Kohei Saito träumt vom Systemsturz
Er ist ganz nebenbei ein guter und witziger Vortragender, der seine fundierten Marx-Kenntnisse in verschiedensten Sprachen vortragen kann. Zwischen den Scherzen ging allerdings ein großer Bruch, den Saito verlangt, beinahe unter: Saito meint, der alte Marx habe den jungen Marx widerlegt und auch seine größte Entwicklung zu Grabe getragen, den historischen Materialismus. Und deshalb sei er Reformist und nicht Revolutionär, deshalb könne er den alten Marx als Kronzeugen für seine eigene Strategie anführen – Degrowth-Kommunismus. Gemeint sind Kampagnen gegen Luxusgüter und Überflussproduktion im Hier und Jetzt, zB öffentlichen Verkehr statt Individualverkehr fördern, Privatjets und Luxusjachten verbieten, also Kampagnen, die im Kapitalismus eine Rückentwicklung der Produktion bewirken sollen ohne Mangel bei der Bevölkerung auszulösen. Eine Umorganisation des Kapitalismus in eine soziale und faire Richtung, mit dem Fokus auf einen Ausgleich zwischen dem globalen Süden und den Industrienationen. Schließlich könne man so die aggressiv und imperialistisch agierenden Fraktionen des Kapitals entmachten und den Weg friedlich im Degrowth-Kommunismus fortsetzen. Klingt gut? So gut, wie das sozialdemokratische Versprechen ohne riskanten Kämpfen und Bürgerkrieg den Kapitalismus zu überwinden, indem man ihn zähmt und den Arbeiter:innen Untertan macht.
Kein Green New Deal
Saito verwirft nicht Sozialismus als Konzept, er setzt genauso auf eine demokratische geplante Produktion durch eine freie und demokratische Gesellschaft, und auf die Organisierung der großen ökologischen Umwälzungen und des täglichen Bedarfs von Mensch und Natur durch einen Staat. Und er distanziert sich ganz deutlich vom Reformismus linker Sozialdemokraten wie Bernie Sanders und dem Green New Deal. Dabei hat das Konzept vom Green New Deal eine gute Antwort darauf, wie wir klimaneutral werden und die Güter- und Energieproduktion nachhaltig gestalten könnten – Schlagwort eine Million Climate Jobs.
Der Green New Deal ist kein revolutionäres Programm, keines das Kapitalismus als ein System sozialer Beziehungen und von destruktiven Beziehungen zwischen Gesellschaft und Natur beseitigen will. Aber im Moment befinden wir uns in einer Notsituation, und die erste Priorität ist der Ausstieg aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe, also die Zerstörung des so genannten fossilen Kapitals. Das Ziel ist es, den Schritt zur „Treibhaus Erde“ zu vermeiden, ein Zustand unseres Planeten in dem der katastrophale Klimawandel festgeschrieben und unumkehrbar ist, und der schon in ein paar Jahrzehnten oder früher einsetzen könnte.
Massenmobilisierung
Popularisiert hat den Vorschlag eines Green New Deal die linke demokratische Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez. Im Kern ist es die Vision einer Umstellung der Wirtschaft im ganz großen Stil. Ganze Industrien sollen geschlossen oder umgewidmet werden und trotzdem soll niemand arbeitslos werden. Alle Ressourcen wie Arbeitskräfte sollen in den Umstieg auf nachhaltige Energieproduktion kanalisiert werden. Am beeindruckendsten ist für uns Ökosozialist:innen ihre Forderung nach einer Massenmobilisierung. Das ist die Brücke zu unseren Vorstellungen – ohne Massenmobilisierung könnten die sozialen Bewegungen weder den Druck aufbauen um den Regierungen den Deal aufzuzwingen, noch wir uns als Arbeiter:innenklasse das Selbstbewusstsein erarbeiten um weiter zu gehen und das ganze System zu stürzen. Kohei Saito kritisiert zwar den Green New Deal als im Kapitalismus verhaftet, aber in den Methoden bleibt sein kommunistischer Degrowth hinter dem Deal zurück. Massenmobilisierung, Klassenkampf und Erzwingen des Ausstiegs aus dem fossilen Kapitalismus fehlen bei ihm.
Ocasio-Cortez fordert auch innovative Formen der Finanzierung, wie die Einrichtung eines Netzwerks öffentlicher Banken zur direkten Finanzierung nach dem Vorbild des New Deal und durch wesentlich höhere Grenzsteuersätze für Reiche und Unternehmen, wie wir sie während Roosevelts New Deal in den Vereinigten Staaten scheinbar hatten. Die Einnahmen könnten zur Finanzierung einer massiven Umstellung auf Solar- und Windenergie verwendet werden. Sie verbindet dies mit einer Vielzahl von sozialen Fragen.
Zero Deal ohne Revolution
Aber nichts davon wird wirklich funktionieren, selbst wenn es möglich wäre, es angesichts des Systems gesetzlich zu regeln, wenn es nicht den Charakter einer ökologischen Revolution mit einer breiten sozialen Basis annimmt. Gemeint ist eine wirkliche ökosoziale Revolution mit all ihren Risiken und ihren Unsicherheiten. Ein Kampf um die Macht gegen Herrscher, die extrem gewaltbereit und extrem hochgerüstet sind. Ein radikaler Green New Deal ist daher bestenfalls der Einstieg in einen solchen umfassenderen, ökorevolutionären Wandel, der die Selbstmobilisierung der Bevölkerung einschließt. Wenn er keine ökologische Revolution auslöst, wird seine Wirkung gleich Null sein. Schließlich haben die Regierungen der Industriestaaten sehr eindrucksvoll bewiesen, dass sie die Pariser Klimaziele nicht erfüllen werden. Und sie nutzen dazu nicht nur die altbewährten Verzögerungsmethoden, mit welchen sie eine Umweltinitiative nach der anderen ins Leere laufen lassen. Sie nutzen die immer häufigeren und tieferen Krisen um die Krise zu beschleunigen, Fakten zu setzen, die alle Bemühungen sinnlos erscheinen lassen, wie die Erschließung neuer Erdöl- und Gasfelder, Bergbau in der Tiefsee und an den schmelzenden Polkappen. Ocasio-Cortez und Sanders sind demokratische Abgeordnete und haben trotz aller Ankündigungen nicht mit Präsident Biden gebrochen, sie unterstützen den Krieg in der Ukraine, und sie führen keine Rebellion gegen Fracking oder neue Ölfelder an. Sie reden zwar von Massenmobilisierungen, sind aber dem System selbst zu treu verbunden um solche anführen zu können. Sie sprachen sich sogar gegen die Streiks der Transportarbeiter aus – aus Gründen der Parteidisziplin.
Der Marx, den Saito widerlegt haben will, geht aber immer davon aus, dass die Menschen im revolutionären Kampf ein völlig neues Bewusstsein herausbilden.
In der Theorie haben sie dem Konzept des Degrowth-Kommunismus die Massenmobilisierung voraus, aber in der Praxis bleibt davon leider nicht viel übrig. Also zurück zu Saito, woher kommt seine Zuversicht? Manche sozialistischen Strömungen, allen voran der Stalinismus müssen sich naiven Wachstumsglauben vorwerfen lassen. Sie stellen den Weg zum Kommunismus als Etappen vorgegebener Entwicklungen dar, die von einer Gesellschaft durchlaufen werden müssen, um Kommunismus zu erreichen: von der feudalen Gesellschaft zur modernen Gesellschaft, von der landwirtschaftlich zentrierten Produktion zur Industrieproduktion, mit der Herausbildung einer modernen Arbeiter:innenklasse. Diese Arbeiter:innenklasse wird dann die Kämpfe führen, den Kapitalismus stürzen und die Geschicke der Welt in ihre eigenen Hände nehmen. Sie wird Überschüsse produzieren und damit die Voraussetzung schaffen, Güter und Dienstleistungen an alle frei zu verteilen, weil ja ohnehin ein Überschuss vorhanden ist. Hier setzt Saito an.
Angesichts der Tiefe der ökologischen Katastrophe ist es mehr als naiv und realitätsfremd so unsere Zukunft zu skizzieren. Saito macht mehrere gute Punkte, warum Überfluss nicht bedeuten muss, obsolete Güter weiter zu produzieren. Erreicht man ohne Auto den gewünschten Ort genauso leicht wie mit, dann erlebt man trotzdem „Überfluss“. Keine Autos mehr, bedeutet natürlich eine gewaltige Rückentwicklung der Produktion, weil das Auto an der Spitze der kapitalistischen Produktionspyramide steht. Eisen, Zement, Straßen, Garagen, Parkplätze, Kunststoffe, Software, Natur und Boden – ein Ende dieser Verschwendung hätte schon größere CO2-Einsparungen zur Folge als es sich die meisten Klimawissenschafter heute zu erträumen wagen. Seltsamerweise bringt Saito das Elektroauto ins Spiel, wenn er darauf eingeht, dass auch die Umstellung auf ökologische Transportmittel noch einiges an Ressourcen brauchen und Kohlendioxid in die Luft schleudern wird. Das ist mehr als widersprüchlich und muss als Zugeständnis an die Verhältnisse von heute verstanden werden. Saito will das System ja dezidiert nicht gewaltsam stürzen, das heißt er muss davon ausgehen, was Menschen mit dem Bewusstseinsstand von heute zumutbar ist – Elektroautos, dafür immer noch Individualverkehr. Aber das wäre Wahnsinn, die Produktion von Elektroautos ist kein bisschen zukunftstauglich.
Der junge Marx und die Revolution
Der Marx, den Saito widerlegt haben will, geht aber immer davon aus, dass die Menschen im revolutionären Kampf ein völlig neues Bewusstsein herausbilden. Sie müssen um siegen zu können viele schmerzhafte Erfahrungen durchmachen und sind nur so ihrem Gegner, der herrschenden Elite gewachsen. Zum Beispiel muss die Masse erst lernen, dass ihr Gegner grundschlecht ist und bereit, über Leichen zu gehen um am Ruder zu bleiben. Wir werden unserem Gegner anfangs naiv gegenübertreten, weil sich der durchschnittliche Bürger so viel Schlechtigkeit gar nicht vorstellen kann. Als Masse werden wir erst im kollektiven Kampf lernen, dass wir Propaganda aufgesessen sind, wenn wir von uns als höherwertig und von Fremden als minderwertig gedacht haben. Genauso lernen die meisten von uns wohl erst im Kampf, dass wir kollektiv und ungeachtet aller Grenzen und Hürden die Gesellschaft gemeinsam organisieren können. „Nichts ist so geeignet, unser Denken nach allen Richtungen mit einem Schlage von den beengenden Fesseln der Schablonen zu befreien, wie eine revolutionäre Periode“, schrieb Rosa Luxemburg. Sie hat wunderbar beschrieben, wie die erste Russische Revolution von 1905 bei den Massen mit den neuen selbst erkämpften Lebensrealitäten schlagartig das Bewusstsein verändert hat. Entwicklungssprünge, die sie als führende Theoretikerin der SPD jahrzehntelang vergeblich anzustoßen versuchte, passierten in Polen und Russland vor ihren Augen. Die Menschen schufen neue Organisationsformen, jagten ihre alten Führer zum Teufel, entdeckten ihre eigene Stärke, und so weiter. „Die Revolution ist großartig, alles andere ist Quark!“ ist ein berühmt gewordener Schlachtruf von ihr, eine Antwort auf die Kohei Saito’s ihrer Zeit.
Historischer Materialismus
Saito hat nicht als erster versucht, uns einen Weg zum Sozialismus zu skizzieren, der ohne Blut und Revolution auskommt. Bei sehr vielen Kämpfer:innen für den Umweltschutz, die Sozialismus, Kommunismus oder Marx weder kennen noch anstreben, wird sein Buch Visionen von einer kollektiv und vernünftig geführten Gesellschaft erzeugen. Aber Marx hat mit seiner Vorstellung von Revolution nie gebrochen, wie Saito behauptet, und er hat auch nie den sogenannten Historischen Materialismus, also die historischen Gesetzmäßigkeiten, die nach seinen Beobachtungen zu Gesellschaftsumbrüchen führen, verworfen. Der Historische Materialismus sagt im Kern, dass Gesellschaften dann in revolutionäre Krisen stürzen, wenn die herrschenden Eliten den Bedürfnissen ihrer Zeit nicht mehr entsprechen können, weil sie zu viele Ressourcen dafür binden, an der Macht zu bleiben. Wenn etwa feudale Herrscher eine Unzahl an Menschen gebraucht haben, um Paläste zu bauen, die ihre Untertanen beeindrucken, und Armeen zu stellen. Wenn sie die Ressourcen dafür genutzt haben, diese Herrschaft zu finanzieren, während die Gesellschaft diese Mittel für ihr Funktionieren gebraucht hätte, dann entsteht so eine revolutionäre Krise. Anfangs hat das Entstehen neuer Produktionsmethoden zur Entstehung einer neuen herrschenden Elite geführt, und ihre Existenz wurde hingenommen, auch wenn sie Ressourcen verschwendeten. Aber bald werden die ehemaligen Beförderer neuer Produktionsmethoden zur Bremse weiterer Entwicklung. So ist es auch mit dem Kapital. Durch die Schaffung von Fabriken und einer immer effizienteren Produktion hat Kapitalismus die Bedingungen geschaffen, dass alle Menschen versorgt werden könnten und das im relativen Einklang mit der Natur. Aber was sie zur Absicherung ihrer Herrschaft tun, Kriege führen, immer neue Profitmöglichkeiten erschließen, Menschen in die Flucht zwingen und ermorden, lässt keinen weiteren Fortschritt zu. Der kann nur darin liegen, dass wir die vorhandenen Ressourcen so einsetzen, dass die Katastrophe zumindest gemanagt werden kann, sie ganz aufzuhalten ist nicht mehr möglich. Aber wir können alle Menschen, die im Lauf der nächsten heißen Jahrzehnte ihre Heimat verlassen müssen, unterbringen. Wir können aus der Nutzung fossiler Brennstoffe als primärer Energiequelle der Gesellschaft aussteigen. In jeder kommenden Revolution müssen Revolutionäre auch eine Vision präsentieren können, die konkret umsetzbar ist und deshalb wert, dafür zu kämpfen. Visionen, die nicht auf dem massenhaften Kampf, sind nicht nur zum Scheitern verurteilt, sie verurteilen uns zum Untergang. Wir bleiben in diesem Sinn klassische Marxisten und behaupten mit ihm: dass „die Revolution nicht nur nötig ist, weil die herrschende Klasse auf keine andre Weise gestürzt werden kann, sondern auch, weil die stürzende Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen und zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden.“