Grexit: Chance oder Bedrohung?
Am 19. Juni 2000 hat der Europäische Rat der EU-Staats- und Regierungschefs dem Beitritt Griechenlands in die Wirtschafts- und Währungsunion zugestimmt. Für die herrschende Klasse war es ein historischer Tag. Nun würde Griechenland, meinte der ehemalige Ministerpräsident Kostas Simitis, nicht mehr „am Rande der Entwicklung stehen“ und könne aktiv und gleichberechtigt „an einer historischen Neuausrichtung in Europa“ teilnehmen.
Zehn Jahre waren seit der Niederlage Russlands im Kalten Krieg vergangen. Am Balkan, wo alle Länder außer Griechenland seit der Konferenz von Jalta unter russischem Einfluss standen, hatte der Wettlauf der westlichen Mächte um die Aufteilung der Beute Jugoslawien den Bürgerkrieg gebracht. In den Ruinen Belgrads war der Rauch der NATO-Bombardierung noch nicht verzogen. Die Kriegsfalken hatten ihre Arbeit erledigt. Jetzt waren die Geier des Marktes an der Reihe, die Leichen zu fressen. Dank dessen, was Simitis als „Erfolg“ bezeichnete, hielten die griechischen Banker, Unternehmer, Börsenmakler und Spekulanten nun ein scharfes Messer in Händen: den harten Euro. Griechenland stand nicht mehr „am Rande der Entwicklungen“. Die Party hatte gerade erst begonnen.
Heute, 15 Jahre später, erscheint das Ganze nicht mehr wie eine Party. Die Banken haben sich in Zombies verwandelt, der Staat hat enorme Schulden, die Produktion ist auf das Niveau von 1990 gesunken und ein Staatsbankrott bedroht das Land. Ist ein Grexit möglich? Können die uns wirklich hinauswerfen? Und was wären die Konsequenzen? Es wäre die Hölle, meinte der berühmte Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Paul Krugmann. Uns würde ein „Drachmageddon“ erwarten, zweistellige Inflationsraten, Isolierung von den Märkten, Lebensmittelknappheit und Dritte-Welt-Armut. Oder ist der Rückzug vom „harten“ Euro und die Rückkehr zur Abwertung der Schlüssel zum Wachstum, wie die Drachme-Fans behaupten?
Können die uns aus der Eurozone werfen?
Die einfache Antwort ist Nein. Rechtlich, sagen einige, gibt es keine Möglichkeit ein Mitglied der Eurozone auszustoßen. Und so ist es. „Was können sie tun?“, fragte Wolfgang Münchau im Februar in der Financial Times und riet der griechischen Regierung, sich den Kreditgebern nicht zu beugen. „Sie können Griechenland nicht aus der Eurozone werfen. Dazu haben sie kein rechtliches Mittel. Und aus der EU können sie Griechenland auch nicht werfen. Dazu benötigen sie die Zustimmung für eine Vertragsänderung oder ein Regelwerk, das Einstimmigkeit erfordert, wie etwa die Verlängerung der Sanktionen gegen Russland.“Aber die Beziehungen zwischen Staaten – auch in der „zivilisierten“ EU – werden nicht über Urkunden oder internationale Gesetze und Regeln bestimmt. Sie haben zwar kein rechtliches Mittel uns hinauszuwerfen, aber sie können Griechenland zwingen „freiwillig“ auszutreten.
Handelsbanken halten, so weit bekannt, nur einen kleinen Teil ihrer Gelder als Einlagen zurück. Sie investieren den Rest in Produkte mit höherem Zinssatz wie Kredite, Staatsanleihen, Pfandbriefe usw. Wenn eine Bank mehr Geld benötigt als sie in ihrer „Schatzkammer“ hat, kann sie das normalerweise von der Zentralbank in Form eines billigen kurzfristigen Kredites bekommen, indem sie ihre eigenen Wertpapiere als Kaution hinterlegt. Die Voraussetzung ist, dass die Zentralbank diese Wertpapiere als Kaution annimmt.
Am 7. Februar, wenige Tage nach dem Wahlsieg von Syriza, hat Mario Draghi, Vorsitzender der Europäischen Zentralbank (EZB), der neuen griechischen Regierung erklärt, dass „die griechischen Anleihen vorübergehend nicht als Kaution für die Liquiditätsversorgung angenommen werden“. Die EZB unterstützt die griechischen Banken zwar weiterhin über die Notfall-Liquiditätshilfe (ELA), aber sie appliziert sie sprichwörtlich mit einer Pipette. Am 22. April hat Draghi zum sechsten Mal innerhalb eines Jahres die Obergrenze des Geldes, das über ELA in das griechische Bankensystem gepumpt werden kann, um 1,5 Milliarden Euro – von 74 auf 75,5 Milliarden Euro – erhöht. Diese Aufstockung reicht knapp aus, damit das Finanzministerium die Raten des ersten Memorandums an den Internationalen Währungsfonds (IWF) bezahlen kann.
Das griechische Bankensystem droht zu ersticken: von den 135 Milliarden Euro Einlagen sind mehr als die Hälfte in rote Kredite „investiert“. Mit anderen Worten, sie sind verschwunden. Der Rest ist an Staatsanleihen und Schatzwechsel gebunden. Die Kassen sind leer. Wenn Draghi den Liquiditätshahn ein wenig zudreht, bricht das griechische Bankensystem zusammen und die Regierung wird kaum Raum für Manöver haben: Grexit wird ihre einzige „Option“ sein.
Möchten unsere Partner Griechenland loswerden?
Die Antwort ist klar Nein. Der Grund ist einfach: Ein Austritt Griechenlands würde ganz Europa „in unbekannte Gewässer“ steuern, wie Draghi Ende April selbst erklärte. Der Bankrott von Lehman Brothers würde wie ein Detail der Geschichte aussehen, im Vergleich zu dem Erdbeben infolge eines Grexits.
Wie die „Märkte“ reagieren, wenn Griechenland gezwungen wird, aus der Eurozone auszutreten, kann niemand voraussagen. Wenn die Ausgangstür einmal geöffnet ist, kann keiner garantieren, dass nach Griechenland keine weiteren „problematischen“ Wirtschaften des europäischen Südens folgen, Portugal oder auch Spanien. Die Spekulanten werden ziemlich sicher ihr Kapital abziehen und sichere Wirtschaften suchen, in denen sie es investieren können.
Aber auch wenn die Machthaber Europas einen magischen Weg finden, die Märkte zu beruhigen und eine plötzliche und verheerende Kapitalflucht zu verhindern, wird der Schaden für die Eurozone riesig sein. Der Euro wird von einer starken, gemeinsamen Europawährung zu einem Instrument fester Wechselkurse zurückgestuft.
Eines der Ziele, das Europas Eliten zum Euro geführt hat, war, sich eine starke „Reserven“-Währung zu verschaffen, die auf den internationalen Märkten mit dem Dollar konkurrieren könnte. Die Wahrheit ist, dass – trotz der Ängste einiger US-Wirtschaftswissenschaftler für die Zukunft des Dollars – dieses Ziel nicht erreicht worden ist: 1998 besaß der Dollar 69% der internationalen Devisenreserven, während die Deutsche Mark und der Französische France zusammen 16% besaßen. 2014 ist der Anteil des Dollars um 3% gesunken, aber der Anteil des Euros war nur 22%. Der Rauswurf eines Mitgliedstaates wäre fast sicher der Todesstoß für diesen Plan.
Trotzdem wäre es ein Fehler zu glauben, dass die möglichen Folgen eine Garantie dafür wären, dass sie uns in keinem Fall zu einem Grexit zwingen werden. Die Geschichte zeigt uns, dass die herrschenden Klassen zu allem bereit sind, wenn ihre Interessen oder ihre Macht in Gefahr ist. Kriege, um ein offensichtliches Beispiel zu bringen, verursachen enorme Kosten, nicht nur in Schmerz und Blut (darum kümmern sich die herrschenden Klassen sowieso nicht), sondern auch in zerstörter Infrastruktur, niedergebombte Industrien und leere Kassen. Das hat aber die großen Mächte nicht daran gehindert, die Menschheit im 20. Jahrhundert in zwei Weltkriege zu führen.
Das letzte, was die Machthaber von Europa heute wollen, ist nachgiebig gegenüber einer Regierung zu erscheinen, die von der Arbeiter_innenbewegung gewählt worden ist. Das „Armdrücken“ in den Verhandlungen kann sehr leicht zu einem Unfall führen, unabhängig vom Willen der einen oder der anderen Seite.
Würde aber vielleicht ein Euroaustritt vorteilhaft für Griechenland sein?
Die Frage ist von vornherein falsch gestellt. Es gibt nicht ein Griechenland, sondern zwei. Einerseits das Griechenland der Chefs, der Banker, der Reeder, der Unternehmer, also der herrschenden Klasse. Auf der anderen Seite steht das Griechenland der Arbeiter_innen, der Arbeitslosen, der Pensionist_innen, der Armen. Ihre Interessen sind genau entgegengesetzt. Und trotz der Theorien, die auch von Teilen der Linken akzeptiert werden, gibt es keinen „nationalen Plan“, der diese Gegensätze überbrücken kann.
Es gibt nicht ein Griechenland, sondern zwei. Auf der einen Seite die Banker. Auf der anderen die Arbeiter.
Der Eintritt in den Euro war eine strategische Entscheidung für die herrschende Klasse. Das „Wirtschaftswunder“ der ersten Jahre nach 2000 wäre nie ohne den Euro erreicht worden. Ohne den Eintritt in die Eurozone hätten die Olympischen Spiele 2004 wahrscheinlich in einer anderen Hauptstadt der Welt stattgefunden. Ohne die „gemeinsame europäische Währung“ hätte die griechische Nationalbank nie die türkische Finansbank kaufen können. Wahrscheinlich würde das Gegenteil passieren: eine türkische Bank würde eine griechische kaufen. Trotz der Krise, die viele von diesen „Erfolgen“ aufgehoben hat, hat die herrschende Klasse in Griechenland ihr Ziel nicht aufgegeben, (nicht nur) wirtschaftlich eine führende Rolle in der ganzen Region einzunehmen. Der Euro ist für sie eine Waffe, und die möchten sie nicht verlieren.
Auf der anderen Seite haben die Arbeiter_innen und die Armen vom Euro nichts gewonnen. Das Versprechen der Regierung Simitis, die starke Währung würde „die griechische Wirtschaft gegen internationale Krisen absichern“, erwies sich als Irrtum. Der Euro hat Griechenland nicht vor dem Wirbelsturm, den der Zusammenbruch von Lehmann Brothers 2008 in der Weltwirtschaft verursacht hat, schützen können.
Heute behaupten einige, dass der Euro sogar weitgehend dafür verantwortlich ist, dass die Krise in Griechenland seit 2010 so heftig geworden ist. Costas Lapavitsas, Professor für Wirtschaftswissenschaft an der Universität London und jetzt Abgeordneter für Syriza, ist der Meinung, dass die harte, gemeinsame Währung die Kluft zwischen den reichen Ländern Zentraleuropas und dem weniger entwickelten Süden enorm vertieft hat. Die einzige Lösung wäre der Austritt aus dem Euro. Das würde der griechischen Wirtschaft die Möglichkeit geben, nach einem kurzen Anpassungszeitraum, wieder zu wachsen.
Schwankungen in den Währungskursen haben, laut Büchern der Makroökonomie, eine Ausgleichswirkung in den Beziehungen zwischen nationalen Wirtschaften. Die Währungen der schwachen, wettbewerbsunfähigen Länder, die ein hohes Handelsdefizit aufweisen (die billigen Importe überwiegen die teuren Exporte), neigen auf den Weltmärkten zu einer Abwertung. Auf der anderen Seite steigt der Wechselkurs der Währungen in den starken, entwickelten Wirtschaften. Von 1971 bis zur Einführung des Euro 1999 wurde die Deutsche Mark um 166% gegenüber dem US-Dollar aufgewertet. Auf der anderen Seite hat die Drachme im gleichen Zeitraum ungefähr 90% ihres Wertes gegenüber dem Dollar verloren. Die Abwertung reduziert die Importe (weil sie teurer werden), erhöht die Exporte, und stellt damit „unsichtbar“ den Ausgleich der Handelsbilanzen wieder her. Den Preis dieses Ausgleichs bezahlen natürlich die Arbeiter_innen und die Armen, für die es schwierig ist zu heizen (Erdöl wird in Griechenland importiert), sich zu kleiden, ihre Wohnung zu sanieren oder ihre Kinder zu bilden.
Der Euro, meinen die Unterstützer des Austritts, habe diesen automatischen Abwertungsprozess verhindert. Die Wettbewerbsfähigkeit der griechischen Wirtschaft ist von 2001 bis 2008 ständig gesunken. Das Handelsdefizit ist ständig größer geworden. Als die Krise ausbrach, war die griechische Wirtschaft zu schwach, um sich zu wehren. Was wir jetzt bräuchten, wäre eine Rückkehr zur nationalen Währung und eine Abwertung. Die verlorene Wettbewerbsfähigkeit würde wiedergewonnen werden und die Wirtschaft könnte wieder wachsen.
Drachmageddon
Dieser Ansatz hat zwei grundsätzliche Probleme. Erstens wird die Größe der Krise unterschätzt. Selbst der IWF ist in seinem letzten Bericht über die Lage der Weltwirtschaft sehr pessimistisch. Wie Alex Callinicos erklärt: „Die Studie … behauptet, dass die Wirtschafts- und Finanzkrise das globale Wachstum dauerhaft beschädigt hat. Die Studie beobachtet das potenzielle Wachstum, das heißt die Produktionsmenge, die erreicht werden kann, ohne die Inflation zu erhöhen. Die Studie berechnet voraus, dass das potenzielle Wachstum in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften lediglich von einem Durchschnitt von 1,3% in den Jahren 2008-2014 auf 1,6% in den Jahren 2015-2020 steigen wird. Das liegt weit unter dem Vorkrisenwert von 2,25% in den Jahren 2001-2007.“
Griechenland ist der Gipfel des Eisbergs, nicht der Ausnahmefall. Das wirkliche Problem ist die Krise und nicht die griechischen „Besonderheiten“ – die niedrige Produktivität oder die feste Währung. Es wäre utopisch zu glauben, dass die griechische Wirtschaft unter diesen Umständen nur wegen einer Währungsabwertung wächst. Außerdem ist der Euro gegenüber dem Dollar im letzten Jahr entwertet worden, aber das hat nicht zu einem Wachstum geführt.
Das zweite und größte Problem ist, dass die Hoffnungen der Arbeiter_innen und Armen an eine „Gesundung“ des Systems geknüpft werden. Auch wenn irgendwann der Aufschwung kommt, werden die Kapitalisten ihre Profite nicht mit den Arbeiter_innen teilen.
Der Austritt aus dem Euro ist einer der Kernpunkte des antikapitalistischen Programms von Antarsya. Dieser Austritt ist aber nicht Teil eines Plans für einen „arbeiterfreundlichen“ Aufschwung der griechischen Wirtschaft. Das Ziel des antikapitalistischen Programms ist der Kampf, der Bruch mit den Kapitalisten und ihren Institutionen. Wir wollen nicht einen griechischen Banker, wie Papadimos, anstelle von Draghi. Wir möchten, die Kontrolle der Arbeiter_innenklasse über die Währung. Der Schlüssel des antikapitalistischen Programms ist die Arbeiter_innenkontrolle.
Die „Märkte“ und unsere „Partner“ in der EU werden versuchen, Griechenland die Hölle heiß zu machen, wenn wir uns für Schuldenstreichung, Enteignung der Banken und Großkonzerne, Austritt aus Euro und EU entscheiden, wie Antarsya es vorschlägt. Die Spekulanten werden alles bis zum letzten Euro aus den Banken klauen. Die Außenministerien werden „Reisehinweise“ ausgeben, wohin man in Griechenland nicht reisen sollte. Die multinationalen Konzerne werden den Verkauf von Brennstoffen, Medikamenten und Ersatzteilen stoppen. Die USA haben ein halbes Jahrhundert „gebraucht“, um Kuba den Sturz der US-freundlichen Batista-Diktatur zu verzeihen. Die „Institutionen“ werden kaum freundlicher mit uns umgehen, wenn wir ihnen im Kampf gegenübertreten.
Unser Optimismus verlässt sich auf das Vertrauen auf die Solidarität der werktätigen Klassen von Europa.
Können wir in dieser Auseinandersetzung gewinnen? Die Antwort ist eindeutig Ja. Unser Optimismus basiert nicht auf einer erfundenen oder realen Überlegenheit unseres Programms. Er verlässt sich auf die Solidarität der werktätigen Klassen von Europa. Wir haben keine Illusionen, dass man in Griechenland einen besseren, menschlicheren Kapitalismus aufbauen kann, der nicht von der internationalen Krise beeinflusst wird. Wir glauben auch nicht, dass wir Griechenland in ein sozialistisches Paradies umwandeln können, auf einer isolierten Insel der Arbeiter_innendemokratie im Ozean des kapitalistischen Elends. Griechenland kann aber die Schwachstelle eines verfaulten Systems werden, das der Menschheit nichts als Krisen, Armut, Rassismus und Kriege anzubieten hat.
Die herrschenden Klassen werden versuchen ihr Bedrohungsszenario „Drachmageddon“ zu verwirklichen. Aber um das zu tun, müssen sie einen offenen Konflikt mit ihren eigenen Arbeiter_innenklassen riskieren. Und diese „Waffe“ ist übermächtig.
Dieser Artikel ist zuerst im griechischen Magazin Sozialismus von unten erschienen. Übersetzung aus dem Griechischen: Lefteris Arabatzis Sotiris Kontogiannis ist führendes Mitglied der Sozialistischen Arbeiterpartei Griechenlands (SEK) und Aktivist in Bündnis der radikalen Linken Antarsya, einer Oppositionspartei zu Syriza.