Streiks im Sozialbereich: 35-Stunden-Woche ist in Griffweite!

Der 12. Februar 2020 könnte eine Trendwende in der österreichischen Arbeiterbewegung bringen: Österreichweit streikten Beschäftigte im privaten Gesundheits- und Sozialbereich. Linkswende jetzt hat auf der öffentlichen Streikversammlung vor dem Sozialministerium in Wien mit Kolleg_innen über den richtungsweisenden Arbeitskampf gesprochen.
12. Februar 2020 |

In ganz Österreich streikten am 12. Februar Beschäftigte in Betrieben der Sozialwirtschaft Österreich (SWÖ), dem Verband der österreichischen Sozial- und Gesundheitsunternehmen, für eine sofortige Arbeitszeitverkürzung auf 35 Stunden bei vollem Lohn- und Personalausgleich. Vor dem Sozialministerium in Wien protestierten über 1.000 Beschäftigte und mit ihnen solidarische Menschen. An einhundert Wiener Schulen streikten auch die Freizeitbetreuer.

„Endlich kämpfen wir mit den richtigen Mitteln für unsere Rechte. Wir leisten jeden Tag unglaublich wichtige Arbeit und als Dank soll uns ein Schulterklopfen besänftigen“, sagte Bettina von der Volkshilfe Wien gegenüber Linkswende jetzt. „Jetzt werden wir dafür sorgen, dass man uns nicht mehr einfach so ignorieren kann.“ Seit fünf Jahren fordern die Gewerkschaften vida und Gewerkschaft der Privatangestellten, Druck, Journalismus, Papier (GPA-djp) bereits eine Arbeitszeitverkürzung. Jetzt besteht die reale Chance, diese tatsächlich zu erkämpfen.

Wertschätzung und Ausfinanzierung

Die Arbeit in den privaten Gesundheitsunternehmen ist schlicht so hart und unattraktiv geworden, dass ihnen der Nachwuchs ausgeht und Leute in andere Branchen wechseln. Österreichweit gibt es derzeit 40.000 ausgebildete Pflegekräfte, die derzeit nicht im Sozialbereich arbeiten. Drei Viertel der Pflegekräfte könnten sich nicht vorstellen, den Beruf bis zur Pension auszuüben, erklärte Thomas Leonie vom Wirtschaftsforschungsinstitut (WIFO) im Ö1-Morgenjournal. Deswegen sei die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung „nachvollziehbar“, so Leonie.

„Wir sind nicht diejenigen, die den Untergang und den Tod des Sozial- und Gesundheitsbereichs propagieren. Im Gegenteil, wir wollen, dass er am Leben bleibt und dazu müssen die Beschäftigten am Leben bleiben“, sagt Milan von den Wiener Jugendzentren.

Foto: GPA-djp

Maria arbeitet bei der Sucht- und Drogenkoordination Wien (SDW) und versteht, warum immer weniger Menschen im Sozialbereich arbeiten wollen. Sie sagt gegenüber Linkswende jetzt: „Druck und Unterfinanzierung steigen konstant. Ich bin alleinerziehend und habe zwei Kinder und mit dem Lohn, den ich aktuell erhalte, gelingt es mir kaum, mein Leben zu finanzieren.“

Eva Scherz, Chefverhandlerin der GPA-djp, sagte bereits im November: „Wer Menschen im Pflegeberuf will, der muss den Beruf attraktivieren. Eine 35-Stunden-Woche kann eine solche Attraktivierung sein.“ International gibt es zahlreiche Beispiele, dass eine Verkürzung tatsächlich die Arbeitsbedingungen nachhaltig verbessert. Nachdem man im schwedischen Göteborg im städtischen Pflegeheim die Arbeitszeit auf sechs Stunden pro Tag (bei vollem Lohnausgleich) reduzierte, sank die Zahl der Krankenstände pro Jahr von 12,1 auf 5,8 Prozent.

Spieß umdrehen

Erich Fenninger, Direktor der Volkshilfe Österreich, war der erste unter den Arbeitgebern, der sich für eine Arbeitszeitverkürzung offen zeigte, weil diese die Arbeitsbedingungen verbessern würde und „gleichzeitig eine Anerkennung der schwierigen Arbeit“ wäre. In einer Stellungnahme bekräftigte die Volkshilfe, dass „die Voraussetzung, um gute Betreuungsarbeit für die Menschen leisten zu können, gut ausgebildete und motivierte MitarbeiterInnen sind“. Auch Gabriele Graumann, Geschäftsführerin des Kuratoriums Wiener Pensionisten-Wohnhäuser, kann dem 35-Stunden-Tag inzwischen als einen „richtigen Schritt zur Attraktivierung“ etwas abgewinnen.

Der Arbeitskampf ist einerseits eine gute Gelegenheit für die Gewerkschaften, die Regierung wegen ihrer chronischen Unterfinanzierung des Sozialbereichs wirklich in die Mangel zu nehmen.

Andererseits können sich NGOs wie die Volkshilfe aus ihrer Zwickmühle befreien. Sie sind vom Spendenaufkommen und von öffentlichen Förderungen, abhängig. Zur SWÖ gehören neben der Volkshilfe die Lebenshilfe, das Hilfswerk Österreich, der Arbeiter-Samariter-Bund und viele andere Betriebe aus den Sozialsparten. Sie springen dort ein, wo der Staat keine ausreichende Finanzierung sicherstellt. Sie werden so der kapitalistischen Logik unterworfen – die Kosten steigen, während das soziale Engagement unleistbar wird – und sind dadurch vom Staat erpressbar.

ÖVP intervenierte

Die Arbeitgeber hatten am 10. Februar die Verhandlungen erneut platzen lassen. „Natürlich spielt die Politik im Hintergrund mit“, sagt Axel Magnus, Betriebsrat der Sucht- und Drogenkoordination Wien (SWD) zu den Teilnehmenden vor dem Sozialministerium. „ÖVP-Klubobmann August Wöginger hat offenbar den SWÖ-Geschäftsführer Marschitz auf die Probleme der 35-Stunden-Woche hingewiesen. Es geht darum: Wöginger wurde von seinen Haberern (Freunden, Anm.) in der Wirtschaftskammer und im Wirtschaftsbund angerufen: Dreh das gefälligst ab, weil sonst wollen bei uns auch alle die 35-Stunden-Woche.“

Betriebsrat Axel Magnus auf der Streikversammlung in Wien. Foto: GPA-djp

Marschitz war von 2001 bis 2016 Geschäftsführer des ÖVP-nahen Hilfswerks Österreich. Er hatte vorab versucht, mit einer angeblichen Unmachbarkeit einer Verkürzung der Arbeitszeit in den Pflegeheimen die Debatte abzuwürgen – eine ganz offensichtlich vorgeschobene Argumentation, denn: In der Wochenzeitung Falter musste Marschitz das Gespräch mit Wöginger zugeben. Er habe ihn „darauf hingewiesen, dass die Einführung der 35-Stunden-Woche die Finanzierungspläne der Landeshauptleute“ durcheinander brächte.

Die SPÖ vermutete bereits, dass die ÖVP den Arbeitgebern aufgetragen hat, die Verhandlungen scheitern zu lassen. Tatsächlich ist es so, dass sich die Beschäftigten in anderen Branchen kürzere Arbeitszeiten wünschen, wie der aktuelle Arbeitsklima-Index der Arbeiterkammer Oberösterreich zeigte. Im Durchschnitt wollen die Werktätigen 36 Stunden arbeiten, am beliebtesten ist die 33-Stunden-Woche unter Frauen. Eine Umfrage des ÖGB unter ihren Unterstützer_innen ergab, dass 96 Prozent hinter der Forderung nach der 35-Stunden-Woche stehen.

Die Reichen sollen zahlen

Viele schlossen sich dem Protest spontan an. Alexander arbeitet bei der Caritas. Sein Betrieb ist nicht in der SWÖ, aber trotzdem ist er in der Mittagspause zum Protest gekommen, um seine Solidarität auszudrücken: „Wir arbeiten alle im selben Bereich und haben mit denselben Schwierigkeiten zu kämpfen. Auch wir sind gerade dabei einen Arbeitskampf am 24. Februar zu organisieren.“ Die Beschäftigen der Caritas verhandeln derzeit ebenfalls den Kollektivvertrag.

Francesca stimmte ein: „Ich arbeite zwar nicht im Sozialbereich, weiß aber aus persönlicher Erfahrung, wie wichtig diese Arbeit ist. Jeder, der diese Arbeit leistet, verdient eine 35-Stunden-Woche genauso wie mehr Geld.“

Finanzierbar wäre eine 35-Stunde-Woche jedenfalls. In ihrer aktuellen Kampagne für eine Millionärssteuer rechnet die GPA-djp vor, dass man mit einer Steuer von nur einem Prozent auf das Vermögen der 313.000 Millionäre in Österreich rund 4,5 Milliarden Euro in die Staatskassen spülen könnte. 73 Prozent der Befragten unterstützen diese Forderungen in einer aktuellen IFES-Studie.

Alle Räder stehen still…

Die Streikenden müssen einem rassistischen Argument scharf entgegentreten, das leider mitten im Arbeitskampf von der Chefverhandlerin der GPA-djp ins Feld geführt wurde: Die Arbeitgeber würden junge Arbeitslose Marokkaner nach Österreich anwerben wollen, anstatt „die Arbeitsbedingungen in Österreich“ zu verbessern. Die Gewerkschaft hat Arbeiter_innen unabhängig von ihrer Herkunft, Religion oder Ethnie zu organisieren und darf nicht zulassen, dass die Arbeitgeber die Beschäftigten entlang dieser Linien spalten.

Die Teilnehmenden auf der Kundgebung ließen sich davon nicht beirren und zeigten sich kämpferisch. „Wenn ich mir anschaue, was mancher Politiker so im Monat verdient, und ich dann auf meinen Lohnzettel schaue, dann denk ich mir, dass es das doch eigentlich nicht geben darf“, ist Antonio zornig. „Jetzt müssen wir dranbleiben und weitermachen, notfalls auch länger streiken!“

…wenn dein starker Arm es will

Drei Jahre in Folge streiken die Beschäftigten im Sozialbereich jetzt schon. Sie machten die Branche damit zu einer der kämpferischsten in Österreich. Ein Beispiel, das Schule machen könnte und muss.

„Wir können diesen Kampf mit unserer Macht gewinnen“, sagte Axel Magnus. „Wenn der Sozialbereich steht, steht das ganze Land. Jeder in diesem Land hat irgendjemanden, der von einem unserer Betriebe betreut wird, vom Kindergarten bis zur Bahre. Millionen könnten nicht arbeiten gehen, wenn wir nicht arbeiten würden.“

Redaktionelle Mitarbeit: David Reisinger und Karin Wilflingseder. 
15.-17. Mai 2020: Antikapitalistischer Kongress  „Marx is Muss".
Programm | Sprecher_innen | Anmeldung | Facebook

Veranstaltungstipp:

 ■ Sonntag, 17. Mai, 11:30-12:45 Uhr: Streiks für 35-Stunden-Woche und Ausfinanzierung des Sozialbereiches
Mit: Karin Wilflingseder: Führendes Mitglied von Linkswende jetzt, Betriebsrätin im Verein StudentInnenkinder und Axel Magnus:  Betriebsrat von Sucht- und Drogenkoordination Wien (SDW), aktiv bei SozialdemokratInnen und GewerkschafterInnen gegen Notstandspolitik