„Sozialbetrug“: Rassismus und Geschenke für die Reichen
Seit Beginn des Jahres behaupten Zeitungen einen Sozialbetrug mit „Schaden in […] den Millionen“ und einen drastischen Anstieg zum Vorjahr. Die Tiroler Tageszeitung titelt: „Wir kriegen sie praktisch alle“. Sie schreibt über „Innenminister Karner im Kampf gegen Sozialbetrug“ und von „Fremden unter den Verdächtigen“. Die Presse schwadroniert von „Fake-Syrern“. Bei so viel rhetorischer Munition ist es wert, sich diesen „Kampf“ etwas genauer anzusehen. Der behauptete Sozialbetrug ist genauso wenig für das Budgetdefizit verantwortlich zu machen wie der Familiennachzug von Flüchtlingen für die Situation in den Schulen und Kindergärten. Beide Themen sind künstlich zum Skandal aufgebauscht worden, um auf dem Rücken der Sündenböcke Sparpolitik zu rechtfertigen.
Was passiert gerade?
2017 wird in der Tiroler Fremdenpolizei eine neue Task Force „Sozialleistungsbetrug (SOLBE)“ gegründet, die 2018 ins Bundeskriminalamt übersiedelt und damit auf ganz Österreich ausgeweitet wird. 2021 wird sie in die „Abteilung II/BK/8 für Schlepperei, Menschenhandel und Sonderermittlungen“ eingegliedert. Die Taskforce geht Verdachtsfällen von Sozialbetrug nach.
Seit Februar dieses Jahres gibt es immer wieder Pressemitteilungen, die vor einem Anstieg der Sozialbetrugsfälle warnen. Die (aktuellsten) Zahlen dazu: 2024 gab es 4.865 angezeigte Fälle (Quelle: APA) und einen entstandenen „Schaden“ von EUR 23.360.773,29 (Quelle: Parlamentarische Anfragebeantwortung des Innenministeriums an Michael Schnedlitz, FPÖ). Seit dem Jahr 2018 sollen 25.156 „Tatverdächtige“ ausgeforscht und 23.653 Anzeigen erstattet worden sein. Der „Gesamtschaden“ soll rund 135,6 Millionen betragen.
Das klingt alles erst einmal schrecklich viel, deshalb ist der Kontext umso wichtiger: 2023 wurden in Österreich für Soziales insgesamt 146,2 Mrd. Euro (also 146.200 Millionen Euro) ausgegeben. Der Schaden beläuft sich also auf etwa 0,015 % der Ausgaben des Vorjahres. Selbst wenn nur die Höhe der Ausgaben für Mindestsicherung und Sozialhilfe (1 102 Mio. Euro) zur Berechnung heranzieht, sind das gerade einmal 2,1 %.
Schon 2017 hat Friedrich Schneider von der Johannes Kepler Universität Linz im OE1 Morgenjournal geschätzt, dass sich das Ausmaß auf nur 1,2 % der gesamten Sozialausgaben beläuft. Das BKA veröffentlichte zu der Thematik eine Grafik:

Wer genau hinschaut, wird sehen: Der erste Anstieg fällt in die Zeit der Gründung der Taskforce. Zudem waren während dieser Zeit – durch Corona – die schon zuvor am stärksten sozial Benachteiligten noch mehr unter Druck, ihren Haushalt zu finanzieren. Der zweite Anstieg korreliert mit der grassierenden Inflation der letzten Jahre.
Geflüchtete aus der Ukraine werden in diesem Zusammenhang oft genauer betrachtet, weil die Verdachtsfälle überproportional viele ukrainische Staatsbürger:innen treffen. Auch das ist aber nicht verwunderlich. Wer nach der Flucht fast alles verloren hat, die Sprache nicht kann, für eine Familie sorgen muss und wenn dann vielleicht nur ein Elternteil einen schlecht bezahlten Arbeitsplatz bekommt, kommt am Ende des Tages ohne die Mindestsicherung – die man nicht mehr beziehen dürfte – einfach nicht über die Runden.
Das Innenministerium räumt zwar ein, dass stärkere Kontrollen auch höhere Zahlen ergeben, wenn aber Herbert Kindlhofer (Fachbereichsleiter bei der Tiroler Fremdenpolizei) sagt, „Es braucht also eine gewisse kriminelle Energie, um unberechtigt Sozialleistungen trotzdem zu erschleichen“, hört sich das eher nach einer Verurteilung sozial schwacher Menschen an, als nach „Kriminellen oder Tatverdächtigen“.
„Sozialhilfe“ zu beziehen und die Bürokratie korrekt zu navigieren, dürfte für die Wenigsten ein spaßiger Zeitvertreib sein – und das Kostennutzenverhältnis der Strafen ebenso wenig.
Angriff auf Pensionist:innen
Schaut man sich die Zahlen der sogenannten „Betrüger“ und auch Einzelfälle an, bemerkt man schnell, dass man es hier nicht mit Ausländern mit „krimineller Energie“ zu tun hat, sondern überwiegend mit überforderten Gastarbeiter:innen in Pension. Ihnen wird vorgeworfen, Pensionsleistungen in Österreich zu beziehen, obwohl sie sich länger im Ausland aufhalten, ohne dies zu melden. Es wäre schon zynisch genug, eine solche bürokratische Lappalie als Grund zu verwenden, Pensionist:innen als Betrüger hinzustellen. Menschen, die den Großteil ihres Lebens in Österreich gearbeitet und ins Sozialsystem einbezahlt haben – und dementsprechend auch eine ordnungsgemäße Pension beziehen – dafür zu bestrafen, dass sie zu viel Zeit in ihrem Heimatland bei ihrer Familie verbringen, ist schlichtweg Verachtung.
Pensionen sind kein Schaden – so geht Sozialstaat.
Zahllose Organisationen warnen vor Einsamkeit im Alter, die Politik bejammert den Fachkräftemangel – aber wenn es dann darum geht, diese Menschen auch gleich zu behandeln und sie ihren Aufenthaltsort frei wählen zu lassen, deklariert Karner sie lieber als Kriminelle und setzt die Exekutive auf sie an. Vor jeder Kürzungsmaßnahme im Sozial- und insbesondere im Pensionssystem bereiten uns die Regierungen darauf vor, indem sie Stimmung gegen sogenannte „Schmarotzer“ machen. Diese stete Verunglimpfung wird bald danach zum Grund dafür, warum man „das System leider umbauen muss, damit es nicht mehr ausgenutzt werden kann“.
Rauchgranaten oder Austerität?
Der Umbau des Sozialsystems ist teilweise schon im Gang: Ausgabenkürzungen statt Einnahmenerhöhungen sind Realität. Es werden gezielt Bereiche definiert, die „etwas zur Sanierung beitragen müssen“ – in anderen Worten: „Dies oder jenes wollen wir uns nicht leisten, das muss sich selbst finanzieren“. Etwas das bei einem Pensions- oder Gesundheitssystem schlichtweg nicht immer möglich ist, weil die Erträge, die diese Systeme generieren, nicht aus Bargeld bestehen.
An der medialen Berichterstattung um das Thema erkennt man aber mehr: Während in der Debatte rund um den Flüchtlingsnachzug – die im selben Ministerium angesiedelt ist –oft angedeutet wird, dass es sich wegen der wenigen Anträge vor dem Stopp um Symbolpolitik handelt, schleicht hier etwas anderes mit: „Täter schaden unserem solidarischen Sozialsystem“, scheint oft zwischen den Zeilen zu stehen. Und wie 2017 wird der Fokus wieder auf „die Fremden“ (wie es in der Anfragebeantwortung heißt) gesetzt.
Karner und die ÖVP schlagen politischen Profit daraus, weil sie sich als Schützer des Sozialstaates inszenieren. Doch was oder wird hier „geschützt“? Während sich die ÖVP über 135 Millionen Euro echauffiert, von denen ein Großteil auf Pensionen entfällt, unterstützt sie wissentlich und willentlich Großkonzerne: 500 Millionen Euro (Quelle: ORF-2, Wirtschaftsmagazin Eco 21.08.2025) sind dem Staat Österreich letztes Jahr alleine an Steuern entgangen, weil Kerosin – also Flugzeugkraftstoff – steuerfrei ist. Die jährlich hinterzogenen Steuern werden auf 2–15 Milliarden Euro geschätzt. Das Nicht-Kontrollieren und Nicht-Sanktionieren muss als Steuergeschenk an die Unternehmer verstanden werden.
Es geht also „ums liebe Geld“ – aber nicht für jene denen es zusteht, sondern für Aufrüstung und Steuerhinterziehung. Es geht darum, mit Scheinerfolgen Politik zu machen und die Bevölkerung abermals entlang von Einkommensgrenzen und sozialen Schichten zu spalten und gegeneinander aufzuhetzen. Dass die linkeste SPÖ, die man sich vorstellen kann, unter Andreas Babler diese Angriffe duldet und vor ihrer Basis rechtfertigt, ist beschämend.
Kriegsvorbereitung
Mit Hinblick auf die globale Lage und die Kriegs- und Aufrüstungslust, die in Europa und auch in Österreich herrscht, soll diese Debatte aber auch den Boden für noch viel drastischere Schritte ebnen. Die scharfe Rhetorik, an der sich auch die Medienlandschaft Österreichs zu gerne beteiligt, führt zu einer Erosion des Vertrauens in das Sozialsystem.
Für Aufrüstung sollen bis 2033 70 Milliarden Euro (Quelle: LW Magazin 17) ausgegeben werden! Das ist nicht nur ein Vielfaches, sondern eine ganz andere Größenordnung. Hier zeigt sich die DNA der ÖVP und der NEOS: Kapital über Menschen. Die aktuelle Regierung hat ihre Politik der Sozialkürzungen mit der Hetze gegen Flüchtlinge und dem medienwirksam umgesetzten Stopp des Familiennachzuges eingeläutet. Das hat den öffentlichen Fokus auf die „Ausländer und Flüchtlinge“ als Problem gesetzt. Dann wird gegen Pensions-beziehende Gastarbeiter:innen und Sozialhife-beziehende Flüchtlinge gehetzt. Und parallel dazu hat der neoliberale Streitwagen aus ÖVP und NEOS eine Debatte über die Unfinanzierbarkeit des Pensionssystems losgetreten. Daraus entwickeln sie ein Narrativ, warum man den Sozialstaat zurückfahren muss. Behauptungen, Österreich würde zu wenig für die „eigene Bevölkerung“ und zu viel für „Fremde“ ausgeben, werden immer aufs Neue verstärkt, obwohl sie faktisch falsch sind.
Der Politik fällt es infolge leicht, einem System, dem kein Vertrauen mehr geschenkt wird, die Mittel zu kürzen, um diese Milliarde für Milliarde in „Abwehrwaffen“ – Kriegsgerät – zu investieren. Dort kommt das Geld dann „der Sicherheit der Österreicher:innen zugute“ und nicht den unsolidarischen „Tätern“ die uns „schaden“.
Resultat
Das neoliberale Credo, dem ÖVP und NEOS blind nachrennen, schützt Unternehmer und Reiche, während es der Arbeiter:innenklasse das Geld aus den Taschen zieht. Nebenbei profitieren ÖVP und FPÖ politisch vom geschürten Rassismus und die Regierung kann bald vom „Wirtschaftsaufschwung“ durch Waffenproduktion berichten. Wie wir schon betont haben: Aufrüstung ist Sozialabbau.
Die Zentrumsparteien sehnen sich bei jeder Gelegenheit zur liberalen Weltordnung zurück, die sie mit ihren Freunden in Brüssel und den USA über die letzten Jahre selbst zu Grabe getragen haben. Donald Trumps Wiederwahl war keineswegs der Auslöser für diese Beerdigung. Genauso wenig wird seine potenzielle Amtsniederlegung in 3,5 Jahren diese Weltordnung wieder zurückbringen. Der Kapitalismus ist in wilden Gewässern und steuert auf den Wasserfall zu. Es gibt kein Zurück zu dieser liberalen Weltordnung.
Wer an diese Möglichkeit glaubt, kann wie die SPÖ sich den Konservativen andienen und versuchen, die Zeit bis dahin mit Symbolpolitik und den nötigen Sozialkürzungen zu überbrücken. Aber der Weg ist zum Scheitern verurteilt: Die Krise des globalen Kapitalismus und insbesondere des westlichen Imperialismus wird sich vertiefen. Die Entscheidung lautet „Sozialismus oder Barbarei“, und nicht „System erhalten oder Trump/FPÖ“. Die SPÖ verrät wegen der Illusion, sie könnte das System sanft durch die Katastrophe steuern, ihre Grundwerte und ihre Basis.
Realistisch müssen wir aber das System als Ganzes zerschlagen. Menschliche Bedürfnisse sind nicht durch eine kapitalistische Marktwirtschaft zu befriedigen. Machen wir weiter wie bisher, wird uns das Kapital bei seinem Kampf gegen den Untergang mit in die Katastrophe reißen. Es drohen Faschismus, mehr Kriege, ein blinder Marsch in die Klimakatastrophe und Krieg gegen Klimaflüchtlinge.
Und das brauchen wir genauso wenig wie einen „Polizei-Ermittlungs-Thriller“ gegen Pensionist:innen.