Ultras: Die Taliban unter den Fußballfans

Kaum eine Bewegung steht so Im Rampenlicht der Kritik wie die Ultras. Für Sandra Maischberger sind es die „Die Taliban der Fußballwelt“, andere wiederum erkennen berechtigten Widerstand der Arbeiter:innenklasse gegen Kapitalismus und Kommerzialisierung. Doch wofür stehen die Ultras und woher kamen sie? Der Versuch einer Einordnung zwischen Faschismus und Stadtguerilla.
4. März 2024 |

Kaum eine Bewegung steht so im Rampenlicht der Kritik wie die Ultras. Für Sandra Maischberger sind es die „Die Taliban der Fußballwelt“, andere wiederum erkennen berechtigten Widerstand der Arbeiter:innenklasse gegen Kapitalismus und Kommerzialisierung. Doch wofür stehen die Ultras und woher kamen sie? Der Versuch einer Einordnung zwischen Faschismus und Stadtguerilla.
In den 1960er und 1970er Jahren erlebte Italien eine Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs, die von politischen Unruhen, Studierendenprotesten und tiefgreifenden sozialen Veränderungen geprägt war. Diese Epoche wird oft als „anni di piombo“ (Jahre des Bleis) bezeichnet, wegen der politischen Gewalt und der Konflikte, die das Land durchdrangen. Diese Zeit war von einem wirtschaftlichen Aufschwung geprägt, der als „il boom“ bekannt ist und ein rasches Wachstum der Industrie und des Wohlstands in Italien mit sich brachte. Gleichzeitig entstanden jedoch soziale Ungerechtigkeiten, die eine wachsende Unzufriedenheit in großen Teilen der Bevölkerung nährte, insbesondere bei den Jugendlichen und den Arbeiter:innen.

Es entstand eine lebendige und aktive studentische Bewegung, die sich gegen Autoritarismus, soziale Ungerechtigkeit und die starre Struktur der Gesellschaft richtete. Die Student:innenproteste von 1968 waren Teil einer globalen Welle von Unruhen und Demonstrationen, die eine breite Palette von Themen wie Bildung, Arbeitnehmerrechte, Geschlechtergleichstellung und den Vietnamkrieg umfassten. Es gab eine starke Verbindung zwischen den Studierendenprotesten und der Arbeiter:innenbewegung, die zu Kooperationen bei Streiks und Fabrikbesetzungen führten. Die Arbeiter:innenklasse forderte bessere Arbeitsbedingungen, höhere Löhne und eine größere Mitsprache in den Betrieben. Diese gemeinsamen Anstrengungen von Student:innen und Arbeiter:innen führten zu einer beispiellosen gesellschaftlichen Mobilisierung.

Diese turbulenten Jahre kennzeichneten einen Wendepunkt in der italienischen Geschichte und prägten das politische Bewusstsein einer ganzen Generation. Die sozialen Bewegungen und der Wunsch nach Veränderung hatten tiefgreifende Auswirkungen auf die Kultur, die Politik und die gesellschaftliche Entwicklung Italiens und beeinflussten auch andere Bereiche wie Kunst, Literatur und Musik.

Von der Straße ins Stadion

Der Begriff „Ultras“ stammt aus dem Lateinischen und bedeutet „jenseits“ oder „darüber hinaus“. Seine Entstehung in Italien ist eng mit der Geschichte des italienischen Fußballs und den gesellschaftlichen Veränderungen in dieser Zeit verbunden. Der gesellschaftliche Wandel fand auch in der Fußballkultur Ausdruck, indem er eine neue Generation von Fans hervorbrachte, die eine stärkere Identifikation mit ihrem Verein und eine größere Autonomie in ihrer Fankultur suchten. Einige Fußballfans, insbesondere junge Menschen, begannen sich von den traditionellen Fanclubs zu distanzieren und neue Formen des Fanausdrucks zu entwickeln. Dafür nahmen sie die Mittel, die sie von Demonstrationen kannten, Sprechchöre, Trommeln, Bengalen, Transparente usw. in das Stadion mit. Gleichzeitig begannen sie, mit Graffitis und Stickern, ebenfalls ursprünglich politische Ausdrucksmittel, ihre Kultur von den Stadien wieder auf die Straße zu bringen.

Die Ultras zeigten eine intensive Unterstützung für ihre Mannschaften, aber auch eine starke Gruppenidentität mit eigenen Codes und Regeln, wenn man bspw. das Banner an eine verfeindete Ultra-Gruppe verliert, muss man sich auflösen. Die eigene Fußballkultur führte dazu, dass die Ultras oft in Konflikt mit anderen Fangruppen, sowohl innerhalb als auch außerhalb ihrer eigenen Vereine, sowie den Vereinen und allen voran der Staatsmacht stehen.

Abgesehen davon bieten Ultragruppen einen Raum für Solidarität und Gemeinschaft, der in der heutigen Gesellschaft oft fehlt. Sie schaffen Identität, Zusammenhalt und bieten vielen Jugendlichen einen Ort der Zugehörigkeit. Dieser Zusammenhalt kann als eine Form des Widerstands gegen die Individualisierung und Vereinsamung in kapitalistischen Gesellschaften betrachtet werden. Die politische Dimension der Ultras war von Anfang an präsent. Besonders in den 1980er Jahren wurden Ultragruppen politisch aktiv und identifizierten sich mit verschiedenen politischen Bewegungen. Es gab Ultras, die sich gegen Rassismus und Diskriminierung einsetzten, während andere eine eher nationalistische oder sogar faschistische Ausrichtung hatten. Diese Vielfalt innerhalb der Ultraszene führte zu unterschiedlichen politischen Standpunkten und Ideologien.

Die Ausbreitung der Ultras in Europa

Die Ausbreitung der Ultras in Europa begann in den 1980er Jahren, als sie sich über die Grenzen Italiens hinaus in anderen europäischen Ländern wie Deutschland, Spanien, England und den Niederlanden verbreiteten. Dies geschah größtenteils durch internationale Spiele und Wettbewerbe wie die europäischen Vereinswettbewerbe und internationale Länderspiele. Es entwickelte sich ein Netzwerk von Kontakten und Austausch zwischen verschiedenen Fan-Gruppierungen und diese begannen, ihre Organisationsstrukturen und Fankultur in anderen Ländern zu etablieren.
Wirtschaftliche, politische und soziale Veränderungen prägten diese Zeit in vielen Europa. Arbeitslosigkeit, gesellschaftliche Ungleichheit und politische Unzufriedenheit waren in allen Ländern präsent und beeinflussten die Jugend in gewisser Weise. Diese allgemeinen gesellschaftlichen Unruhen schufen ein Umfeld, in dem sich Jugendliche nach Gemeinschaft und Zugehörigkeit sehnten, was teilweise durch die Ultras-Kultur erfüllt wurde. Die Ideen und Praktiken der Ultras wurden von Land zu Land übertragen, adaptiert und verändert, um sich den lokalen Gegebenheiten anzupassen. Die spezifischen Eigenheiten der Fußballkultur jedes Landes flossen in die Entwicklung der Ultras ein und führten zu unterschiedlichen Ausprägungen dieser Bewegung.

Die Ultras-Kultur breitete sich in den frühen 1980er Jahren nach Frankreich aus, insbesondere bei Clubs wie Paris Saint-Germain, Olympique Marseille und AS Saint-Étienne. In Deutschland begann sich die Ultra-Bewegung ebenfalls in den 1980er Jahren zu etablieren. Vereine wie Borussia Dortmund, FC St. Pauli und Eintracht Frankfurt waren einige der ersten, die eine aktive Ultra-Präsenz aufwiesen. Auch in Spanien gewann die Ultras-Kultur in dieser Zeit an Bedeutung. Vereine wie Real Madrid, FC Barcelona und Athletic Bilbao hatten aktive Ultra-Gruppen, die die Atmosphäre in den Stadien prägten. In Griechenland, Polen, Ungarn und anderen osteuropäischen Ländern begann sich die Ultras-Kultur ebenfalls in den 1980er und 1990er Jahren zu entwickeln. Während die Szene in Osteuropa stärker von rechten Kampfsportlern durchsetzt ist, ist sie in Deutschland eher links geprägt.

Mit der Gründung der Ultras Rapid 1988 zog die Ultras-Kultur relativ früh in Österreich ein. Während es in den ersten Jahren noch eine Koexistenz der rechten Hooligan Szene und der Ultras gab, grenzen sich die Ultras Rapid inzwischen klar von rechts ab. Die Kultur der Ultras hat sich also von Italien aus schnell verbreitet, auch wenn die politischen und sozialen Bedingungen unterschiedlich waren. Sie hatten andere, spezifische Gemeinsamkeiten.

Gegen den modernen Fußball

Die Fußballkultur ist stark mit dem Kapitalismus verbunden. Vereine sind zu Wirtschaftsunternehmen geworden, indem die Spieler:innen als Kapital betrachtet werden. Transfersumme um die 100. Millionen sind mittlerweile normal geworden, Spieler:innen transformieren sich zu Marken, für die die Anzahl an Instagram-Followern wichtiger ist, als der Verein, für den sie spielen. Dies führt oft zu Spannungen zwischen den Fans und den kommerziellen Interessen der Vereine. Es entsteht eine klare Spaltung zwischen denjenigen, die die Profite erzielen, und den Fans, die oft das Gefühl haben, entfremdet und entmachtet zu sein. Diese Entwicklung gewinnt immer weiter an Dynamik. Immer mehr Vereine werden zum privaten Spielzeug reicher Oligarchen und so kommt es beispielsweise schon einmal vor, dass die spanische Sparkassengruppe Christiano Ronaldo als Sicherung für Kredite der EZB verpfänden will.
Unter dem Schlagwort „Gegen den modernen Fußball“ ist die Kritik an der Kommerzialisierung des Sportes zentraler Bestandteil der Ultras-Kultur. Sie setzen sich für die Authentizität und Identität ihrer Clubs ein, kämpfen gegen Vereinsfunktionäre, die den Fußball als bloßes Geschäft betrachten, und fordern eine Rückbesinnung auf die Werte des Sports und die Gemeinschaft. Fußballultras üben durch ihre organisierten Gruppen und ihre kollektive Aktion Macht aus. Diese Macht manifestiert sich nicht nur in den Stadien, sondern auch in politischen und gesellschaftlichen Diskursen. Ultragruppen haben oft politische Anliegen und sind in sozialen Bewegungen involviert, die sich gegen Ungerechtigkeiten und Unterdrückung richten. So waren Ultras an Aufstandsbewegungen am Taksim in Istanbul, an der ägyptischen Revolution 2011, sowie in der Ukraine beteiligt, wo Ultras am Maidan eine entscheidende Rolle spielten.

Die proletarische Prägung der Ultras

Die Welt der Fußballultras, trotz ihrer Vielfalt und Unterschiede, trägt eine deutlich proletarische Prägung. Diese Subkultur tritt als Ausdruck der Arbeiter:innenklasse hervor, die sich in einer Umgebung des Sports und des Kapitalismus organisiert und manifestiert. Die Werte, die von den Ultras vertreten werden, sind eng mit dem proletarischen Ethos verbunden. Solidarität, Gemeinschaft und Zusammenhalt in schwierigen Zeiten sind Werte, die in der Arbeiterbewegung stark verankert sind. Innerhalb der Ultra-Gruppen werden ähnliche Werte der Solidarität und des Zusammenhalts hochgehalten, sei es in Bezug auf den Kampf gegen die Kommerzialisierung des Fußballs oder in sozialen und politischen Angelegenheiten. Man denke beispielsweise an diverse von der Fanszene organisierte Spendenaktionen wie „Wiener helfen Wienern“, die Spendenaktion des Rapid Block West. Insofern sind die Ultras eine Bewegung, die nicht getrennt von ihrem gesellschaftlichen Umfeld, Stadtvierteln und Bezirken verstanden werden kann.

Natürlich will diese Analyse der proletarischen Prägung der Ultras nicht behaupten, dass alle Ultras einheitlich aus einer sozialen Schicht kommen, oder dass sie ausschließlich proletarische Ideen vertreten. Die Bewegung ist vielfältig und beherbergt eine Vielzahl von Ansichten und Hintergründen. Jedoch können wir erkennen, dass die Welt der Fußballultras, in ihrer Kritik am Kapitalismus, ihrer Betonung von Gemeinschaft und Solidarität und ihrer oft proletarischen Prägung, ein verzerrtes Spiegelbild der Werte und Kämpfe der Arbeiter:innenklasse ist. Es ist eine facettenreiche Bewegung, die in ihrer Vielfalt und in ihrer Ablehnung gegenüber den Auswüchsen des modernen Kapitalismus ein Sprachrohr für soziale Gerechtigkeit und Veränderung sein kann.

Dumm, gewalttätig und pöbelhaft?

Natürlich existiert innerhalb der Ultraszene, wie in jeder sozialen Gruppierung, eine gewisse Bandbreite an Verhaltensweisen und Ideologien. Ein simplifizierter Blick auf komplexe soziale Phänomene führt leicht, vor allem bei „arroganten Linken“, zu einer Beurteilung der Ultras als dumm, gewalttätig und pöbelhaft. Tatsächlich sind viele Ultragruppen weit davon entfernt, ausschließlich gewalttätig oder unreflektiert zu sein. Die Kritik an der der Gewaltbereitschaft verschleiert oft die tieferen Ursachen von Konflikten in der Ultra-Kultur, sei es die Auseinandersetzung mit rivalisierenden Gruppen oder die Reaktion auf Repressionen durch die Polizei. Die Kritik der „arroganten Linken“ deutet auch auf eine Spaltung innerhalb der Linken hin, zwischen solchen, die die Ultras in ihrer Gegnerschaft zur Polizei unterstützen können und jenen, die geneigt sind sich der Staatsautorität zu beugen.

Ultras und der Konflikt mit dem Staat

Die Welt der Fußballultras hat sich zu einer einflussreichen Jugendkultur entwickelt, deren DNA den Konflikt mit dem Staat und den staatlichen Institutionen einschließt. Diese Dynamik lässt sich als Reaktion auf tiefgreifende strukturelle Probleme innerhalb der Gesellschaft verstehen.
Diese Analyse der Ultraszene erfasst die Entstehung dieser Jugendbewegung in einem Kontext, der von sozialen und wirtschaftlichen Ungerechtigkeiten geprägt ist. Viele Ultras kommen aus Gemeinschaften, die von wirtschaftlicher Marginalisierung, sozialer Ausgrenzung und einem Mangel an Möglichkeiten geprägt sind. Diese Umstände schaffen eine Atmosphäre des Konflikts und der Frustration, in der sich junge Menschen gegenüber den staatlichen Strukturen abgrenzen.
Der Staat fungiert als Instrument der herrschenden Klasse zur Aufrechterhaltung der bestehenden sozialen Hierarchien und zur Sicherung der kapitalistischen Ordnung. In diesem Kontext kann der Konflikt zwischen den Ultras und dem Staat als eine Art Widerstand gegen diese sozialen und wirtschaftlichen Ungerechtigkeiten betrachtet werden.

Ultras und die politische Rechte

Soziale, politische und wirtschaftliche Umstände, die Unzufriedenheit, Unsicherheit und Angst in Teilen der Gesellschaft schüren, sind natürlich ein perfekter Nährboden für Nationalismus, Rassismus und Autoritarismus. Dies kann von wirtschaftlicher Instabilität über die Wahrnehmung von Migrationsströmen bis hin zu einem Gefühl des kulturellen Identitätsverlustes reichen. Rechte Ultras finden in solchen Momenten oft Anklang bei Menschen, die sich von etablierten politischen Strukturen und gesellschaftlichen Entwicklungen abgewandt fühlen.

Ihr Einfluss innerhalb der Ultra-Bewegung variiert je nach Land und Kontext. In einigen Ländern haben rechte Ultras eine sichtbare Präsenz und können in der Lage sein, eine bedeutende Anzahl von Anhängern zu mobilisieren, während sie in anderen Umgebungen weniger stark vertreten sind. Besonders in Italien, wo beispielsweise Lazio Roms Kapitän Di Canio unter dem Jubel der Irriducibili den rechten Arm zum römischen Gruß in die Höhe streckte, in Griechenland sowie in einigen osteuropäischen Ländern, wie beispielsweise Ungarn oder Polen, besitzen rechte Ultras eine gewisse Sichtbarkeit und Einfluss.

Vielfalt und Entwicklung der Ultras-Kultur

Die Ultras-Kultur hat sich von ihren Ursprüngen in Italien aus zu einer facettenreichen und einflussreichen Bewegung in verschiedenen Ländern Europas entwickelt. Mit ihrer Leidenschaft für den Fußball, ihren spektakulären Choreografien und ihrer starken Gruppenidentität haben die Ultras die Atmosphäre in den Stadien geprägt und sind zu einem wichtigen Bestandteil der Fußballkultur geworden.
Von den politischen Unruhen der 1960er und 1970er Jahre in Italien bis zu den gesellschaftlichen Veränderungen und der Suche nach Identität in anderen europäischen Ländern haben verschiedene Umstände dazu beigetragen, dass sich die Ultras-Kultur entwickeln und ausbreiten konnte. In einer kapitalistischen Welt, die auf der Konkurrenz aller gegen aller beruht, stellen die Ultras eine Gegenkultur dar, in der zehntausende junge Menschen Kollektivität und echte Solidarität erfahren. Gemeinsames Handeln, von Malen an Choreografien, dem Organisieren von Pyroshows bis zu Spendenaktionen für benachteiligte Kinder oder einer gelegentlichen Schlägerei, die Ultras leben davon, dass sie den Fußball nicht nur konsumieren, sondern eine eigenständige Kultur um ihn geschaffen haben.

Das hohe Maß an Kollektivität, Organisiertheit und oftmals auch Gewaltkompetenz führt dazu, dass Ultras ein potenzieller Machtfaktor in politischen Bewegungen sein können. Während der Aufstände am Taksim-Platz in Istanbul 2013 schlossen sich die ansonsten verfeindeten Ultras-Gruppen von Besiktas, Galatasaray und Fenerbahçe zusammen und unterstützten die Platzbesetzer:innen. Plötzlich hatte es die Polizei nicht mehr mit ein paar Studenten zu tun, sondern mit tausenden wütenden jungen Menschen. Ähnliches geschah während der Maidan-Bewegung in der Ukraine. Die Ultras sind insofern ein politisches Kampffeld, ob sie sich eher politisch links oder rechts positionieren, ist von gesamtgesellschaftlichen Faktoren abhängig.