bürgerlichen Klassen ausgesetzt waren. Pensionist:innen sind in der neuen Bewegung weniger stark repräsentiert als bei den Gelbwesten. Im Gegensatz zu Gelbwesten-Mitgliedern sind die Mitglieder der Bewegung auch tendenziell besser gebildet.
Die treibende Kraft hinter „Blockieren wir alles“ ist eine extreme Ablehnung der bestehenden politischen Führung und der Institutionen der Fünften Republik, die als korrupt angesehen werden.
Der Studiendirektor Antoine Bristielle sagt: „Dieser Unterschied markiert einen der Gründe warum die Bewegung existiert: um eine Dynamik der Transformation aufzubauen, die nicht auf klassischen politischen Institutionen basiert, sondern auf den Strukturen des Widerstandes und des Kampfes, die in der organisierten Zivilgesellschaft verankert sind.“
Er fügt hinzu: „Die Wahlen, die als unzureichend oder von einer Minderheit vereinnahmt angesehen werden, wurden durch eine Logik des Bruches und direkter, kollektiver Aktion ersetzt.“
Volksversammlungen und radikale linke Politik
Während die Medien dieses Profil genommen und als „nicht repräsentativ für die bürgerlichen Klassen“ gepusht haben, ist es wichtig zu sehen, dass Kräfte in der weiteren Bevölkerung mobilisiert wurden – vor allem in den bürgerlichen Klassen. [sic?] Nachrichten von hunderte Leuten starken Volksversammlungen in kleinen und großen Städten im ganzen Land erreichen uns.
France3 TV interviewte in einem Report über eine solche Versammlung in Caen (Stadt in der Normandie) zwei Aktivist:innen die auf das Profil der Studie passten: jung, gebildet aber auch „working poor“ – sich also schwertun über die Runden zu kommen. Sie verlangten eine fairere Aufteilung von Reichtum und ein Ende der Angriffe auf das Sozialsystem. Über 350 Menschen nahmen an der Versammlung teil. Die radikal linke Website Contre-Attaque (Gegenangriff) listet weitere Versammlungen auf: 500 Menschen in Nantes, 400 in Paris, 300 in Lyon, 250 in Rennes und so weiter. Die Seite berichtet von über 60 abgehaltenen Versammlungen um sich auf den 10. September vorzubereiten. Auch ehemalige Mitglieder der Gelbwesten sind an der Organisation dieser Versammlungen beteiligt.
Es ist auch signifikant, dass es einen Konsens der radikal linken Kräfte gibt; von Jean-Luc Mélenchon’s La France Insoumise, über radikale Philosophen wie Frédéric Lordon, bis hin zu Seiten wie Contre-Attaque und Olivier Besancenot’s Nouveau Parti Anticapitaliste (Neue antikapitalistische Partei): Alle argumentieren, dass Premierminister Bayrou hinausgeworfen wurde und dass Macron und seine marode fünfte Republik gehen müssen. Diese Konvergenz der Ideen ist kein Aufruf für einen Staatsumsturz, aber Macrons Regierung ist instabil und die Kräfte der radikalen Linken entschlossen genug, dass es möglich wäre.
Seit dem Wahlerfolg der NFP (Nouveau Front populaire – Neue Volksfront; linkes Bündnis der Sozialistischen Partei, Unbeugsames Frankreich, den Ökologen und der französischen kommunistischen Partei) bei den Parlamentswahlen im letzten Juli (und seitdem Macron sich weigert einen Premierminister aus diesen Reihen zu wählen oder ihnen zu erlauben zu regieren) hat Unbeugsames Frankreich für Macrons Abschied zu kampagnisieren.
Zur selben Zeit hat La France Insoumise (LFI) ihre Basis durch unermüdliche Arbeit für Palästina deutlich erweitert. Eine Arbeit, die ihr Anschuldigungen von Antisemitismus, Terrorismusunterstützung und Jean-Luc Mélenchon allen Formen von Verleumdungen einbrachten.
Die Partei hat daran gearbeitet, Wähler:innen in den Siedlungen und den Vorstädten zu registrieren, wo viele Immigrant:innen leben, und kann auf Wahlunterstützung vieler Mitglieder der muslimischen Bevölkerung bauen. Fréderic Lordon ist optimistisch, dass LFI genügend Gewicht hat, um Mélenchon bei den nächsten Wahlen als Präsidenten gewählt zu bekommen. Er erklärt, dass seit der extrem rechte RN seine Feindseligkeit gegenüber Europa beerdigt hat, und die Zentrumsparteien so rassistisch geworden sind, steht nur LFI als echte politische Opposition da. Dass die Medien Mélenchon hassen, könnte sogar etwas Positives sein, glaubt er.
Zur selben Zeit hat LFI eine starke Parteiorganisation mit starker Online-Präsenz aufgebaut. Meetings für Aktivist:innen und Unterstützer:innen (on- und offline), alle möglichen politischen Aktivitäten – Plakatieren, öffentliche Versammlungen, Tür-zu-Tür Werbung, Bildungsmaterialien, Vorbereitungsmeetings für Lokalregierungswahlen und konsistente Präsenz in Palästinamobilisationen.
Es ist praktisch sicher, dass Bayrou sein Misstrauensvotum am 8. September verliert und seine Regierung zusammenbrechen wird. (…) Macrons Optionen sind limitiert. Er kann einen anderen Premierminister aus seinen Unterstützern auswählen, aber es werden sich dieselben Probleme wiederholen. Er könnte einen linken Premierminister nominieren, aber es ist unwahrscheinlich, dass er das tun wird, weil er damit zugeben würde, dass die Linke die letzte Wahl gewonnen hat und dass er sich geweigert hatte, das zu akzeptieren – ein Verhalten das manche als Coup d’Etat beschrieben haben.
Die PS (Sozialistische Partei) versucht Macron zu helfen, indem sie sich zur Verfügung stellt, um die Regierung für ihn anzuführen und dem Rest der NPF klarzumachen, dass ihr Programm angepasst werden muss. Die PS wird aber nicht die Unterstützung restlichen Linken bekommen, ihr opportunistisches Projekt ist also zum Scheitern verurteilt. Schlussendlich kann Macron das Parlament auflösen und eine Neuwahl ausrufen – mit dem Risiko, dass die radikal linke LFI oder der RN gewinnen.
Der Rassemblement Nationale wartet darauf, dass die nächsten Wahlen ausgerufen werden, verweigert aber die „Blockieren wir alles“ Bewegung zu unterstützen. Wir können erwarten, dass die Regierung und die Faschisten ihr Möglichstes tun werden, um die Bewegung zu zerstören, weil es die notwendige Bedingung für eine Regierung des RN ist. Wir müssen alles tun, was wir können um sicherzustellen, dass die Bewegung Erfolg hat. Wir müssen am 10. September alles blockieren.