Gaza: Hamas’ Aufstieg zur Macht
Die Wurzeln der Hamas gehen auf Gazas islamistische Vereine und Wohltätigkeitsorganisationen zurück, die Aktivisten in den 1970er Jahren unter dem Einfluss der Muslimbruderschaft Ägyptens gründeten. Während der Jahrzehnte, als Fatah und die linken nationalistischen Strömungen die Führung der palästinensischen Bewegung dominierten, bauten islamistische Führer wie Scheich Ahmed Jassin ihre Unterstützerbasis auf andere Weise auf.
Sie predigten persönliche Frömmigkeit, versuchten, sich durch Wohltätigkeitsarbeit eine breite Basis zu verschaffen und konkurrierten mit säkularen Nationalisten um die Kontrolle über Berufsverbände. Ihr vorrangiges Ziel war, Palästinenser und Palästinenserinnen für eine »islamische« Lebensführung zu gewinnen.
Die Explosion der Intifada im Dezember 1987 veranlasste eine dramatische Verschiebung in den Taktiken der islamistischen Aktivisten, die nunmehr ihre ganzen Kräfte in die Mobilisierung für den Volksaufstand warfen.
Im Zuge der Intifada fiel die Kritik der islamistischen Bewegung an der Führung der PLO wegen ihrer Kompromisse mit Israel und seinen Unterstützern in den USA immer schärfer aus. Das Osloer Abkommen hatte die Islamisten zunächst marginalisiert, aber die wachsende Unzufriedenheit der Palästinenser mit dem »Friedensprozess« führte zu wachsender Unterstützung für die Hamas.
Während Grenzschließungen die palästinensische Wirtschaft abwürgten und neue israelische Siedlungen in halsbrecherischer Geschwindigkeit expandierten, schien die Hamas eine alternative Strategie zu jener der Fatah anzubieten.
„Wenn die IDF in den Gazastreifen einmarschiert, hat die Hamas den Heimvorteil – und sie ist bereit.“
Devorah Margolin, Washington Institute for Near East policy
Als im Jahr 2000 erneut ein Aufstand ausbrach, und Israel mit brutaler Gewalt reagierte, startete die Hamas eine militärische Offensive gegen die Besatzungsmacht. Der Bewegung nahestehende Selbstmordattentäter griffen weit außerhalb der besetzten Gebiete an, womit sie den Horror von Krieg und Besatzung in das Herz Israels trugen.
Die Militärtaktiken der Hamas waren ein Ausdruck des enormen zahlen- und ressourcenmäßigen Ungleichgewichts zwischen israelischen und palästinensischen Kräften. Sie standen auch in der langen Tradition palästinensischer Guerillaaktionen, mit denen Fatah und linke Strömungen der PLO Jahrzehnte zuvor begonnen hatten.
Manche Teile der Fatah setzten ihren bewaffneten Kampf gegen Israel ebenfalls fort, aber ihre Dominanz im Sicherheitsapparat der PA (Palästinensische Autonomiebehörde) schuf einen unmöglichen Widerspruch: Sollte Fatahs Führung auf die PA und den Machtapparat verzichten, die ihnen das Oslo-Abkommen in die Hand gab, oder aber den Widerstand gegen Israel aufgeben? Sie entschieden sich dafür, den Widerstand aufzugeben und das Schlachtfeld weitgehend der Hamas zu überlassen.
Hamas erwies sich auch als effektive Herausforderin der Fatah bei Wahlen. Sie gewann die Parlamentswahlen von 2006 haushoch und unterbreitete daraufhin sofort das Angebot eines langfristigen Waffenstillstands. Die Antwort der USA, Israels und Ägyptens war, zusammen mit der Fatah gegen die von Hamas angeführte Einheitsregierung zu konspirieren. Nach einem misslungenen Staatsstreich durch die von der Fatah kontrollierten Sicherheitskräfte in Gaza, übernahm Hamas die Kontrolle über den Streifen, nur um mit einer allumfassenden militärischen und wirtschaftlichen Blockade konfrontiert zu werden, die von Israel verhängt und durch Ägypten umgesetzt wurde.
Währenddessen erhöhte die von der Fatah kontrollierte Autonomiebehörde den Druck auf Hamas, weigerte sich, die Löhne von staatlichen Bediensteten in Gaza auszuzahlen, und kollaborierte mit Israel, um die Stromlieferungen in den Streifen zu kappen. Die sich verschärfende Konkurrenz auf regionaler Ebene zwischen Saudi Arabien und seinen Verbündeten mit dem Iran und dessen Verbündeten machte die Lage für Hamas nur noch schwieriger.
Katar hatte die Hamas-Regierung mit lebenswichtigen Finanzmitteln unterstützt und deren Exilführung zur Zeit ihres erzwungenen Abzugs aus Syrien im Jahr 2012 aufgenommen. Aber nun, im Juni 2017, wurde Katar selbst zum Ziel eines wirtschaftlichen und politischen Embargos seitens Saudi Arabiens, als Teil seiner aggressiven Strategie, den Golf zu dominieren und den Einfluss Irans in der gesamten Region zurückzudrängen.
„Die Hamas kennt ihr Gebiet sehr gut und wird es hartnäckig und mit Raffinesse verteidigen“
Emile Hokayem, Direktor Internationales Institut für Strategische Studien in London
Das Zusammenspiel dieser verschiedenen Zwänge drängte die Hamas zu einem Kompromisskurs. Im Oktober 2017 unterschrieb sie eine »Versöhnungs«-Vereinbarung mit der Fatah. Dieser unter der Ägide Ägyptens ausgehandelte Deal sah die Schaffung einer Einheitsregierung unter der Leitung der Palästinensischen Autonomiebehörde und allgemeine Wahlen bis spätestens Ende 2018 vor.
Der Ausbruch massiver Protestmärsche direkt an der Grenze zu Israel im März und April 2018 zeugte auf dramatische Weise von der ungebrochenen Bereitschaft der Palästinenser und Palästinenserinnen in Gaza, trotz des inhumanen Drucks durch die Blockade weiter für Gerechtigkeit zu kämpfen. Zehntausende Demonstrierende versammelten sich an der Grenze, wo sie von der tödlichen Gewalt der israelischen Streitkräfte empfangen wurden.
Schwer bewaffnete israelische Scharfschützen erschossen unbewaffnete Protestierende, die lediglich Fahnen hochhielten, und Jugendliche, die ihnen mit Steinwürfen trotzten. Allein am 17. April 2018 fanden mindestens 17 Palästinenser den Tod, während etwa 1.500 verwundet wurden. Am 14. Mai wurden mindestens 60 weitere getötet.
Israels überwältigende militärische Antwort auf die Proteste des »Großen Marschs der Rückkehr« war kein Zufall. Sie ist Teil jener Politik der brutalen kollektiven Bestrafung der Bewohner:innen des Gazastreifens durch die Blockade. Palästinenser:innen, die sich gegen die Besatzung auflehnen, ob mit militärischen Mitteln oder durch friedliche Proteste, ob unter dem Banner der Hamas oder irgendeiner anderen Organisation, müssen einen hohen Blutzoll zahlen.
Daher, und im Gegensatz zu den Behauptungen israelischer Wortführer oder ihrer Apologeten in westlichen Regierungen, ging es bei der Frage, wer Gaza kontrolliert, niemals nur um die Hamas. Es geht um das Recht auf Widerstand gegen die Besatzung und das Recht palästinensischer Flüchtlinge auf Rückkehr in ihr gestohlenes Land.