System Change – Haben wir noch Zeit?

„Zeit“ ist immer ein entscheidender Faktor in der Politik und Geschichte, aber er hat noch nie so eine wichtige Rolle gespielt wie beim Klimawandel. Während einige argumentieren, dass uns die Zeit davonläuft, plädieren wir für eine Veränderung des Wirtschaftssystems. Dieser Artikel von John Molyneux wurde zuvor im Global Ecosocialist Network veröffentlicht und von Rebecca Nosek für Die Freiheitsliebe übersetzt.
23. November 2020 |

Die Warnung des IPCC-Berichts vom Oktober 2018, dass die Welt noch zwölf Jahre Zeit hat, um eine Klimakatastrophe zu vermeiden, war zweifellos ein wesentlicher Faktor für das Auslösen einer globalen Welle des Klimaaktivismus. Insbesondere die Person von Greta Thunberg sowie Massenschulstreiks und die Extinction-Rebellion-Bewegung stachen hervor.
Gleichzeitig ist klar, dass diese Warnung von verschiedenen Personengruppen auf unterschiedliche Weise „gehört“ und interpretiert werden konnte und wurde. Ich möchte einige dieser Interpretationen und ihre Auswirkungen betrachten, insbesondere in Bezug auf die Frage, ob noch die Zeit bleibt, eine Systemänderung herbeizuführen, oder ob es aufgrund der kurzen Zeit notwendig ist, sich auf Veränderungen zu konzentrieren, die innerhalb des vom Kapitalismus gegebenen Rahmens umgesetzt werden können.

Opportunismus & Greenwashing

Bevor ich zu diesem Punkt komme, möchte ich jedoch darauf hinweisen, dass viele opportunistische Politiker_innen die „zwölf Jahre Warnung“ anders aufgefasst haben als Greta und ihre Anhänger. Zwölf Jahre sind für sie tatsächlich eine sehr lange Zeit: drei Amtszeiten eines US Präsidenten, zwei volle Parlamentsperioden in Großbritannien und in vielen anderen Ländern. In anderen Worten: genug Zeit, um ihre Ambitionen zu erfüllen, sich einen Platz in den Geschichtsbüchern oder zumindest eine Pension und mehrere Verwaltungsratsmandate zu sichern, bevor überhaupt etwas Substanzielles getan werden muss.

In der Praxis bedeutet dies, dass verschiedene Kommissionen aufgestellt werden, einige Handlungspläne erstellt werden, an einigen Konferenzen teilgenommen wird und ein gewisses Maß an Greenwashing betrieben wird. Solltest du der CEO eines großen Öl-, Gas- oder Automobilunternehmens sein, trifft für dich dasselbe zu.
Am gegenüberliegenden Ende des Spektrums befanden sich viele Menschen, vor allem junge Leute, welche die Warnung so verstanden, dass es buchstäblich nur zwölf Jahre gebe, um das globale Aussterben zu verhindern. Das sind keine äquivalenten Fehlinterpretationen: Die erste Interpretation ist äußerst zynisch und gleichermaßen für Mensch und Natur schädlich, die zweite ist naiv aber gut gemeint. Beide bleiben jedoch Fehlinterpretationen des Berichts und des Klimawandels.

Der Klimawandel ist kein Ereignis, das möglicherweise im Jahr 2030 eintreten kann oder nicht und das durch Sofortmaßnahmen abgewendet werden könnte, sondern ein Prozess der bereits im Gange ist. Jede Woche, jeder Monat oder jedes Jahr, in denen die CO2-Emissionen nicht reduziert werden, verschärft das Problem und erschwert die Bewältigung. Aus dem gleichen Grund gibt es keine absolute Frist, nach welcher es zu spät wäre, etwas zu tun und wir genauso gut alle Hoffnung fallen lassen könnten.
Der Fokus des IPCC-Berichts war nicht auf das „Aussterben“, sondern hauptsächlich darauf gelegt, was wir tun müssen, um die globale Erwärmung auf 1,5° Celsius über dem vorindustriellen Niveau zu halten, und was die wahrscheinlichen Auswirkungen wären, wenn wir zulassen, dass gar 2° erreicht würden.

Was der Bericht in seiner Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger tatsächlich feststellte: Es wird geschätzt, dass menschliche Aktivitäten ungefähr eine globale Erwärmung von etwa 1,0 °C über dem vorindustriellen Niveau verursacht haben, vermutlich im Bereich von 0,8–1,2 °C. Die globale Erwärmung erreicht vermutlich zwischen 2030 und 2052 die 1,5 Grad-Celsius-Marke, wenn sie weiterhin mit der aktuellen Rate zunimmt (hohe Wahrscheinlichkeit). Außerdem wird, wie ihr euch denken könnt, ziemlich offensichtlich, hinzugefügt: Klimabezogene Risiken für Gesundheit, Lebensgrundlage, Ernährungssicherheit, Wasserversorgung, menschliche Sicherheit und Wirtschaftswachstum werden mit einer globalen Erwärmung auf 1,5° Celsius voraussichtlich zunehmen und bei einer Erwärmung auf 2° Celsius weiter steigen.

Ich zitiere diese Passagen nicht, weil ich den IPCC-Bericht als heilige Schrift oder auf irgendeine andere Weise als das letzte Wort in dieser Angelegenheit betrachte. Ganz im Gegenteil, mir ist klar, dass dieser Bericht in seinen Vorhersagen konservativ war. Das darf in Anbetracht dessen, dass seine Entwicklung einen Konsens unter tausenden Wissenschaftlern erforderte, nicht verwundern. In der Realität schrei­ten die globale Erwärmung und vor allem ihre Aus­wirkungen schneller voran, als vom IPCC erwartet.

Das Countdown-Rätsel

Meine Absicht ist es viel mehr zu zeigen, dass es sich laut IPCC und jeder ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Klimawandel nicht um eine Klippe handelt, von der wir 2030 alle fallen, oder um ein anderes genau vorhersehbares Datum, sondern um einen intensivierenden Prozess mit zunehmend katastrophalen Auswirkungen. Innerhalb dieses Prozesses wird es höchstwahrscheinlich Kipppunkte geben, an denen sich das Tempo des Wandels beschleunigt und bestimmte Verschiebungen irreversibel werden. Niemand weiß genau, wann dies soweit ist, und selbst dann werden wir immer noch über einen Prozess sprechen und nicht über das vollständige Aussterben. Ein korrektes, wissenschaftlich fundiertes Verständnis dieses Prozesses ist von entscheidender Bedeutung. Als Aktivist ist es nicht hilfreich, sich an einer Art Countdown aufzuhängen – jetzt haben wir nur noch zehn Jahre, neun Jahre, acht Jahre … übrig, um den Planeten zu retten – als gäbe es einen festen Zeitplan. Schließlich wollen wir auch nicht an den Pranger gestellt werden, weil wir zu oft falschen Alarm ausriefen, wenn die Welt dann doch nicht unterging.

Zur Beantwortung der entscheidenden Frage, ob für einen Systemwechsel noch Zeit bleibt, ist das wissenschaftliche Verständnis eine wichtige Grundlage. Das Argument, es gebe nicht ausreichend Zeit, einen „Systemwandel“ herbeizuführen, womit ich den Sturz des Kapitalismus meine, ist schon seit geraumer Zeit im Umlauf, lange vor der Zwölf-Jahre-Warnung. Ich erinnere mich, dass das Argument in der Campaign Against Climate Change, als ich in den frühen Neunzigern zum ersten Mal damit zu tun hatte, gewaltsam (und wütend) gegen einen eher glücklosen Trotzkisten vorgebracht wurde. „Es bleibt keine Zeit, um auf deine Revolution zu warten“, wurde ihm entgegnet.

Natürlich kann das „Keine-Zeit“-Argument jetzt als Deckmantel von Pro-Kapitalisten genutzt werden, ebenso aber auch guten Gewissens von Menschen, die es für eine praktische Möglichkeit halten, um den Kapitalismus zu ersetzen. Als Beweis dafür zitiere ich Alan Thornett, der sein Leben lang Sozialist ist. In seinem Buch Facing the Apocalypse: Arguments for Ecosocialism (dt. etwa „Vor der Apokalypse: Argumente für Ökosozialismus“) schreibt Alan: „Die Standardlösung, die von den meisten radikalen Linken vertreten wird … ist der revolutionäre Sturz des globalen Kapitalismus – umgesetzt innerhalb der nächsten zwölf Jahre, denn in der Zeit müssen wir es geschafft haben.

Ein solcher Ansatz ist maximalistisch, links und nutzlos. Als Sozialisten können wir alle mit beiden Händen für die Abschaffung des Kapitalismus stimmen, denn das ist natürlich auch unser langfristiges Ziel. Doch als Antwort auf die globale Erwärmung innerhalb der nächsten 12 Jahre macht das keinen Sinn. Dies stellt eine ‚Glaubwürdigkeitslücke‘ dar: Während der katastrophale Klimawandel tatsächlich vor der Türe steht, kann dasselbe kaum glaubwürdig von der globalen sozialistischen Revolution gesagt werden – es sei denn ich habe irgendwas verpasst. Es mag nicht unmöglich sein, doch liegt sie als Aussicht auf eine Antwort auf die globale Erwärmung und den Klimawandel in weiter Ferne.

Um es klar auszudrücken: Wenn der Umsturz des globalen Kapitalismus in den verbleibenden zwölf Jahren die einzige Lösung für die globale Erwärmung und den Klimawandel ist, dann gibt es keine Lösung für die globale Erwärmung und den Klimawandel.“
Alan hat hier das Argument, dass ich anfechten möchte, sehr deutlich zum Ausdruck gebracht.

Reform oder Revolution oder beides?

Die erste Sache, die gesagt werden muss, ist, dass für ernsthafte Sozialist_innen und Marxist_innen (beginnend mit Marx, Engels und Rosa Luxemburg) der Kampf um die Revolution dem Kampf um Reformen in keiner Frage entgegengesetzt ist. Vielmehr ist Revolution etwas, das aus dem Kampf um konkrete Forderungen hervorgeht. So wie Marxist_innen die Überzeugung, die einzige Lösung gegen Ausbeutung sei die Abschaffung des Lohnsystems, mit der Unterstützung des gewerkschaftlichen Kampfes für Lohnerhöhungen und bessere Arbeitsbedingungen verbinden, so können sie dies auch im Kampf um Klimagerechtigkeit: unmittelbare Forderungen wie kostenloser öffentlicher Verkehr, fossile Brennstoffe im Boden zu belassen und massive Investitionen in erneuerbare Energien mit gleichzeitigem Eintreten für die ökosozialistische Revolution.
Auf diese Weise wird die Möglichkeit eines ökologisch nachhaltigen Kapitalismus auf die Probe gestellt.

Protest gegen die ÖMV-Konferenz in Wien. Wollen wir den Klimawandel noch abmildern, braucht es einen sofortigen Ausstieg aus Fossilen Brennstoffen. Foto: Franziska Marhold

Trotz dieser notwendigen Antwort müssen wir das Problem weiter ausloten Wenn die Revolution als zu erringende Lösung zu weit entfernt und zu unrealistisch erschiene, sollten Klimaaktivist_innen praktisch ihre ganze Energie darauf konzentrieren, Reformen zu gewinnen, anstatt für die Revolution zu argumentieren und sich nur für diese zu organisieren. Darüber hinaus würde der Schwerpunkt überwiegend auf Reformen in nur dieser Frage liegen. Was wäre – außer einer abstrakten Moral – der Sinn, sich auf Themen wie Arbeitnehmerrechte, Antirassismus, Reproduktionsrechte von Frauen, LGBTQ+-Rechte usw. zu fokussieren, wenn in den nächsten Jahren doch das Überleben der gesamten Menschheit auf dem Spiel steht?

Wenn jedoch angenommen wird, dass sich der Kapitalismus in dieser Hinsicht als nicht oder nur unzureichend reformierbar erweist, ist es notwendig, ökosozialistische Kampagnen mit revolutionärem Aktivismus, Propaganda und Organisation auf einer breiteren Front zu verbinden. Die Revolution erfordert eine Massenmobilisierung der arbeitenden Bevölkerung zu zahlreichen Themen und angesichts der zahlreichen Teile-und-herrsche-Strategien bedarf es ihrer Vereinigung.
Folglich stellen sich drei ganz reale Fragen:

  1. Wie wahrscheinlich ist es, dass der Klimawandel durch Reformen auf der Grundlage des Kapitalismus gestoppt oder eingedämmt werden kann?
  2. Wie „fern“ ist die Möglichkeit einer sozialistischen Revolution?
  3. Gibt es Alternativen zu dieser binären Welt?
    Bei der ersten Frage haben ich und andere Ökosozialisten (insbesondere John Bellamy Foster, Ian Angus, Michael Lowy, Martin Empson, Amy Leather usw.) argumentiert, dass die Möglichkeit, kapitalistisch mit dem Klimawandel umzugehen, im Extremfall gering ist, sei es in zwölf, zwanzig oder in vierzig Jahren.
    Einfach ausgedrückt ist der Kapitalismus ein System, das von Natur aus und unaufhaltsam durch wettbewerbsfähige Kapitalakkumulation auf Kollisionskurs mit der Natur getrieben wird. Die Industrie fossiler Brennstoffe spielt bei dieser Kapitalakkumulation eine derart zentrale Rolle, dass es keine realistische Aussicht darauf gibt, der Kapitalismus könnte seine Abhängigkeit von ihr beenden.

Wie sieht Revolution aus?

Bei der zweiten Frage muss ich mir eingestehen, dass die Möglichkeit einer internationalen sozialistischen Revolution in der Tat sehr gering erscheint, wenn die nächsten zwölf Jahre der unmittelbaren Vergangenheit ähneln, beispielsweise den letzten fünfzig Jahren. Der Umstand des Klimawandels garantiert jedoch, dass das nächste Jahrzehnt NICHT der Vergangenheit ähneln wird. Im Gegenteil, genau die Bedingungen, die durch die globale Erwärmung hervorgerufen werden – zunehmend unerträgliche Hitze, Dürren, Brände, Stürme, Überschwemmungen usw. – werden das Bewusstsein der Mehrheit der Menschen für die Notwendigkeit, den Kapitalismus zu beenden, und für die Möglichkeit einer Revolution verändern.

Die Tatsache, dass die sich verschärfende Klimakrise von einer umfassenderen Umweltkrise (in einer Vielzahl von Formen), sich verschärfenden und wiederkehrenden Wirtschaftskrisen (wie derzeit offensichtlich) und zunehmend internationalen geopolitischen und militärischen Spannungen (wie zum Beispiel mit China und Russland) begleitet wird, hat einen weiteren großen Einfluss. Hier ist die Tatsache, die zu Beginn dieses Artikels festgestellt wurde, dass die „zwölf Jahre“ keine genaue oder endgültige Frist sind und nie sein können, sehr wichtig. Wenn der Kapitalismus, wie ich es für überwältigend wahrscheinlich halte, nicht in der Lage ist, die Erwärmung auf 1,5 °C zu begrenzen, bedeutet das nicht, wie Thornett meint, dass das Spiel aus und der Kampf verloren sei. Es bedeutet, dass sich alle oben beschriebenen Bedingungen und Katastrophen ver­schärfen und sich dabei die Wahrscheinlichkeit von Massenaufständen und Revolutionen erhöht.

Viele Menschen können sich zwar durchaus eine Revolution in einem Land vorstellen, doch erscheint ihnen die Idee einer internationalen oder globalen Revolution nur wenig plausibel. Dies erscheint in der Tat äußerst unwahrscheinlich, wenn unter internationaler Revolution eine gleichzeitige weltweit koordinierte Rebellion verstanden wird. Dies war jedoch nie das Szenario, das von Befürworter_innen der internationalen Revolution ins Auge gefasst wurde. Es ist vielmehr so, dass sich die Revolution in einem Land – Brasilien oder Ägypten, Irland oder Italien – in einer langen aber kontinuierlichen Reihe von Kämpfen auf andere Länder ausbreiten könnte und würde. Dies ist eine Aussicht, die durch die Erfahrung der jüngsten Welle des Kampfes tatsächlich verstärkt wird.

Der Arabische Frühling löste 2011 als Kettenreaktion zunächst eine Reihe von Aufständen von Tunesien nach Ägypten, Libyen, Bahrain und Syrien aus, bevor auch kleinere, aber immer noch bedeutende Revolten wie die Indignados in Spanien oder Occupy in den USA davon inspiriert wurden. Dann gab es 2019 eine Welle von Massenaufständen auf der ganzen Welt – die französischen Gelbwesten, Sudan, Haiti, Hongkong, Algerien, Puerto Rico, Chile, Ecuador, Irak, Libanon usw. Wichtig war auch, dass sich die Schülerstreiks weltweit verbreiteten und in diesem Jahr sogar mitten in COVID-19 Black-Lives-Matter-Demonstrationen stattfanden.

Peoples Climate March in Wien, April 2017

Das macht deutlich, dass sich in der heutigen globalisierten Welt Revolten mit erstaunlicher Reichweite und Schnelligkeit international ausbreiten können. Die internationalen Auswirkungen einer sozialistischen Revolution in einem Land wären immens. Diese wären umso größer, wenn die Revolution – und so wird es auch sein – ein starkes ökologisches und gegen den Klimawandel gerichtetes Element aufweist. Denn unabhängig von den vergangenen Debatten über den Sozialismus in einem Land wird klar sein, dass keine Revolution in Südafrika oder Frankreich, Indonesien oder Chile in der Lage sein wird, den Klimawandel zu bekämpfen, während die USA, China, Russland und Indien ihre Geschäfte wie gewohnt fortsetzen. Der Klimawandel ist ein internationales Thema wie kein anderes in der Geschichte.

Sozialismus oder Barbarei

In Bezug auf die Frage nach anderen Alternativen, um den Kapitalismus entweder nachhaltig zu machen oder ihn mittels Revolution zu stürzen, gibt es zwei, die ins Auge springen: Es gibt die Strategie, den Kapitalismus durch den Gewinn einer Parlamentswahl in den Sozialismus zu überführen – was man die Corbyn-Strategie nennen könnte. Oder es gibt die „Alternative“ der faschistischen/autoritären Barbarei. Die erste ist leider illusorisch und die zweite ist bedauerlicherweise nur allzu real.

Was ich (in seiner jüngsten Ausprägung) die Corbyn-Strategie genannt habe, ist in der Tat sehr alt und geht zumindest auf Karl Kautsky und die Sozialdemokratische Partei Deutschlands vor dem Ersten Weltkrieg zurück. Sie wurde zahlreichen praktischen Tests unterzogen – mit katastrophalen Konsequenzen, ob in Deutschland selbst, in Italien während der Roten Jahre, in Chile 1970–1973, oder in jüngerer Zeit mit Syriza in Griechenland oder eben mit Corbyn (außer dass Corbyn den notwendigen Wahlsieg nicht erringen konnte). Oberflächlich betrachtet scheint diese Strategie besser umsetzbar und plausibler als die Revolution zu sein, doch in Wirklichkeit ist sie von Grund auf fehlerbehaftet. Die bestehende kapitalistische, herrschende Klasse wird weder in einem Land noch international aufgrund eines sozialistischen Wahlsiegs freiwillig ihre Macht abgeben.
Im Gegenteil: Sie wird ihre gesamte wirtschaftliche Macht (durch Investitionsstreiks, Kapitalflucht, den Run auf Währungen usw.), ihre soziale und ideologische Hegemonie, insbesondere durch die Medien, und vor allem ihre Kontrolle über den Staat einsetzen, um die potenzielle sozialistische Regierung auf Trab zu bringen oder sie, wenn nötig, zu zerstören.

Eine solche Sabotage könnte nur durch die revolutionäre Mobilisierung der arbeitenden Bevölkerung bekämpft und überwunden werden. Deshalb ist diese Option trotz aller progressiven Absichten eine Illusion. Sie wird entweder zu der Art Revolution werden, die sie eigentlich überflüssig machen sollte – oder sich in Luft auflösen.
Wenn es um die faschistische/autoritäre Option geht, wissen wir aus bitterer Erfahrung – den Erfahrungen Italiens, Deutschlands, Spaniens, Portugals, Chiles und anderswo – dass dies eine echte Möglichkeit ist und in vielerlei Hinsicht die Kehrseite der Medaille des Scheiterns der reformistischen Option. Und wenn wir uns heute, wo das kapitalistische System in einer mehrdimensionalen Krise gefangen ist, in der Welt umsehen, können wir in vielen verschiedenen Ländern eine wachsende politische Polarisierung und die Bereitschaft der extremen Rechten beobachten. Es ist eine furchtbare Tatsache, dass drei große Länder (die USA, Brasilien und Indien) unter rechtsextremer, wenn auch nicht vollständig faschistischer Kontrolle stehen und dass eine beträchtliche Anzahl weiterer Länder von hochgradig autoritären Regimen regiert wird.

Mit zunehmender Klimakrise und den damit verbundenen Klimaflüchtlingen wird die autoritäre/faschistische Option für in Panik geratene herrschende Klassen und einige ihrer Anhänger in der Mittelschicht immer attraktiver. Auf lange Sicht wird der Faschismus die globale Erwärmung nicht aufhalten, doch könnte dieses Scheitern auf der anderen Seite eines Ozeans der Barbarei liegen. Um auf die Frage zurückzukommen, ob es noch Zeit für einen Systemwechsel gibt: Niemand kann präzise die Zukunft vorhersagen, doch ist das mit Abstand wahrscheinlichste Szenario, dass die sich beschleunigende Klima- und Umweltkrise den Klassenkampf und die politische Polarisierung auf breiter Front verschärfen wird. Dieser Prozess wird zunehmen, wenn sich die Welt der 1,5°-Celsius-Schwelle nähert und sich nach dem Überschreiten weiter fortsetzen. Die Bewegung muss sich nicht nur damit befassen, wie wir den Klimawandel verlangsamen oder aufhalten, sondern auch wie wir mit den verheerenden Auswirkungen umgehen: mit Barbarei oder Solidarität?

Der Kapitalismus in all seinen Formen wird sich zunehmend der Barbarei zuwenden. Nur ein Systemwechsel – der Ersatz des Kapitalismus durch den Sozialismus – wird eine Antwort erlauben, die auf der arbeitenden Gesellschaft und der menschlichen Solidarität beruht.