Mit TTIP-Protesten gegen das System

Die globalisierungskritische Bewegung ist 15 Jahre alt. Am weltweiten Aktionstag gegen das Freihandelsabkommen TTIP hat sie ein überraschend lautstarkes Lebenszeichen von sich gegeben. Kapitalismuskritik hat dabei eine große Rolle gespielt, auch wenn sie nicht offen geäußert wurde.
1. Mai 2015 |

Allein in Wien demonstrierten am 18. April über 12.000 Menschen und weltweit gab es in 46 Ländern über 740 Aktionen wie Demonstrationen, Informationsveranstaltungen und Diskussionsrunden. Die Befürworter der neoliberalen Globalisierung sind seit jeher bemüht, diese Bewegung zu verniedlichen und lächerlich zu machen. Im Falle der Proteste gegen TTIP pickten sie die Kritik an der Zulassung von Chlorhühnchen heraus, um die Proteste als Spinnerei von überdrehten Obskuranten abzutun. Aber es geht um viel mehr als um amerikanische Chlorhühnchen in europäischen Supermärkten.

Kapitalismuskritik

Die Bewegung, welche im September 1999 in Seattle ihre offizielle Geburtsstunde feierte, konnte seit 15 Jahren immer wieder der Skepsis von großen Teilen der Bevölkerung gegen unser Wirtschaftssystem Ausdruck geben. Von Protestwelle zu Protestwelle hat diese Bewegung neue Kreise und ganze Generationen politisiert und radikalisiert. Der Fokus der Proteste hat sich über diese lange Zeit ständig gewandelt, die grundsätzliche Systemkritik dahinter blieb immer bestehen.

Neoliberale Globalisierung ist eine Strategie der herrschenden Eliten, die schon in den Siebzigerjahren begann, um die Profitabilität der Industrie wieder herzustellen. Als der lange Nachkriegs-Boom Ende der 1960er zu Ende ging, reagierten die Eliten mit der Rücknahme von Wohlfahrtsmaßnahmen in den eigenen Ländern, mit Angriffen auf die Löhne und Sozialleistungen und mit immens brutaler Ausbeutung der Weltregionen, die als Dritte Welt bezeichnet werden. Dementsprechend wandten sich die frühen Proteste anfangs in erster Linie gegen Globalisierung, aber sie waren dennoch viel mehr als nur eine globalisierungskritische Bewegung. Indem sie ein scheinbares Allheilmittel des kapitalistischen Systems infrage stellten, waren sie gleichzeitig eine Bewegung gegen das System, eine wahre antikapitalistische Bewegung.

„People before profit“ (“Menschen vor Profite”) war auch 1999 in Seattle der Hauptslogan

Wie stark das von den Aktivist_innen selbst und von den Beobachter_innen wahrgenommen wird, hängt von den dominierenden politischen Kräften hinter den Protesten und von den Slogans ab, die die Proteste beherrschen. Das Leittransparent der Demonstration in Wien verlautete „Mensch und Umwelt vor Profit, TTIP stoppen, CETA stoppen“. „People before profit“ war auch 1999 in Seattle der Hauptslogan, weshalb es immer berechtigt war, von antikapitalistischen Protesten zu sprechen.

TTIP: Eine echte Bedrohung

Ein Beweis dafür, wie sehr es bei TTIP um das Gegenteil geht, nämlich um „Profite vor Menschen“, ist die geplante Implementierung von Investorenschutzklauseln (ISDS). ISDS soll multinationalen Unternehmen erlauben, Staaten auf Schadenersatz für entgangene Profite zu verklagen, wenn national ergriffene Maßnahmen an ihren Gewinnen nagen. Schiedsgerichte, vor welchen Konzerne Staaten klagen können, existieren heute schon.

Beispielsweise wurde Uruguay vom Tabakkonzern Phillip Morris auf einen Schadenersatz von 25 Millionen US-Dollar verklagt, nachdem die berühmten Warnhinweise auf Zigarettenpackungen angebracht wurden. Das in Frankreich beheimatete Müllentsorgungsunternehmen Veolia klagte Ägypten vor dem Schiedsgericht ICSID bei der Weltbank wegen der Erhöhung des Mindestlohns von 400 auf 700 ägyptische Pfund: von 41 auf 72 Euro pro Monat! Diese Erhöhung erkämpften die ägyptischen Arbeiter_innen im Zuge der Revolution von 2011.

Arbeiter – vergessene Macht

Da Kapitalismus in erster Linie ein System ist, in dem Profite durch die Ausbeutung von Arbeit erzielt werden, brauchen solche Proteste die aktive Beteiligung der Arbeiter_innenbewegung. Eine große Schwäche der Protestbewegungen ist, dass Arbeiter_innen aus den Betrieben heraus nie mobilisierten und teilnahmen.

Die größte potentielle Stärke von Arbeiter_innen ist die Abhängigkeit der Kapitalisten von ihrer Arbeit. Mit Arbeitsniederlegung haben Lohnabhängige die Möglichkeit, die Profite zum Erliegen zu bringen. Sie besitzen somit die mächtigste aller Waffen im Kampf gegen Kapitalismus. Wenn man diese potentielle Macht in die Proteste einbinden möchte, muss man die Auswirkungen von TTIP speziell auf Arbeiter_innen thematisieren.

Der Verfasser/die Verfasserin hat den Artikel mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt.