Aufstieg, Blütezeit und Verrat der Russischen Revolution am Beispiel der Kunst
Wer in Wien am Westbahnhof spazieren geht, hat die Gelegenheit diese monströse Konstruktion zu bewundern, die – so sieht es aus – wie durch Zauberhand horizontal in der Schwebe hängt, über den Köpfen der Menschen, die in die Bahnhofshalle strömen. Nur den wenigsten fällt auf, dass dieses Design der sanfte Nachhall von einer kühnen künstlerischen Bewegung zu Beginn des letzten Jahrhunderts ist: Die russische Avantgarde. Einst eine Randnote der Kunstwelt wurde sie mit der Oktoberrevolution zur Massenkunst hinaufkatapuliert, die, getrieben von Experimentierfreudigkeit und politischer Vision in alle Aspekte des Lebens eingriff. Tatsächlich stammt die Idee der Wolkenbügel, von dem Avantgardisten El Lissitzky. Sie sollten die ersten Wolkenkratzer der Sowjetunion sein, jedoch nicht, wie ihre Pendants in Amerika nach immer luftigeren Höhen langen, sondern hinein in die Breite der Volksmassen. Wie aber kam es zur Vereinigung zwischen diesen widerspenstigen Künstlerkreisen und den Revolutionären? Und was brachte die beiden schließlich gemeinsam zu Fall?
Zur Jahrhundertwende hing die zaristische Herrschaft am seidenen Faden der Repression. Die Niederlagen im Krimkrieg und darauffolgend der Zerfall der Allianz mit Österreich und Preußen hatten die russische Vormachtstellung in der imperialistischen Weltordnung mit einem Schlag zunichte gemacht. Zar Nikolaus der II. herrschte über ein Sammelsurium von Völkern, das sich nur durch die Aufstellung riesiger Bauernarmeen regieren ließ. Um geopolitisch konkurrenzfähig zu bleiben, forcierte man mit eiserner Faust eine Industrialisierung rund um die Waffen- und Metallindustrie. Die Realität der neuen Arbeiterklasse war hart: 11,5 Stunden Tag, Gewerkschaftsverbot, Streiks wurden vom Militär niedergeknüppelt. Dazu durchstreiften noch die Schwarzen Hundertschaften, präfaschistische Banden, das Land, verübten Pogrome an Jüd:innen und ermordeten Revolutionäre. In allen Ecken des Landes brodelte im Verdeckten der Widerstand: terroristische Netzwerke und die Arbeiterorganisationen trachteten nach einem Ende der feudalen Herrschaft. Die Widersprüche zwischen den sozialen Klassen gipfelten am 09. Januar 1905, als sich Hundertausende in Petrograd versammelten und Entlastung forderten. Die Antwort war ein Kugelhagel, der als Petersburger Blutsonntag in die Geschichte einging. Die Demonstrant:innen konnte man erschießen, nicht jedoch die gesellschaftliche Wut auf die Zarenfamilie, die diese antrieb: Das Ereignis wurde zum Auslöser landesweiter Aufstände; hunderte Schlösser von Adeligen wurden niedergebrannt.
Schluss mit der Kunst der Eliten!
In der kurzen Phase, in der die Zensur von den Revolutionsstürmen außer Gefecht gesetzt wurde, entstanden über 300 satirische Magazine – mehr als im gesamten 19. Jahrhundert. Sie markierte einen Befreiungsschlag der Kunst, den die Zensurbehörden auch in den kommenden Jahren nicht umkehren konnten. So hatte etwa der Portraitmaler der Reichen, Valentin Serov, noch 1896 die Krönung des Zaren gemalt – geschockt vom Blutbad gegen die friedlichen Demonstrant:innen, polemisierte er nun mit dem Gemälde „Soldaten, gute Männer, wo ist eure Ehre?“ gegen die Staatsgewalt – die Zeile war geklaut aus einem populären Lied der Militärpropaganda. Seine Bleistiftzeichnung „1905: Nach der Unterdrückung“ (Abb.4), zeigt den Zaren inmitten von Leichen, wie er Medaillen an seine Soldaten verteilt. Ein Großteil der Kunst, provozierte jedoch weitaus subtiler. Der Neoprimitivismus, der zwischen 1907 und 1912 entstand, beleidigte das ästhetische Auge der Adeligen mit Darstellungen des Alltäglichen: Kneipenschlägereien, Prostituierte, aber auch Handwerker, Soldaten und Bauern, dargestellt in einer fast kindlichen Vereinfachung und kräftigen Farben – eine Rückbesinnung auf die Ursprünge der russischen Volkskunst.
Am Vorabend des Ersten Weltkriegs richtete sich die russische Kunst messerscharf gegen die Eitelkeit der Herrschenden, doch sie ließ sich von keiner politischen Partei oder Bewegung vereinnahmen. Die Künstler:innen verwirklichten ihre eigenen weltpolitischen und philosophischen Vorstellungen, oft durchdrungen von einem tiefsitzendem Mystizismus.
So hatte etwa Kasimir Malewitsch den Anspruch, mit dem Suprematismus die vollkommene Loslösung der Kunst vom Gegenständlichen zu erzielen. Im flirrenden geometrischen Formspiel sollte sich eine Wirklichkeit darstellen, die mit den herkömmlichen Mitteln nicht erfasst werden könne.
Aus dieser Tradition ging bereits 1915 der russische Konstruktivismus hervor, als Vladimir Tatlin begann, Abfallprodukte aus Industrie und Alltag zu „Nahkampfreliefs“ zu montieren. Anstatt die Welt bloß abzubilden, wollte man sie durchdringen, sie in ihre kleinsten Teile zerlegen und frei, nach den Regeln der Fantasie, wieder zusammensetzen. Somit war die ästhetische Revolution vollzogen, lange bevor die die Oktoberrevolution Europa bis in seine Grundpfeiler erschüttern würde.
Revolutionsjahr 1917
Tatsächlich waren Motive der Revolution in den Gemälden des Jahres 1917, entgegen der nachträglichen Verklärung, äußerst selten. Eine Ausnahme bildet „27. Februar 1917“ von Boris Kustodiev. Bei einem zufälligen Blick aus dem Fenster seiner petrograder Wohnung, sah er eine Gruppe feiernder Revolutionäre passieren und brachte diesen Moment rasch zu Papier. Diese Dokumentation der Februarrevolution, sollte eine der einzigen, zeitgenössischen sein. Der Großteil der russischen Kunstwelt beschäftigte sich mehr mit den Entwicklungen in der eigenen Strömung, als den Entwicklungen des Landes, deren Auswirkungen auf die Weltgeschichte, zu diesem Zeitpunkt, vielen noch gar nicht bewusst waren. In einem Brief, den der Künstler Alexander Benois 1917 verfasste, heißt es: „In den letzten Tagen war ich so in meine Arbeiten vertieft, dass mich die äußeren Ereignisse und persönlichen Gefahren (fast) nicht berührten.“
Dieses Desinteresse währte nicht lange – die neue Machtverteilung nach der Oktoberrevolution befeuerte eine inhaltliche Wende, hin zu einer Heroisierung der Arbeit und der roten Fahne. Dabei nahmen künstlerische Projekte oft größenwahnsinnige Dimensionen an, wie Nikolai Evreinovs Nachstellung vom „Sturm auf den Winterpalast“ (Abb. 5) zum dritten Jahrestag der Revolution, an dem 10.000 Personen teilnahmen. Ähnlich verrückt war der, als Monument für die 3. Internationale geplante, „Tatlin Turm“ (Abb. 6). Dieser sollte 400 Meter hoch sein und geometrische Glasformen, die sich in unterschiedlichen Geschwindigkeiten drehen würden in einem stählernen Gerüst vereinen, an dessen Spitze ein Radiosender stehen sollte. Er wurde nie verwirklicht.
Verbrüderung Bolschewiki – Avantgarde
Die Kunst in den Dienst der Revolution stellen – das war das Vorhaben der Bolschewiki. Die russische Avantgarde eignete sich durch ihre Hinwendung zu Themen wie Arbeitsprozessen und Industrie, durch ihren utopischen Eifer und die Experimentierfreude mit den modernen Massenmedien, besonders für dieses Vorhaben. Sie war randständig, elitenkritisch und radikal. Insbesondere die Konstruktivisten waren oft blutjung, aus der Provinz und trugen den Terror des ersten Weltkriegs und der Bürgerkriegsjahre noch in den Knochen. Sie warfen sich mit Herzblut in die kommunistische Praxis, nicht zuletzt weil es die Revolutionen von 1905 und 1917 waren, die sie als Künstler:innen vor den Vorhang holten. Die neue Kunst war jene der Jungen, der Frauen, der Juden, der Nicht-Russen, ehrlicherweise auch manchmal der Mittelmäßigen, die sich vorrangig durch ihr politisches Engagement bewährten. Peter Gay nannte die russische revolutionäre Kunst die „Erektion von Außenseitern, die für einen schwindelerregenden Moment, von der Geschichte ins Innere getrieben wurden“.
Verstaatlichung der Kunst
Mit dem Erlass des Rats der Volkskommissare vom 25. Dezember 1917 wurden die russischen Banken entschädigungslos verstaatlicht. Die als „Kriegskommunismus“ bezeichnete Wirtschaftspolitik der jungen Sowjetrepublik während dem russischen Bürgerkrieg (1918-1921) stellte eine Verabschiedung zahlreicher Dekrete zur Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln dar. Eines der ersten, vom 19. Februar 1918, war das „Dekret über Grund und Boden“, er erklärte das Land zum „Allgemeingut aller, die darauf arbeiten“. In den Unternehmen enteigneten Arbeiter:innen die Kapitalisten und gründeten Fabrikkomitees zur demokratischen Verwaltung. Auch der Außenhandel wurde unter staatliche Kontrolle gestellt. Die Welle der Vergemeinschaftung machte auch vor den Institutionen der Kunstwelt nicht halt, die sich bis dato in den Händen der Bürgerlichen befanden. Kunst und Gewerbeschulen wurden in Staatliche Freie Kunstwerkstätten umgewandelt, in denen die Studierenden ihre Lehrkräfte selbst wählen konnten und jeder Künstler für die Leitung der Werkstätten kandidieren durfte. 1920 wurden in Moskau zwei der wichtigsten Kunstschulen gegründet: das Künstlerisch-Technische Institut (WKhUTEMAS), das heute oft mit dem deutschen Bauhaus verglichen wird, und das Institut für artistische Kultur (INKhUK).
Am WKhUTEMAS (Abb. 7) entwickelten Größen der Kunstgeschichte wie El Lissitzky, Malewitsch und Alexander Rodtschenko die Avantgardekunst weiter. Das Institut war geteilt in eine Fakultät für Kunst (Grafik, Skulptur und Architektur) und eine industrielle Fakultät, in der Druck, Keramik, Holz- und Metallbearbeitung unterrichtet wurden.
Das INKhUK unter der Leitung von Kandinsky hingegen hatte die Aufgabe einen Raum für freien künstlerischen Diskurs zu schaffen und durch Experimentierfreudigkeit Direktive für eine postrevolutionäre Kunst in Russland zu geben.
Agitprop
Da ein Großteil der russischen Bevölkerung Analphabeten waren, griffen die Revolutionäre während und nach dem Systemsturz zu Plakaten mit eindringlicher Bildsprache, um politische Ideen an die Massen zu vermitteln. Die russische Telegrafenagentur ROSTA arbeitete mit Künstler:innen und Journalist:innen zusammen, um Designs zu entwickeln, die satirisch über soziale Missstände und Autokraten-Herrschaft, aber auch über Themen wie Geschlechterungleichheit aufklärten und zur sozialistischen Revolution aufriefen. Diese wurden im gesamten öffentlichen Raum plakatiert – das hatte eine einschneidende Wirkung auf die Entwicklung von Straßenkunst. Die Schablonentechnik ermöglichte eine rasche Vervielfältigung und führte zu dem charakteristisch abstrahierten Design aus einfachen Formen und Motiven in bunten Farben. Als führende Figur der ROSTA-Gestaltung gilt der Dichter und Künstler Wladimir Majakowski. Agitprop war geboren: die Verschmelzung von Agitation und Propaganda. In Lenins Worten: „Unter Propaganda würden wir die revolutionäre Beleuchtung der gesamten gegenwärtigen Gesellschaftsordnung verstehen, unter Agitation: den Appell an die Massen zu bestimmten konkreten Aktionen, die Förderung der unmittelbaren revolutionären Einmischung des Proletariats in das öffentliche Leben.“
Durch die witterungsbedingte Kurzlebigkeit der Plakate, ging man ab 1918 dazu über, neue, innovative Formen zu erfinden, um politische Inhalte an die Massen zu vermitteln. Mobile Transportmittel wie Züge, Dampfschiffe und Straßenbahnen wurden dazu genutzt, die Kunde durchs ganze Land zu tragen. Die Architektur spielte eine bedeutende Rolle, da sie eine Erneuerung des Stadtbilds und damit symbolisch der Lebensumstände in einer befreiten Gesellschaft versprach. Man entwarf auch Konstruktionen, die, mit den neuesten technischen Errungenschaften, der Verbreitung von Reden dienen sollten, wie El Lissitzkis Entwurf einer „Lenin-Tribüne“ (Abb. 8). 1922 entwickelte Gustav Klucis seine „Radio-Oratoren“ (Abb. 9), Maschinen, mit riesigen Lautsprechern in rot und schwarz – der Entwurf visioniert die Massenagitation durch politische Reden vollautomatisiert.
Bildungs- und Erziehungsmethode
In einem kurzen Text mit dem schönen Namen „Schnaps, Kirche und Kino“, aus dem Jahr 1923, argumentiert Trotzki für die erzieherische Rolle des Kinos, die Zerstreuungslust der Menschen in neue Bahnen zu lenken, weg vom, durch das Zarenreich geschürten, Massenalkoholismus oder den starren Dogmen der Kirche: „Der Drang sich zu zerstreuen, sich zu amüsieren, ist eine der natürlichsten Äußerungen der Menschen. Wir müssen ihr entsprechen, auf eine Art, die mehr und mehr ästhetisch wird, und gleichzeitig aus den Zerstreuungen ein Mittel zur kollektiven Erziehung machen, ohne pädagogischen Rohrstock und ohne aufreizende Moralpauken.“
Erziehung durch Kunst, sollte nicht nur den Massen helfen, politisches Bewusstsein zu erringen, sondern wurde auch im Kleinen gelebt. Asja Lacis gründete etwa in Orjol ein proletarisches Kindertheater mit Kriegsweisen und Straßenkindern; zentral war die Nutzung der kindlichen Fantasie durch Improvisation. In ihrem Konzept gibt es keine unmittelbare moralische Einwirkung der Spielleiter auf die Kinder, vielmehr erziehen sich die Kinder in den Vorbereitungen und den Proben als Kollektiv selbst. Die Erwachsenen schauen nur zu: „Wahrhaft revolutionär wirkt das geheime Signal des Kommenden, das aus der kindlichen Geste spricht.“
Sozialistischer Realismus
Dieser Erziehungsaspekt der Kunst, der in den frühen Nachrevolutionsjahren schon angelegt war, wurde unter Stalin zu einem strikten Kontrollregime ausgebaut. Es war nun nicht mehr das Ziel, das Bewusstsein der Bürger:innen zu schärfen und sie politisch-mündig zu machen, sondern durch Propaganda „den neuen Menschen“ zu kreieren, der sich guten Willens für die desaströse Wirtschaftspolitik der Regierung ausbeuten lässt und die Partei kritiklos verehrt. Dementsprechend prägte Stalin für Schriftsteller:innen den Begriff „Ingenieur der Seele“ – sie hätten die Aufgabe, wie Bauingenieure, die Menschen für den Sozialismus umzumodellieren.
Die russische Avantgarde sah sich aus der Partei rasch mit dem Formalismus-Vorwurf konfrontiert: ihr Zugang sei zu elitär, zu abstrakt, wäre nur eine Spielerei, „Kunst um der Kunst willen“ eben, aber nicht wirklich für die Mehrheit der Menschen gemacht. Während die Avantgardisten in den ersten Jahren des Übergangs noch Parteipropaganda, in ihrer gewohnten Formsprache, betreiben durften, zog sich die Schlinge der Zensur im Laufe der 20er Jahre stets enger.
Als offizielle Staatskunst wurde der Sozialististische Realismus (Abb. 10) durchgesetzt, über den es den treffenden Flüsterwitz gibt, er sei so benannt „wegen der Abwesenheit von beidem“. Er ist eine Neuinterpretation des Realismus und bildete ausschließlich idealisierte Darstellungen des Lebens der Arbeiter und Bauern in der Stalindiktatur ab. Alle Kunst, Literatur, und sogar Musik musste sich dem dreifachen Standard der partinost (Parteilichkeit), ideinost (sozialistischem Inhalt) and narodnost (Volkstümlichkeit) unterwerfen.
Für die Freiheit der Kunst
Scharfe Kritik an dieser Kulturpolitik kam vom vertriebenen Revolutionär Leo Trotzki aus seinem Exil in Mexiko. 1938 verfasste er für den New Yorker Partisan Review einen Leserbrief mit dem Titel „Kunst und Revolution“.
Darin schreibt er, dass jedes echte Kunstwerk, immer einen Protest gegen die Wirklichkeit enthält und nicht dazu dient, die Krisen zu vertuschen. „Die offizielle Kunst der Sowjetunion – und es gibt dort keine andere – ähnelt der totalitären Justiz, d.h. sie beruht auf Lug und Trug. Ziel der Justiz wie der Kunst ist die Verehrung des „Führers“, die künstliche Erschaffung eines heroischen Mythos.“ Auch gegen die Avantgardekünstler polemisiert er, sie hätten nach der erfolgreichen Revolution nur die Seiten – von einer bürgerlichen zur bürokratischen herrschenden Klasse – gewechselt. Noch im selben Jahr trifft sich Trotzki mit dem surrealistischen Künstler André Breton. Gemeinsam verfassen sie ein „Manifest für die Freiheit der Kunst“. Darin heißt es: „Was wir wollen: Die Unabhängigkeit der Kunst – für die Revolution. Die Revolution – für die endgültige Befreiung der Kunst!”