Reale Verschwörungen und falsche Theorien

Das Gespenst der Verschwörungstheorie geistert durch die Welt. In Talkshows, Medienartikel, Demokratiekursen an Schulen, linken Flugblättern – überall wird vor ihnen gewarnt.
9. Dezember 2022 |

Der Begriff der Verschwörungstheorie wurde zur Verteidigung des bestehenden Sytems vom neoliberalen Philosophen Karl Popper geprägt. In seinem Hauptwerk Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band II: Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen beschreibt er den Marxismus als Verschwörungstheorie. Derselbe Popper initiierte das Elitetreffen der Mont Pèlerin Society. Beteiligt an einer der erfolgreichsten „Verschwörungen“ des 20. Jahrhunderts erklärt er Verschwörungen für nicht vorhanden. Dieses Beispiel zeigt, die Linke muss in der Analyse von Verschwörungen mehr liefern als den simplen Verweis, das System nicht die Spieler sind das Problem am Kapitalismus.

In modernen Massenaufständen haben neben realen Erfahrungen, kollektiven Gerechtigkeitsvorstellungen, Klasseninteressen immer auch Verschwörungen eine Rolle gespielten.

Verschwörung des Neoliberalismus

Die Mont Pèlerin Society war Treffpunkt neoliberaler Vordenker wie Friedrich Hayek, Milton Friedman, Frank Knight, Ludwig Mises und Karl Popper. Diese liberalen Denker sahen in der Nachkriegsordnung die Niederlage ihrer Ideologie. Im Osten baute die Sowjetunion ihr nicht-marktwirtschaftliches Wirtschaftsmodell auf. Im Westen zielte Keynesianismus darauf ab, den Kapitalismus sozialstaatlich zu zähmen.
Selbstbewussten liberalen Denkern war der Keynesianismus ein Dorn im Auge: Ideologisch wurde er als Zugeständnis an die Sozialdemokratie, bzw. den Marxismus interpretiert. Gegen den Keynesianismus setzte die Mont Pèlerin Society ihre Utopie: den Neoliberalismus. Internationale Institutionen, die nationales Recht übertrumpfen, militarisierter Staat, niedrige Steuern und die Schwächung der Arbeiter_innenbewegung, dass alles unter dem Slogan des „freien Marktes“, so lässt sich die Ideologie des Neoliberalismus zusammenfassen.
Die wissenschaftliche, journalistische und politische Tätigkeit der Mont Pèlerin Society ist nicht alleine für den Siegeszug des Neoliberalismus verantwortlich. Die keynesianischen Akkumulationslogik stand Ende der 60er- Jahre vor unauflösbaren ökonomischen Problemen, die Neoliberalen standen als „wissenschaftliche“ Politikberater bereit und lieferten die ihnen passenden Antworten. Ausgehend von der Pinochet-Diktatur 1973 in Chile über Margaret Thatcher in England und Ronald Reagan in den USA wurde der Neoliberalismus zur global bestimmenden Wirtschaftsordnung.

Verschwörungen sind real

Kapitalismus entwickelt sich nach seiner eigenen Logik, auch unabhängig vom Willen einzelner Akteure. Das ändert jedoch nichts daran, dass Personengruppen versuchen auf dieses System Einfluss zu nehmen. Was ist die Mont-Pèlerin-Gesellschaft („eine Gruppe brillanter Ökonomen und Intellektueller, die sich für eine offene Gesellschaft und Wirtschaft einsetzen, die sich an den Grundsätzen der freien Marktwirtschaft, der persönlichen und politischen Freiheit und der Meinungsfreiheit orientiert“) anderes als eine Verschwörung.

In den 2010er-Jahren organisierten als WHO-Angestellte getarnte CIA-Mitarbeiter Kindern Impfungen gegen Polio in Pakistan, um durch DNA-Tests den Aufenthaltsort von Osama Bin-Laden herauszufinden


Im Kontext der explodierenden Überwachungsmaßnahmen während der Corona-Krise fasst der Marxist Anselm Jappe zusammen: „ Natürlich gibt es keine geheimen Treffen der Supermächtigen, die in aller Freiheit die Drähte ziehen. Aber es gibt Menschen, die Macht haben und Ideen, was sie damit anfangen sollen… Schon lange vor der Pandemie hatten die Regierungen eine Vorliebe für alles, was die Kontrolle und Überwachung erhöht. Sie entwarfen, zumindest in ihren Köpfen, mögliche Szenarien, die sie dann durch ein eher zufälliges Ereignis, wie die Pandemie oder in einem anderen Fall, den 11. September, umsetzen konnten. Man unterschätzt sie ein wenig, wenn man denkt, dass sie nur chaotisch auf völlig unvorhergesehene Ereignisse reagiert haben.“

NATO-Geheimarmee in Europa

Die Mont Pèlerin Society war nicht die einzige reale Verschwörung des 21. Jahrhunderts. Im Kalten Krieg organisierte die NATO eine Geheimarmee, in Italien unter dem Namen Gladio. Mittlerweile gibt es Beweise dafür, dass Gladio in Kooperation mit faschistischen Truppen mitverantwortlich für die Terrorwelle im Italien der 70er und 80er war. Unter anderem einem Bombenanschlag in Bologna 1980 beidem 85 Menschen ermordet wurde. Dieser und andere Anschläge wurden von Italien genutzt, um Repressionsmaßnahmen gegen die revolutionären Linken zu legitimieren.
Außerdem ist mittlerweile bestätigt, dass Peter Urbach als V-Mann des deutschen Verfassungsschutzes der RAF Waffen lieferte. Die Verstrickung des Verfassungsschutzes in den Nazi-Terror des NSU wurde durch geleakte Dokumente quasi offiziell bestätigt. In den 2010er-Jahren organisierten als WHO-Angestellte getarnte CIA-Mitarbeiter Kindern Impfungen gegen Polio in Pakistan, um durch DNA-Tests den Aufenthaltsort von Osama Bin-Laden herauszufinden. Die WHO hat die CIA öffentlich dafür heftig kritisiert.
Unseren Regierungen jede Schandtat von Korruption (Panama Papers), Lügen (Massenvernichtungswaffen im Irak) bis zum organisierten Terrorismus zuzutrauen, ist kein Ausdruck einer paranoiden Persönlichkeitsstörung, sondern berechtigtes Misstrauen. Linke Kritik an Verschwörungstheorien muss von diesem Faktum ausgehen: Unserer Herrscher sind nicht nur bereit, sich zu verschwören, sie tun es.

Nahezu alle Texte, die in den letzten zwei Jahren zum Thema Verschwörungstheorien publiziert wurden, behaupten, dass die Corona Krise zu einer Explosion von Verschwörungstheorien führte. Das ist wissenschaftlich falsch.

Wu Ming-Kollektiv

Echte Verschwörungen finden statt, und kommen auch irgendwann ans Licht. Wu Ming1 aus dem anarchistischen Wu Ming-Kollektiv präsentiert in seinem neuen Buch THE Q IN QONSPIRACY, eine gelungene Differenzierung zwischen echten Verschwörungen und „Verschwörungsphantasien“ .
Erstens: Echte Verschwörungen haben ein bestimmtes definierbares Ziel, sie zielen nicht einfach auf Weltherrschaft. Bspw. verschwor sich die Erdöllobby, um Zweifel an ihrem Einfluss auf den Klimawandel zu streuen.
Zweitens: Echte Verschwörungen umfassen eine relativ klar bestimmbare Zahl von Menschen. Beispielsweise wurden die NATO-Geheimarmeen von einer kleinen Gruppe aus Militär-Bürokraten aufgebaut. Je mehr Menschen an einer Verschwörung beteiligt sind, desto leichter wird sie aufgedeckt. Man denke an die Massenüberwachung der NSA.
Drittens: Verschwörungen sind nie perfekt, irgendjemand wird immer Fehler machen. Die angesprochenen Polio-Impfungen der CIA wurden nach wenigen Monaten enttarnt.
Viertens: Echte Verschwörungen haben einen spezifischen zeitlichen Rahmen und enden. Sie sind nicht überhistorisch, wie bspw. die Templer-Verschwörungsphantasie, die seit beinahe zwei Jahrtausenden laufen müsste.

Es greift zu kurz, Verschwörungstheorien einzig und allein auf diese antisemitische Funktion zu reduzieren


An diese Differenzierung anknüpfend die Vorstellung einer geeinten kollektiv agierenden herrschenden Klasse, wie sie bei fast allen Verschwörungstheorien zum Ausdruck kommt, ist falsch. Die herrschende Klasse ist entlang von geopolitischen und wirtschaftlichen Fragen gespalten. Wie Marx muss man die herrschende Klasse als Gruppe verfeindeter Brüder verstehen. Brüder sind sie, indem sie „einen wahren Freimaurerbund bilden gegenüber der Gesamtheit der Arbeiterklasse bilden“. Verfeindet sind sie, weil alle Kapitalisten versuchen, auf Kosten des anderen Märkte zu erobern.
Was für den einen Kapitalist ein Segen sein kann, bedeutet für einen anderen oft den Untergang. Während industrielle Kapitalisten häufig von Kriegen ökonomisch profitieren – sie insofern ein Interesse an Kriegen haben, bedeuten Kriege für den Konsumsektor oder die High-Tech-Branche Verluste. Genauso konnten Teile der High-Tech und der Medizin Branche massiv aus der Covid-Pandemie profitieren, während der Transport und Freizeitsektor eingestampft wurden. Es gibt demnach kein weltumspannendes Interesse der herrschenden Klasse, mit Ausnahme, dass sie versucht, die Arbeiter_innen möglichst gewinnbringend auszubeuten.
Zusammengefasst sind echte Verschwörungen kurzfristige Zusammenschlüsse von mächtigen Personen mit denselben Interessen, die sich dazu verabreden, ihre spezifischen Ziele innerhalb einer chaotischen Welt durchzusetzen.

Geschichte der Verschwörungstheorien

Auch in der Russischen Revolution 1917 hatten die Gerüchte über den Einfluss des Predigers Rasputin oder über die Loyalität der Zarenfamilie zu ihrem Verwandten, dem deutschen Kaiser, Einfluss auf die bäuerliche Bevölkerung

In der liberalen Presse werden Verschwörungstheorien als Produkt sogenannter Echokammer/Filterblasen oder Rabbit Holes im Internet beschrieben. Menschen stoßen über YouTube auf eine Verschwörungstheorie und beginnen sich damit zu beschäftigen. Daraufhin liefern die Algorithmen den Usern nur noch Beiträge in denen diese Verschwörungstheorie bestätigt wird. Dieser Prozess (andere Meinungen tauchen im Suchverlauf nicht mehr auf) wird als Echokammer beschrieben. So richtig diese Beobachtung auch ist, als Erklärung für Verschwörungstheorien ist sie nicht überzeugend. Erstens ist ihr Ausgangspunkt falsch, Verschwörungstheorien sind kein neues Phänomen und zweitens kann nicht erklärt werden, woher das Interesse an Verschwörungstheorien kommt. Individuelle Wissensproduktion ist komplexer als die Echokammer-Theorie nahelegt.
Der Historiker Cornel Zwierlein argumentierte in seinem Text Sicherheitspolitik und Verschwörungstheorien im entstehenden europäischen Staatensystem, Verschwörungstheorien sind Produkte der frühen Neuzeit. Solange geglaubt wurde, Herrschaft sei natürlich/gottgewollt gab es keine Grundlage für Verschwörungstheorien. Dazu kommt, Verschwörungstheorien sind auf eine von der Herrschaft getrennten Wissensproduktion angewiesen. Die Erfindung von Buchdruck, Zeitungen und eine lesende Öffentlichkeit waren materielle Grundlagen für Verschwörungstheorien.
Der marxistische Historiker Edward P. Thompson untersuchte in seinen Studien The Moral Economy of the English Crowd in the Eighteenth Century (Die moralische Ökonomie des englischen Volkes im achtzehnten Jahrhundert) die Brotunruhen, Massenplünderungen und Bauernaufstände im 18. Jahrhundert. Er zeigte, dass man Brotunruhen nicht durch ein Ursache-Wirkungsschema (Menschen hungern, darum beginnen sie zu plündern), erklären kann. Viel wichtiger waren „moralische“ Vorstellungen im Sinne von so viel darf Brot kosten, so viel Brot darf exportiert werden, das ist das richtige Mischverhältnis von Mehl im Brot. Für diese Aufstände waren Gerüchte, unbestätigte Ängste und kollektive Vorstellungen von Gerechtigkeit entscheidend. Auch wenn es sich bei diesen ideologischen Legitimationen nicht direkt um Verschwörungstheorien handelt, waren Elemente von verschwörungstheoretischem Denken vorhanden.
Für den Verlauf der Bauernaufstände während der Französischen Revolution waren Gerüchte über die Vernichtung der Ernte durch die Adeligen vielleicht relevanter als die abstrakten Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, aber diese Ideale entwarfen ein Gegenmodell zum verhassten Absolutismus, das als Ziel einend war.


Auch in der Russischen Revolution 1917 hatten die Gerüchte über den Einfluss des Predigers Rasputin oder über die Loyalität der Zarenfamilie zu ihrem Verwandten, dem deutschen Kaiser, Einfluss auf die bäuerliche Bevölkerung. In modernen Massenaufständen haben neben realen Erfahrungen, kollektiven Gerechtigkeitsvorstellungen, Klasseninteressen immer auch Verschwörungen eine Rolle gespielten. Damit Menschen den Mut finden, ihr Leben zu riskieren, werden rein rationale/wissenschaftliche Gründe nie genügen. Es benötigt eine ordentliche Portion Hass, der die Herrschaft in den dunkelsten Farben ausmalt. Verschwörungsvorstellungen können diese Funktion erfüllen. Treffend formulierte der Philosoph Walter Benjamin: Aufstände „nähren sich aus dem Bild der geknechteten Vorfahren, nicht dem Ideal der befreiten Enkel“.

Faschisten nutzen Verschwörungstheorien

Die große Gefahr an aktuellen Verschwörungstheorien ist, dass sie von der extremen Rechten zur Vergrößerung ihrer Anhängerschaft genützt werden. Gerade mit den Lügen über den großen Austausch wie auch den Anti-LGBTIQ-Verschwörungstheorien gelang es der extremen Rechte eine breite Anhängerschaft zu mobilisieren. Diese Verschwörungstheorien sind zu globalen Interpretationsmöglichkeiten der aktuellen politischen Lage geworden. Von österreichischen Bundespräsidentschaftskandidaten bis zu amerikanischen Terroristen: überall wo die extreme Rechte auftritt, sind der große Austausch und Anti-LGBTIQ Verschwörungstheorien präsent.
Schon die Nazis setzten auf die „Theorie“ der jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung, um sowohl den liberalen Kapitalismus als auch ihren Todfeind, die Arbeiter_innenbewegung und den Sozialismus als Teil des politischen Establishments zu brandmarken. Durch die Differenzierung in „schaffendes Kapital“, – das deutsche Industriekapital – und „raffendes Kapital“ – jüdische Finanzwirtschaft – gelang es den Nazis gleichzeitig, die entsetzliche soziale Lage in den 30ern anzuprangern und sich mit Teilen des Industriekapitals gut zu stellen.
Die klassischen linken Analysen darüber, wie Verschwörungstheorien als Einfallstor für Antisemitismus und Rechtsextremismus funktionieren, sind richtig. Doch es greift zu kurz, Verschwörungstheorien einzig und allein auf diese antisemitische/rechtsextreme Funktion zu reduzieren.

Rechtsextreme Verschwörungstheorien sind zu globalen Interpretationsmöglichkeiten der aktuellen politischen Lage geworden.

Misstrauen in Politik und Medien

Verschwörungstheorien sind Ausdruck eines Misstrauens in die Art und Weise wie die Gesellschaft organisiert ist. Der italienische Marxist Antonio Gramsci argumentierte, Herrschaft benötigt neben Repression auch Konsens. Die politische Situation im Italien der 20er beschrieb er: „Wenn die herrschende Klasse den Konsens verloren hat, das heißt nicht mehr ‚führend’, sondern einzig ‚herrschend’ ist, Inhaberin der reinen Zwangsgewalt, bedeutet das gerade, dass die großen Massen sich von den traditionellen Ideologien entfernt haben, nicht mehr an das glauben, woran sie zuvor glaubten.“ Die gegenwärtige Vertrauenskrise der österreichischen Politik wie auch der Medien ist eine ideale Grundlage für verschwörungstheoretisches Denken.
Der österreichische Demokratiemonitor 2021 zeigt, aktuell ist das Vertrauen der Bevölkerung in das politische System auf einen historischen Tiefstand. „Sechs von zehn Menschen (58%) sind davon überzeugt, dass das politische System in Österreich weniger oder gar nicht gut funktioniert“. 2022 ging es weiter nach unten. 64 % meinen das politische System funktioniert gar nicht oder weniger gut.
Auch der Digital News Report 2022 kommt zum Ergebnis: Weniger als die Hälfte der Bevölkerung, (40,6%) vertraut Medien. Hauptvorwurf ist die Beeinflussung der Medien durch politische und kommerzielle Interessen. Wohlgemerkt diese Zahlen zielen nur auf jene, welche Medien überhaupt noch verfolgen. In der Hochphase der Corona-Pandemie stieg das Medienvertrauen, um jetzt wieder auf den Wert vor der Pandemie abzusinken. Interessant ist, Menschen die sich in der politischen Mitte oder links der Mitte verorten, tendieren dazu Medien mehr zu vertrauen, als Menschen die sich rechts der politischen Mitte verorten. 2019 war dieses Verhältnis noch umgekehrt. Nicht geändert hat sich: Je geringer das Einkommen, desto geringer, dass Medien Vertrauen.
Obwohl das Vertrauen in die Wissenschaft im europäischen Vergleich gering ist, genießt diese von allen befragten Institutionen das höchste Vertrauen der Österreicher_innen. In der Euro-Barometer Umfrage 2021 gaben 15 Prozent der Befragten an, der Wissenschaft sehr zu vertrauen und 32 Prozent hatten großes Vertrauen. Sehr wenig Vertrauen war bei gerade einmal 2% und eher wenig Vertrauen 9 Prozent. Aber, je stärker spezifische Wissenschaftler_innen mit der Politik in Verbindung gebracht wurden, desto stärker misstrauten ihnen die Befragten. Misstrauen in die Wissenschaft ist eine Reflexion des Misstrauens in die Politik.
Der Marxist Richard Donnelly kommt zum Ergebniss: „Der Boden für Verschwörungstheorien wurde durch eine tiefe Legitimationskrise der wichtigsten Institutionen der kapitalistischen Gesellschaft in weiten Teilen der Welt bereitet. Traditionelle gesellschaftliche Instanzen wie Politiker, Medien und Beamte werden mit der jahrzehntelangen neoliberalen Wirtschaftspolitik, die die einfachen Menschen verarmt hat, in Verbindung gebracht.“

Zunahme von Verschwörungstheorien?

Nahezu alle Texte die in den letzten zwei Jahren zum Thema Verschwörungstheorien publiziert wurden, behaupten, dass die Corona Krise zu einer Explosion von Verschwörungstheorien führte. Das ist falsch.
Eine von einem Forscherteam der Georgia State University für die USA durchgeführte Studie – die Vergleichsdatensätze der Studie reichen bis 1966 zurück, Hat der Glaube an Verschwörungstheorien im Laufe der Zeit zugenommen? kommt zu dem Ergebnis: „Wir können keine Belege dafür finden, dass der Glaube an Verschwörungstheorien oder allgemeines Verschwörungsdenken im Zeitalter des Internets und der sozialen Medien zugenommen hat.“ Auch Michael Butter kommt in der Zeitschrift der Bundeszentrale für politische Bildung für Deutschland zum Ergebnis: „Überzeugte Verschwörungstheoretiker*innen machen etwa 10 Prozent der Bevölkerung aus. Dies hat sich in der Pandemie nicht verändert(..). Wenn überhaupt, hat der Glaube an Verschwörungstheorien seit Beginn der Pandemie in Deutschland abgenommen.“

Bei echten Verschwörungstheorien müssen wir differenzieren gegen wen sich diese richten, gegen ein Flüchtlingsheim oder gegen eine Parteizentrale. Während im ersten Fall unbedingt die direkte Konfrontation des rechten Mobs angesagt ist, braucht es im zweiten Fall mehr.


Mit der Pandemie hat sich die öffentliche Sichtbarkeit von Verschwörungstheorien verändert. Durch die Corona-Proteste und den Sturm auf das Kapitol ist es Verschwörungstheoretikern gelungen, von einem individuellen Phänomen zu einer echten Massenbewegung zu werden. Dass Verschwörungstheoretiker zu einem so bestimmenden Faktor werden konnten, lag vor allem daran, dass die Linke den Kampf um die Straße aufgegeben hatte. Wenn wir an die Eurokrise oder die „Flüchtlingskrise“ zurückdenken, in beiden Fällen gab es linke Anti-Establishment-Antworten. Beim Thema Corona gab es neben der Offiziellen nur eine verschwörungstheoretische Antwort.

Ein Kern von Wahrheit

Gerade einmal 5% der befragten Amerikaner_innen gaben in der zuvor zitierten Studie an, dass sie an die QAnon Verschwörungstheorie glauben. Jedoch gaben zwischen 34 und 50% der Befragten an, dass sie Behauptungen Glauben schenken, die oft mit der QAnon Verschwörungstheorie in Verbindung gebracht werden, bspw. der Existenz eines „tiefen Staates“, die Ermordung von Jeffrey Epstein und „Eliten-Sexhändler“. Dass ein „tiefer Staat“, verstanden als nicht demokratisch gewählte Gruppe an Bürokraten, welche durch ihre langfristige Arbeit innerhalb der staatlichen Verwaltung über gigantische Machtpotenzial verfügt, existiert, ist keine Verschwörungstheorie. Auch der „Eliten-Sexhandel“ ist keine reine Verschwörungstheorie. Mittlerweile haben Frauen wie Virginia Roberts Giuffre über die Kinder-Prostitution von Jeffrey Epstein für die Elite (bspw. Prinz Andrew oder Bill Clinton) ausgesagt.
Selbst so absurde Kreise wie QAnon gehen punktuell von realen Ereignissen bzw. realen Ängsten aus. Das Wu Ming-Kollektiv geht in seinem Buch so weit zu argumentieren, dass in allen erfolgreichen Verschwörungstheorien ein Kern von Wahrheit bzw. eine reale Angst steckt. Erfolgreiche Verschwörungstheorien verbinden diffuse Ängste mit realen Ereignissen, um dann eine umfassende Welterklärung zu liefern.

Ein antikapitalistisches Vorgehen gegen Verschwörungsphantasien muss vom Kern der Wahrheit ausgehen. (…) Wir müssen diese Bedürfnisse auf alternative Weise befriedigen. Wir müssen diese Unzufriedenheit auffangen bevor sie von Verschwörungsphantasien gekapert wird, wie es die QAnon-Phantasie so gut geschafft hat. Natürlich ist eine Überprüfung der Fakten notwendig, um auf rationale Weise zu zeigen, dass eine Verschwörungsphantasie eine Phantasie ist. Aber das reicht nicht aus

WU Ming-Kollektiv


Diese Welterklärung macht die Angst, das Misstrauen in die Art und Weise, wie die Gesellschaft organisiert ist, kontrollierbar. Der Glaube an eine Verschwörungstheorie verleiht Selbstbewusstsein: „Ich bin kein Schaf, ich habe verstanden, wie die Welt funktioniert“, so oder so ähnlich denken Verschwörungstheoretiker. Darum ist der Versuch, Verschwörungstheorien mit Argumenten zu entkräften, meist zum Scheitern verurteilt. Ohne Verschwörungstheoriewäre man der ungerechten Welt hilflos ausgeliefert. Verschwörungstheorien geben Sicherheit in unsicheren Zeiten, und haben insofern eine Ähnlichkeit zur Religion.
Das Wu Ming-Kollektiv fasst zusammen: „Ein antikapitalistisches Vorgehen gegen Verschwörungsphantasien muss vom Kern der Wahrheit ausgehen. (…) Wir müssen diese Bedürfnisse auf alternative Weise befriedigen. Wir müssen diese Unzufriedenheit auffangen bevor sie von Verschwörungsphantasien gekapert wird, wie es die QAnon-Phantasie so gut geschafft hat. Natürlich ist eine Überprüfung der Fakten notwendig, um auf rationale Weise zu zeigen, dass eine Verschwörungsphantasie eine Phantasie ist. Aber das reicht nicht aus.“

Verschwörungstheorien als Ideologie

Marx wusste, dass es nicht ausreicht, die Fehler/Unwissenschaftlichkeit einer Ideologie aufzuzeigen, um sie zu entkräften. Viel eher müsste gefragt werden, welche materiellen Umstände die Verbreitung der Ideologie begünstigen. Über Religion schrieb Marx: „Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. (…)Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist.“
Anknüpfend an diese Überlegungen beschrieb der Marxist Georg Lukács Ideologie als „falsches Bewusstsein“, weil sie die realen Gründe für Ausbeutung und Unterdrückung verschleiern. Verschwörungstheorien verschleiern die Klassenspaltung, tendieren zum Antisemitismus und übersehen den größten Widerspruch unserer Gesellschaft: Ein Wirtschaftssystem, das für Profit und nicht für den Bedarf produziert. Falsches Bewusstsein bedeutet aber auch, dass es objektive Gründe gibt, die zur Entstehung einer Ideologie beitragen.
Fünf Faktoren begünstigen die Entstehung und Verbreitung von Verschwörungstheorien.

  1. Der Verlust des Konsenses der herrschenden Institutionen.
  2. Die Tatsache, dass es reale Verschwörungen gibt.
  3. Verschwörungstheorien knüpfen an reale Ängste an.
  4. Der Aufstieg der extremen Rechten.
  5. Der Siegeszug des Neoliberalismus
    Niederlagen der Arbeiter_innenbewegung in den 1970er-Jahren waren ein Startpunkt für Politikverdrossenheit. Verstärkt wurde diese durch die Beobachtung: „Es ist egal wer regiert, weil alle dasselbe Ziele verfolgen.“ Tatsächlich unterscheiden sich der Regierungskurs der Konservativen und der Sozialdemokratie nur marginal.

Was tun?

Erstens. muss es uns gelingen zwischen real stattfindenden Verschwörungen und „Verschwörungsphantasien“ zu unterscheiden. Genauso müssen wir sehen, dass das liberale Establishment die Keule der Verschwörungstheorie gegen alle einsetzt, die ihre Herrschaft untergraben. Jeremy Corbyn wurde von sozialdemokratischen und konservativen Parlamentariern vorgeworfen, er verbreite Verschwörungstheorien, weil er die NATO als Kriegstreiberbündnis bezeichnete.
Bei echten Verschwörungstheorien müssen wir differenzieren gegen wen sich diese richten, gegen ein Flüchtlingsheim oder gegen eine Parteizentrale. Während im ersten Fall unbedingt die direkte Konfrontation des rechten Mobs angesagt ist, braucht es im zweiten Fall mehr.
Die Ablehnung von Politik und Medien ist verständlich, die Art und Weise, wie Verschwörungstheorien diese zum Ausdruck bringen, ist falsch und gefährlich. Darum muss es uns gelingen, der berechtigten Wut in Bahnen zu lenken, wo Solidarität unter den Massen gefördert wird, während die Mächtigen konfrontiert werden. In jedem einzelnen Kampf müssen Linke um deren inhaltliche Ausrichtung kämpfen. Auf längere Sicht können Verschwörungstheorien nur durch eine als Kollektiv kämpfende Arbeiter_innenklasse zurückgedrängt werden, die an die Stelle des „falschen“ das richtige Klassenbewusstsein setzt.