Der Aufstieg der Hamas zur Herrschaft in Gaza

Der Vorwurf der Hamas-Nähe ist das Totschlagargument pro-israelischer Stimmen. Hamas gleich ISIS, so lassen sich die deutschsprachigen Diskussionen zusammenfassen. Offensichtlich ist die Hamas keine linke Organisation, geschweige denn eine sozialistische. Der Artikel zeigt den Aufstieg der Hamas von einer kleinen Gruppe in einem palästinensischen Flüchtlingslager zur unangefochtenen Herrscherin über Gaza.
28. Juni 2024 |

Seit dem 7. Oktober wiederholt der israelische Premierminister das Mantra, die Hamas sei dasselbe wie ISIS und muss mit denselben Mitteln geschlagen werden. US-Präsident Biden und mit ihm viele westliche Politiker pflichten bei. Die Gleichsetzung Hamas mit ISIS hilft der herrschenden Klasse des Westens dazu, den globalen Süden und die eigene Bevölkerung auf die politische Linie Israels einzuschwören. Faktisch ist diese Gleichsetzung völliger Unsinn. Zum einen: die zwei mögen sich nicht. In einem 16 Minuten langen Video distanzierte sich ISIS 2015 von der Hamas. Explizit warf ISIS der Hamas vor, keine echten Muslime zu sein und den Begriff des Dschihad zu missbrauchen: „Der Sinn des Dschihad besteht nicht darin, Land zu befreien … sondern der Dschihad, wie er von Gott definiert wird, besteht darin, für das Gesetz Gottes zu kämpfen und es umzusetzen.“

Zum anderen, sie setzen auf völlig unterschiedliche Politik. ISIS kritisiert die Hamas für ihre unsektiererische Herangehensweise an den Widerstand gegen Israel. Immerhin arbeite sie mit Shiiten, genauso wie säkularen oder sozialistischen Gruppen punktuell zusammen. Der Kampf zwischen Hamas und ISIS wurde nicht nur ideologisch ausgetragen. Als ISIS 2015 versuchte, im Gaza-Streifen Fuß zu fassen, wurde ihre Organisation nach kurzem Kampf von den Sicherheitskräften der Hamas zertrümmert.
Zusammengefasst, der Islamismus ist nicht nur in der Frage des bewaffneten Kampfes gespalten, sondern auch in jener der Nation. Während der radikale Flügel vertreten durch ISIS oder al-Qaida die Vorstellung von Nationen als unreligiös verurteilt und demnach eine globale Orientierung vertritt, steht die Hamas für einen national orientierten Islamismus und stellt keinen globalen Herrschaftsanspruch. Abgesehen von den ideologischen Differenzen ist auch zu beachten, dass die Hamas sich aktiv um die politische und finanzielle Unterstützung arabischer Staaten bemüht. Dafür war sie auch immer wieder bereit, Zugeständnisse zu machen, auch an Israel. Beispielsweise lehnt die Hamas offiziell das Existenzrecht Israels ab. Über einen kleinen Umweg täte sie es dann doch, nämlich über die Anerkennung eines palästinensischen Staates in den Grenzen von 1967. Das ist nichts anderes als die klassische Doppelstrategie von revolutionärer Rhetorik gepaart mit pragmatischer Kompromissbereitschaft, die bei so vielen Befreiungsorganisationen in Korruption und Verrat geendet hat.

Entstehung der Hamas

Gegründet wurde die Hamas am 9. Dezember 1987 im Zuge der ersten Intifada im palästinensischen Flüchtlingslager Shati im Norden des Gaza-Streifens. Zentrale Figur hinter der Gründung war Ahmad Yassin, welcher seit 1955 Mitglied der ägyptischen Muslimbruderschaft war und in Kairo studierte. Neben der Muslimbruderschaft wurde der Imam und Widerstandskämpfer Izz ad-Din al-Qassam (al Qassam Brigaden heißt der militärische Arm der Hamas) zum zentralen ideologischen Bezugspunkt. Diese hatte bereits in den 20er-Jahren gegen die koloniale Besatzung Palästinas durch England gekämpft und bekämpfte ab den 30er Jahren die beginnende zionistische Bewegung in Palästina.
Bereits in der ersten Intifada positionierte sich die Hamas als alternative Widerstandsbewegung zu der von Arafat geführten Fatah und PLO indem sie auf Flugblättern für alternative Protesttage mobilisierte. Das Bild der härtesten Kämpfer gegen die israelische Besatzung kombinierte die Hamas mit einer islamisch ausgerichteten Sozialpolitik: Essensspenden für Arme, Kritik der palästinensischen Oberschicht und ihrer Korruption. Während der ersten Intifada war die Hamas jedoch weit entfernt davon, die primäre Organisation des Widerstandes zu sein, dafür benötigte es den Verrat der PLO, das „Oslo-Abkommen“.

Verrat der PLO

Am 13. September 1993 unterzeichnete Arafat mit dem israelischen Außenminister Shimon Peres das Oslo-Abkommen in Washington. Das Oslo-Abkommen war ein Versuch der USA, in Nahost für Ruhe zu sorgen und die erste Intifada zu beenden. Faktisch diente es zur Unterwerfung des palästinensischen Widerstandes. Die PLO erkannte Israel in diesem Abkommen an, im Gegenzug akzeptierte Israel die PLO als die einzige Vertreterin der Palästinenser:innen. Echte Schritte hin zu einer Zwei-Staatenlösung wurden nicht gemacht und durch den israelischen Siedlungsbau in den palästinensischen Regionen unterminiert.
Der antikoloniale Theoretiker Edward Said beschrieb das Abkommen als „palästinensisches Versailles“. „Die PLO wird somit zum Vollstrecker Israels, eine unglückliche Aussicht für die meisten Palästinenser.“ Auch der Anführer der israelischen Arbeiterpartei, Shlomo Ben-Ami gestand die koloniale Ausrichtung des Oslo-Abkommens offen ein. Es zielt darauf, die Palästinenser:innen in einer „kolonialen Situation“ in eine „nahezu vollständige Abhängigkeit von Israel“ zu zwingen.

Sich an Wahlen, die in einer Besatzungssituation stattfinden, nicht zu beteiligen, ist nicht Ausdruck einer antidemokratischen Gesinnung, sondern viel eher ein Zeichen des Widerstandes.

Gemeinsam mit marxistischen, islamistischen und säkularen Widerstandsgruppen unterzeichnete die Hamas einen Aufruf gegen das Abkommen und forderte die Fortsetzung des Widerstands. Bereits während der Verhandlungen setzte die Hamas auf Selbstmordattentate, um die PLO zu brüskieren. Als die PLO 1996 zu den ersten Wahlen in ihren Autonomiegebieten aufrief, weigerte sich die Hamas ihre militärischen Operationen einzustellen und boykottierte die Wahl. Der Boykott von Wahlen in besetzten Gebieten, um diese Besatzung zu legitimieren, ist an sich kein Ausdruck einer antidemokratischen Gesinnung, sondern viel eher ein Zeichen des Widerstandes. Die Hamas hielt diesen Kurs aber nicht ewig durch.

Selbstmordanschläge

Insbesondere in der zweiten Intifada ab 2000 wurde die Taktik der Selbstmordattentate zur bestimmenden Taktik der Hamas. Über die Hälfte der 138 Selbstmordanschläge gehen auf das Konto der Hamas. Auch wenn Selbstmordattentate aus einer links-revolutionären Perspektive eine falsche Strategie darstellen, ist es Blödsinn sie als islamische Todessehnsucht abzutun, wie deutschsprachige Medien es gerne taten. Viel eher sind sie die „Luftwaffe der armen Leute“, wie Mike Davis im Kontext von Autobomben argumentiert.

Laut den Studien von Ariel Merari kam der Großteil der Selbstmordattentäter aus palästinensischen Flüchtlingslagern, es handelte sich also um Menschen, die mit dem Gefühl der Demütigung aufgewachsen sind. Auf individueller Ebene stellte das Attentat eine Möglichkeit dar, sich sein Selbstwertgefühl zurückzuholen. Interessanterweise wurde die Taktik des Selbstmordanschlages besonders von sehr religiösen Palästinenser:innen kritisch gesehen, weil sie darin einen Widerspruch zum Koran sehen. Abgesehen davon hat die Hamas die Idee der Selbstmordattentate von der säkularen-linksradikalen japanischen Roten Armee übernommen. (30. Mai 1972 Attentat Flughafen Ben Gurion) Auch die säkular ausgerichtete Fatah setzte während der 2. Intifada punktuell auf Selbstmordattentate.

Zusammenfassend: Selbstmordattentate waren eine Möglichkeit, dem militärisch überlegenen israelischen Staat wehzutun. Dass die Hamas damit erfolgreich war, zeigt der im Zuge von Friedensverhandlungen beschlossene israelische Abzug aus dem Gaza-Streifen 2005.

Wahlen in Gaza 2006

USA und Israel verlangten, in Gaza Wahlen zu organisieren. Mit dem erwartenden Sieg der PLO hätte diese die Legitimität besessen, auch in Gaza als de facto Polizei Israels zu agieren. Man muss wissen, dass sich die Hamas in ihrer Geschichte bereits vor 2006 an Studierenden- und Gewerkschaftswahlen beteiligt hatte. Demnach war die Bekanntgabe der Hamas, sich an den Wahlen in Gaza zu beteiligen, nicht so überraschend, wie es oft dargestellt wird. Die früheren Wahlboykotte waren der Ablehnung des Oslo-Abkommens geschuldet; mit der Teilnahme an den Wahlen in Gaza hoffte die Hamas, einen von Oslo getrennten Weg zu betreten.

Im Wahlkampf kam der Hamas unter dem Namen Change & Reform (Veränderung und Reform) die aufgebaute soziale Infrastruktur zugute. Dieses soziale Engagement kombinierte sie mit der Offenlegung der Korruption der palästinensischen Führung und dem eindeutigen Bekenntnis zum fortgesetzten Widerstand gegen Israel. In einem ihrer Wahlplakate brachte sie diese Politik auf den Punkt: „Die Wahl: Qassam-Raketen oder ein Polizist, der Israel beschützt.“

Ausländische Beobachter inklusive des ehemaligen US-Präsidenten Jimmy Carter gaben zu Protokoll, dass die Wahl vorbildhaft organisiert war. Das Undemokratische an der Wahl war, dass mehrere Parlamentarier der Hamas im Zuge des Wahlkampfs von Israel verhaftet wurden. Insgesamt beteiligten sich 77 % der Wahlberechtigten in Gaza an der Wahl; mit 74 von 132 Mandaten gewann die Hamas die absolute Mehrheit. In Nachwahlbefragungen spielte vor allem die Rolle der Hamas im Kampf gegen die Korruption eine primäre Rolle (für 44% Hauptwahlmotiv) wohingegen religiöse Motivation (nur für 19 %) eine untergeordnete Rolle spielte. Nach ihrem Wahlsieg erklärte der Anführer des politischen Büros der Hamas Chalid Maschal: „Die Welt wird sehen, wie die Hamas Widerstand und Politik, Widerstand und Regierung vereinen kann. Die Regierung ist nicht unser Ziel, sie ist ein Werkzeug.“ Wenige Wochen nach dem Wahlsieg zeigte die Hamas, dass dies keine leeren Worte waren und weigerte sich, ein Selbstmordattentat des Islamischen Dschihad zu verurteilen.

Isolation der Hamas

Der Wahlsieg und die darauffolgenden Erklärungen der Hamas waren ein Schock für die USA und Israel. Schnell verständigte man sich auf eine Strategie der Isolation. Dafür legte die USA der Hamas einen nicht zu akzeptierenden Forderungskatalog vor: Einstellung der Gewalt, Auflösung der militärischen Einheiten, Anerkennung Israels, und der Gipfel der Frechheit, Anerkennung aller bisherigen mit der PLO geschlossenen Verträge. Die Hamas hatte die Wahl gewonnen, weil sie einen anderen Weg als die PLO zu gehen versprach und jetzt sollte sie die Politik der PLO rückwirkend anerken­nen und übernehmen. Nachdem die Hamas die Forderungen abgelehnt hatte, versuchten USA und Israel den Gazastreifen finanziell ausbluten zu lassen. Insbesondere der Iran sprang ein und unterstützte die Hamas ökonomisch.

Putschpläne der Fatah

Tareq Baconi stellt in seinem lesenswerten Buch ,Hamas contained: The rise and Pacification of Palestinian Resistance, minutiös dar, wie die USA versuchten, die Herrschaft der Hamas militärisch zu destabilisieren. Mehrmals traf sich die US-Außenministerin Condoleezza Rice mit dem Anführer der Fatah Abbas, und diskutierte über die militärische Ausbildung von Fatah-Kämpfern. Israel ließ LKWs mit Waffen und Kämpfern für die Fatah in den Gaza-Streifen. Im April 2007 gelangten Teile dieser Abkommen an die Öffentlichkeit. Die häufigen Zusammenstöße von Fatah- und Hamas-Kämpfern in Gaza ließen keinen Zweifel, dass ein Putsch gegen die Hamas am Anlaufen war.

Trotzdem versuchte die Hamas mit dem Mekka-Abkommen nochmals eine Einheitsregierung mit der Fatah zu schmieden. Für die Einheitsregierung war die Hamas bereit, sechs ihrer neun Ministerien abzugeben. Unnachgiebig blieb sie bei ihrem politischen Programm, keine Kooperation mit Israel und dem Recht der Bevölkerung auf bewaffneten Widerstand. Während Hamas und Fatah sich im Wesentlichen auf ein Programm verständigen konnten, blockierten Israel und die USA: Sie würden mit keiner Regierung, an der die Hamas beteiligt ist, verhandeln.

Und so nahmen trotz der Verhandlungen über eine Einheitsregierung die Kämpfe zwischen Hamas und Fatah Ende Mai erneut zu. Mit der Ermordung von zwei Imamen Anfang Juni herrschte de facto Bürgerkrieg in Gaza. Jetzt mobilisierte die Hamas ihre gesamte militärische Stärke und binnen vier Tagen wurde der militärische Arm der Fatah in Gaza zerschlagen. Zwei Jahre nach dem Abzug Israels aus Gaza war die Hamas nun der alleinige Herrscher über Gaza. Gleichzeitig war die interne Spaltung Palästinas besiegelt. USA und Israel verständigten sich auf die endgültige Isolation des Gaza-Streifens, während die von der PLO kontrollierten Gebiete im Westjordanland wieder finanziert wurden. Doch während die israelischen Sicherheitskräfte in Fatah-kontrollierten Gebieten machen können was sie wollen, wurde Gaza von Israel und Ägypten vollständig abgeriegelt.

Putsch der Hamas

Dem nationalen wie internationalen Vorwurf, sich an die Macht geputscht zu haben, kann die Hamas die Kooperation von Fatah, Israel, USA und Ägypten entgegenhalten, die gemeinsam den Wahlsieg der Hamas annullieren wollten. Das ist wahrhaft antidemokratisch. Wir müssen aber nicht so blauäugig sein, und die militärische Machtübernahme der Hamas als spontane Reaktion auf den internen wie äußeren Druck zurückzuführen. Eine militärische Machtübernahme hat durchaus Platz in ihrer politischen Agenda. Trotzdem ist es einfach nur Propaganda, die Machtübernahme als antidemokratischen Putsch der Hamas darzustellen. David Wurmser hat 2007 als Nahost-Berater für US-Vizepräsidenten Dick Cheney gearbeitet. Er fasste zusammen: „Was geschah, war nicht so sehr ein Putsch der Hamas, sondern ein versuchter Putsch der Fatah, der verhindert wurde, bevor er stattfinden konnte.“

Wie stehen wir zur Hamas

Diese kurze Geschichte der Hamas bis 2007 sollte zeigen, es handelt sich bei der Hamas eben nicht um eine Organisation von wahnsinnigen Dschihadisten. Viel eher haben wir es mit einer Organisation zu tun, die den Islamismus mit nationaler Befreiung kombiniert. So prekär die Lage in Gaza nach 2007 auch war, als anti-imperialistische Organisation schwächt die Hamas das imperialistische Zentrum. Ihr Widerstand gegen Jahrzehnte der Unterdrückung durch Israel und den westlichen Imperialismus mit allen Mitteln ist legitim. Im nationalen Kontext repräsentiert die Hamas jedoch die Interessen von Teilen der lokalen herrschenden Klasse. Soziale Protestbewegungen der Arbeiter:innen, wie das We want to live movement 2019 unterdrückte sie rücksichtslos. Offensichtlich wäre eine sozialistische Kraft als führende Widerstandsorganisation wünschenswerter. Dies zu verwirklichen ist jedoch weder die Aufgabe noch eine Möglichkeit für westliche Sozialist:innen. Unsere Aufgabe ist der Kampf gegen unsere eigenen Herrschenden und gegen deren Unterstützung für die israelischen Kriegsverbrechen.