Ausstellung: Wien. Eine Stadt im Spiegel der Literatur

Mit Wien. Eine Stadt im Spiegel der Literatur bietet das Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek (Grillparzerhaus, Johannesgasse 6, 1010 Wien) bis zum 16. Februar 2020 eine beeindruckende Ausstellung zur österreichischen Literatur nach 1945 und entführt in ein Wien abseits jeglicher Prater-Romantik.
30. Juli 2019 |

Regelmäßig wird Wien zur lebenswertesten Stadt der Welt gekürt (dieses Jahr bereits zum zehnten Mal in Folge). Tourismus-Werbungen zeichnen das Bild einer weltoffenen Stadt voll von märchenhaften Schlössern und idyllischen Parks. Aber wie lebt es sich wirklich in Wien?

Wie so oft wird der Alltag der „normalen“ Wiener_innen, abseits von Schnitzel und Kaffeehaus, übergangen: Arbeitslosigkeit, rassistische Polizeikontrollen und Obdachlosigkeit. Und übergangen wird – immer noch – die grausliche Geschichte eines Landes, in dem die FPÖ als „indirekte Nachfolgepartei der NSDAP“ (Anton Pelinka) bis vor kurzem ihre deutschnationalen Burschenschafter in die Spitzenpositionen der Regierung setzen konnte.

Damals wie heute sind es Künstler_innen, die sich mit der Schattenseite des inszenierten Glanzes auseinandersetzen, die anschreiben gegen Faschismus und Unterdrückung. Und gegen das Vergessen. Eben diesen literarischen Zeugnissen jenes anderen Wiens widmet sich das Literaturmuseum in der Sonderausstellung Wien. Eine Stadt im Spiegel der Literatur. Unter dem Kuratorium von Bernhard Fetz und Katharina Manojlovic fächert das Museum einen außergewöhnlichen Überblick über die Wiener Literatur nach 1945 auf.

Empfangen wird man von einem Haiku von Ernst Jandl: „je müder ich bin / umso lieber / bin ich in wien“. Zwar ist die Verschlafenheit der Stadt kaum zu leugnen, doch das ist nur eine ihrer vielen Seiten, zu denen die Ausstellung einlädt, sie aufzublättern.

Vergessenshauptstadt

Einen großen Teil der Ausstellung macht die unmittelbare Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg aus; jener Teil der österreichischen Geschichte, der so gern verklärt und vergessen wird. Nicht umsonst bezeichnete der jüdische, kommunistische Autor Robert Schindel Wien als die „Vergessenshauptstadt“ schlechthin. Dementsprechend werden zahlreiche Werke der vom NS-Regime Verfolgten gezeigt.

Darunter etwa ein Gedicht von Ruth Klüger, das sie ihrem in Auschwitz ermordeten Vater widmete. Klüger, in Wien geboren und aufgewachsen, wurde selbst ins KZ Theresienstadt deportiert, danach in verschiedene Außenstellen verlegt, bis ihr 1945 noch vor Kriegsende die Flucht gelang. Ihre Erfahrungen hielt sie in ihrer Autobiografie Weiter leben. Eine Jugend fest, wo sie etwa über ihre Kindheit schreibt: „Ich kenne die Stadt meiner ersten elf Jahre schlecht. Mit dem Judenstern hat man keine Ausflüge gemacht.“

Raum-Zeitliche Reise

Weitere Einblicke werden u.a. in Werk und Leben von Ilse Aichinger gegeben. Hinter einem Vorhang geborgen kann man über Kopfhörer ihren mit brüchiger Stimme rezitierten Wien-Gedichten (z.B. Judengasse von 1954) lauschen.

Die Ausstellung beschränkt sich aber nicht nur auf die zeitliche Reise, sondern nimmt die Besucher_innen auch räumlich in städtische Peripherien mit. So dichtet beispielsweise Christine Nöstlinger in ihrem Theaterstück Iba de gaunz oamen Leit im Wiener Dialekt über die Wohnsituation im überbelegten Gemeindebau, in dem sich die Bewohner_innen hinter der Anonymität nummerierter Türen zu verstecken versuchen.

Heidi Pataki zerlegt in ihrem Gedicht Wien zärtlich die süße Fassade des von Verniedlichungen durchzogenen Dialekt und schreibt vom „semmerl“ genauso wie von „schlagstockerl“ und „hakenkreuzerl“. Milo Dor und Reinhard Federmann brachten 1955 mit Romeo und Julia in Wien die tragische Romanze, adaptiert ins besetzte Nachkriegs-Wien, als Fortsetzungsroman in die Arbeiterzeitung. In Josef Haslingers Opernball werden die Besucher des Balls ermordet, während die ganze Welt es als Live-Übertragung beobachten kann – die literarische Bandbreite der Stadt, gleichzeitig real und fiktiv, scheint unendlich.

Um dem Entstehungsprozess der literarischen Werke zu folgen, gehört mehr, als nur biografische Daten aufzulisten.

Schreibend entdecken

Zahlreiche Originalmanuskripte zeigen Durchgestrichenes und Ausgebessertes der oft jahrelangen Arbeit. Wie die Stadt selbst sind auch ihre geschriebenen Zeugnisse dem ständigen Wandel unterworfen. Besonders beeindruckend ist hier der ausgestellte „Bauplan“ zu Heimito von Doderers Roman Die Dämonen, der die Geschichte rund um den Justizpalastbrand 1927 thematisiert: ähnlich einem Architekten entwarf er großformatig seine Handlungs-Skizzen.

Der physische Gang durch die Ausstellung verbindet sich mit dem gedanklichen auf den Spuren der Autor_innen. Am deutlichsten zeigt diese Verbindung die Erzählung Gehen von Thomas Bernhard: „Der Erzähler geht mit einem gewissen Öhler über die Friedensbrücke in die Klosterneuburger Straße und überschreitet dabei auch eine soziale Grenze, es geht um Gehen und Denken. In der Ausstellung geht man in den Gang hinein mit Handke und zurück mit Bernhard“, so Fetz, Direktor des Literaturarchivs.

Auf einer Karte können Besucher ihre liebsten Leseorte in Wien einzeichnen. © ÖNB / Schedl


Abseits der Geschichtsbücher

Die Ausstellung zeigt, wie sich die Schriftsteller_innen schreibend der Stadt nähern und uns, lesend, mitnehmen. Zwar bleibt vieles Lesenswerte ungenannt und die Ausstellung könnte unendlich erweitert werden, das Museum liefert dennoch einen gelungenen Querschnitt der modernen Literatur und überzeugt sowohl mit der Vielfalt an Materialien (wie Manuskripte, Film- und Tonaufnahmen, Fotos, Zeitungen usw.), als auch mit der großen Bandbreite an Themen und Personen.

Die Literatur hält das fest, was sonst gerne aus den offiziellen Geschichtsbüchern gestrichen wird, sie lässt uns auf vielfältige Weise die Geschichte durchblättern, nimmt uns mit in Hinterhöfe, in die Psychiatrie, in Außenbezirke wie Floridsdorf oder Favoriten. Abseits von Wiens Oberfläche existiert eine Stadt hinter den Wohnungstüren, zwischen den Zeilen der offiziellen Zeitungsmeldungen und in den Träumen ihrer Bewohner_innen. Was könnte das besser zeigen, als die Literatur?