Das Ghetto kämpft

Der Aufstand im Warschauer Ghetto ist exemplarisch dafür, wie Jüdinnen und Juden, überall wo das Terrorregime der Nazis herrschte, sich im Untergrund organisierten. Die Geschichte wiederlegt die antisemitische Erzählung von Jüd:innen als passive Opfer. Ihr Kampf fand unter den bittersten Bedingungen, immer unter Einsatz des eigenen Lebens statt. Direkt nach dem Krieg verschriftlichte Marek Edelman, als einer der ganz wenigen überlebenden Ghettokämpfer, seine Erlebnisse im Widerstand.
23. Juni 2023 |

Das Warschauer Ghetto wird im November 1940 errichtet. Noch bevor die Umsiedlungszeit verstrichen ist, wird den Jüdinnen und Juden die Ausreise aus dem Bezirk untersagt, Mauern und Stacheldraht riegeln den Bereich restlos ab. Die Mehrheit wird von einem Tag auf den anderen arbeitslos. Aufgrund vorangegangener Enteignungen und der Beschlagnahmungen während der Umsiedlungen versinkt das Ghetto zunehmend in Elend. Es beginnen die ersten systematischen Versuche der Nationalsozialisten für die Endlösung der Judenfrage: Aushungern, Seuchen und Zwangsarbeit sollten die polnischen Juden dezimieren, Einhunderttausend sterben allein im ersten Jahr. Zig Tausende Juden, die aus den benachbarten Kleinstädten vertrieben wurden, leben in dem Ghetto ohne Obdach. In Fabrikhallen liegen Hunderte zusammengepfercht auf Strohsäcken, zu schwach, um aufzustehen. Eltern stehen jeden Morgen vor der Entscheidung ihre kleinen Kinder unter den Zaun auf die „arische“ Seite zum Betteln zu schicken, wo sie womöglich erschossen werden, oder mitanzusehen, wie die gesamte Familie schleichend dem Hungertod zum Opfer fällt. Die Menschen kippen auf den Straßen um und sterben, täglich werden dutzende Leichen von öffentlichen Plätzen aufgesammelt, knöcherne Körper aufeinandergestapelt durch die Stadt gekarrt. Das Fleckfieber wütet und fordert so viele Tote, dass die Bestatter es nicht mehr schaffen, alle in Massengräbern zu verscharren. Berge an Leichen vermodern unbestattet am Friedhof. Dazu kommt, dass die Deutschen ein Angstregime führen, indem sie Jüdinnen und Juden aufs Schlimmste schikanieren und kollektiv bestrafen. Um Leben zu schützen, versuchen viele den Kopf einzuziehen, alles stumm über sich ergehen zu lassen, jede Regel einzuhalten. Doch das schützt nicht vor einem immer noch brutaleren Vorgehen der Nazis. Nachdem öffentliche Hinrichtungen vollstreckt werden, an 17 Personen, die dabei erwischt wurden zum Betteln auf die arische Seite zu gehen, beginnen SS-Offiziere damit, wahllos Menschen auf den Straßen zu erschießen, darunter viele Kinder. Unter Mithilfe der jüdischen Polizei werden Menschen von den Straßen aufgegriffen und in Zwangsarbeitslager deportiert.

Widerstand formiert sich

Unter diesen Bedingungen formierte sich der Widerstand. Der Bund, die jüdische Arbeiterpartei der Marek Edelman angehörte, ist bereits zu dieser Zeit, im Untergrund aktiv, neben weiteren Organisationen, unter ihnen der Hechaluz, die linkszionistische Jugendbewegung, mehrere gemäßigte zionistische Jugenverbände, die zionistische Arbeiterpartei Poale Zion und die Kommunisten. Drei Nächte pro Woche wird durchgearbeitet, um die 6 Zeitungen, die der Bund regelmäßig herausgab, in einer improvisierten Druckerei zu vervielfältigen. Am nächsten Tag ist an Schlafen gar nicht zu denken: Es ist viel zu auffällig, zudem müssen die Zeitungen nun durch das Ghetto geschmuggelt und unter die Leute gebracht werden. Die Anspannung war enorm. Erwischt zu werden, bedeutet den sofortigen Tod. Im Januar 1942 wird die erste überparteiliche Konferenz einberufen. Einstimmig wird beschlossen in den bewaffneten Kampf zu gehen. Die Idee einer gemeinsamen Kampforganisation kommt auf, wird aber noch nicht durchgesetzt. Stattdessen formieren sich kleine Kampfgruppen innerhalb der Organisationen, von je 5-7 Personen. Da sie keine Waffen haben sind sie zunächst auf theoretische Arbeit und Informationsbeschaffung beschränkt. Im Februar erreichen erste Berichte des industriellen Massenmords aus Chełmno das Ghetto. Die meisten halten sie für Schauermärchen – niemand will glauben, dass die Nazis planen alle Jüdinnen und Juden im Ghetto zu liquidieren – doch die zuvor schon politisch aktive Jugend, die den Terror der Nazis genau beobachtet hat, schätzt die Berichte als richtig ein, und reagiert mit einer großen Propagandaaktion, um die Bevölkerung aufzuklären. Plötzlich geht es Schlag auf Schlag. In den Tagen von 18. April bis 22. Juli ermorden die Deutschen jede Nacht 10-15 Personen durch Erschießung. Die Zusammensetzung der Opfer wird bewusst divers ausgewählt, um alle Teile der Ghettobevölkerung in Angst zu versetzen und fügsam zu machen. Kein Bund-Mitglied übernachtet noch zu Hause, die Widerstandsgruppen erarbeiten einen Aktionsplan für den Einmarsch der Deutschen und arbeiten von nun an als Militäreinheiten, inklusive militärischer Ausbildungen. Waffenlieferungen werden vorbereitet und erwartet, treffen allerdings nie im Ghetto ein.

Treibend für den jüdischen Widerstand war nicht die Hoffnung auf Befreiung, denn es gab keine, sondern das Verlangen nach Vergeltung.

Erste Vernichtungsaktion

In der ersten großen Vernichtungsaktion, die im Juli 1942 beginnt und im September abgeschlossen ist, werden 480.000 Menschen nach Treblinka abtransportiert. Die Hungersnot ist so groß, dass sich Tausende freiwillig auf den Umschlagplatz begeben, als die Deutschen einem jeden der sich zur „freiwilligen Aussiedlung“ melden 3 Leib Brot und 1 Kilo Marmelade versprechen. Die Übrigen werden von den Nazis durch Razzien geräumt. Am Umschlagplatz zerbrechen die letzten Illusionen, es könnte sich um eine tatsächliche Aussiedlung handeln, tagelang warten die Menschen hier in blanker Panik, bis sie durch Schüsse in die Wagons zum Abtransport getrieben werden. Die Widerstandsorganisationen versuchen Menschen vom Umschlagplatz zu retten, sie werden als Ärzte verkleidet oder in Särgen versteckt hinausgeschmuggelt, doch nicht wenige werden ein zweites oder ein drittes Mal aufgegriffen und es passiert manchmal, dass ein Helfer, im Zuge einer Rettungsaktion selbst abtransportiert wird. Nach Abschluss der Aktion verbleiben 60.000 Jüd:innen im Ghetto, ein Drittel von ihnen inoffiziell in Verstecken. Sie wissen, dass sie einzig deswegen am Leben gelassen wurden, um noch ein bisschen länger Zwangsarbeit zu verrichten. Der Bund hat 85 Prozent seiner Mitglieder verloren.

Bewaffnung

Im Dezember gründet sich die gemeinsame jüdische Kampforganisation (ZOB), der sich alle Parteien anschließen. Einzig der rechtszionistische Militärverband ZZW kämpft unabhängig vom ZOB, aber in Koordination mit ihm. Die ersten Aktionen der ZOB stellen Terroranschläge auf jüdische Meister, die ihre Zwangsarbeiter besonders knechten, und jüdische Polizisten dar. Schließlich treffen erste Waffenlieferungen ein, es handelt sich um lediglich 10 Pistolen. Bei der nächsten Liquidierungsaktion im Januar leisten einige wenige Kampfgruppen des ZOB, die nicht überrascht wurden, erbitterten Widerstand in Straßenschlachten. Die Waffen reichen bei weitem nicht aus, im Zuge der Aktion sterben erneut vier Fünftel der Organisation, aber der Kampfgeist ist geschürt und inzwischen übt der ZOB im Ghetto ungeteilte Macht aus. Die gesamte Bevölkerung führt seine Anweisungen widerspruchslos aus, reiche Bürger und Gemeindeinstitutionen werden zu Steuerabgaben gezwungen, von denen Waffen gekauft werden. Dem ZOB gelingt es Sprengstoff und 2.000 Liter Benzin hineinzuschmuggeln, in einer Werkstatt werden Molotowcocktails massenproduziert. Neben Pistolen, Granaten und Brandflaschen gibt es eine einzige Maschinenpistole. Von nun an werden Wachen an den Stadträndern stationiert, die das Ghetto rund um die Uhr bewachen. Gestapomänner trauen sich nicht mehr hinein, weil sie sofort umgebracht werden. Die Deutschen beschließen das Ghetto nun um jeden Preis zu liquidieren.

Bis zum letzten Mann

Am 19. April um 7 Uhr morgens marschieren sie in geschlossenen Reihen mit Panzern ins Zentralghetto ein. Die Straßen sind wie ausgestorben, es wirkt wie ein Triumphmarsch. An der Kreuzung Mila und Zamenhofstraße eröffnen vier Kampftruppen des ZOB plötzlich konzentrisch das Feuer. Ein Panzer steht in Flammen, aus dem Kugelhagel kommt kein einziger Nazi lebend heraus. Ähnliche Kämpfe finden an anderen Kreuzungen statt, schließlich müssen sich die Deutschen geschlagen zurückziehen. Mit Minen und Guerillataktiken können die Deutschen auch am 2. und 3. Tag der Aktion bezwungen werden. Edelmann erinnert sich an eine Situation, in der der Kämpfer Jurek, von SS-Offizieren umstellt eine auf ihn geworfene Granate in der Luft fängt und auf sie zurückwirft. Vier Deutsche sterben. Es kämpft jedes Haus. Ein „Friedensangebot“ der Offiziere wird mit Schüssen beantwortet. Die Deutschen merken, dass sie, obwohl stark in der Überzahl, die vollständige Liquidierung nicht ohne große Verluste durchführen können und beginnen am 4. Tag die Wohnungen auszuräuchern. Einige Kampfgruppen, darunter auch Marek Edelman, können sich durch das Flammenmeer und an einem schmalen dicht bewachten Durchgang vorbei ins Zentralghetto durchschlagen, doch auch hier ist die Situation ähnlich. Die Flammen schaffen, was die Deutschen nicht konnten, tausende Jüdinnen und Juden verbrennen bei lebendigem Leib. Unzählige weitere wählen den Selbstmord, Eltern springen mit ihren Kindern von den Dächern, um dem Flammentod zu entgehen. Die Deutschen suchen die Bunker, in denen sich die Zivilbevölkerung aufhält, mit Suchhunden und Horchgeräten nun systematisch und werfen Gasbomben hinein. Die Widerstandskämpfer verteidigen weiter die Bunker mit ihrem Leben, stunden- oder tagelang können bereits entdeckte Bunker verteidigt werden. Patrouillen ziehen tagsüber durch die Gassen mit dem Ziel so viele Nazis wie möglich zu erlegen, doch inzwischen mangelt es an allem: Unterkünfte, Wasser, Munition. Am 8. Mai 1943 – der ZOB existiert zu diesem Zeitpunkt kaum noch – organisiert der Kader den Rückzug durch die Kanäle. Die Flucht durch schlammiges Wasser dauert 48 Stunden, in den Durchgängen hängen Granaten, die bei jeder Bewegung explodieren und die Deutschen leiten mehrmals Giftgas durch die Kanäle. Nicht alle entkommen, diejenigen die erfolgreich sind, setzen den Kampf als Partisanen in den polnischen Wäldern fort. Die Mehrheit kommt dabei ums Leben. Fünf von den anfangs 600.000 Jüdinnen und Juden des Warschauer Ghettos überleben den Krieg.

Es ging nur um die Art zu sterben

Widerstand gegen den Nationalsozialismus findet sich in den Geschichtsbüchern als eine missglückte Serie von Bombenleger-Einzeltätern, wie Elser und Stauffenberg. An die gescheiterten Attentate erinnert man sich hierzulande gerne, denn es sind die toten Beweise dafür, dass „ja nicht alle Nazis waren“. Der organisierte jüdische Widerstand hingegen, wurde fast vollständig aus dem kulturellen Bewusstsein gelöscht. Das ist die Fortsetzung einer Geschichtserzählung, die Jüdinnen und Juden über die Jahrhunderte entmündigt und ihnen – im schlechtesten Fall Passivität, im besten Fall Resilienz – im Angesicht der Verfolgungen und antisemitischen Gräueltaten, zuschreibt. Tatsächlich ist die Geschichte der Jüdinnen eine, indem sie zu jedem Zeitpunkt eine zentrale und gestalterische Rolle im sozialen und kulturellen Leben einnahmen. In der Zeit des Nationalsozialismus waren sie es, die mit dem Tod im Nacken, im Kampf gegen Hunger, Überarbeitung und die wahllose Mordsucht der SS-Offiziere, das Unmögliche schafften, wieder und wieder im Untergrund riesige Organisationen aufbauten. Wenn nach dem Krieg überhaupt über das Warschauer Ghetto gesprochen wurde, dann oft mit einem zynisch braunen Unterton, der impliziert: „Warschau zeigt, sie hätten sich doch wehren können“. Die deutsche Mentalität, die Jüdinnen und Juden über Jahrtausende hinweg für alles auf der Welt verantwortlich gemacht hatte, hat versucht ihnen nun auch die Schuld für ihre eigene Massenvernichtung zuzuschieben. Dabei bildete sich der organsierte jüdische Widerstand in allen Ghettos des besetzten Osteuropas, in vielen kam es zu Aufständen. In den Vernichtungslagern Treblinka, Sobibor und Ausschwitz kam es zu bewaffneten Revolten, KZ-Häftlinge in Sachsenhausen boykottierten die Geldwäscheaktion der Nazis unter Lebensgefahr so weit, dass sie den Verlauf des Krieges beeinflussten. Tausende Jüd_innen kämpften in den Partisanengruppen, noch mehr organisierten Fluchtmöglichkeiten oder versuchten den Rest der Welt, der die Verbrechen der Nazis zu lange nicht hören und nicht sehen wollten, wachzurütteln. Aber auch der organisierte Widerstand war in erster Linie die Entscheidung, mit der Waffe in der Hand zu fallen, anstatt den noch schlimmeren, stummen Gang in die Gaskammern zu gehen. „Es ging uns in erster Linie, um die Art zu sterben“, erinnert sich Marek Edelmann. Ein großes Problem für die Kämpfer war, dass es, selbst wenn ihnen die Flucht vor den Nazis gelingen würde, keine Perspektive gab, wohin man dann gehen könnte. Ganz Europa steckte knietief im Antisemitismus, selbst der Anschluss an Partisanengruppen war riskant, da antijüdische Pogrome auch in solchen stattfanden. Treibend für den jüdischen Widerstand war nicht die Hoffnung auf Befreiung, denn es gab keine, sondern das Verlangen nach Vergeltung. Aus dem Bericht von Emanuel Ringlblum: „Die Leute schworen sich, nie wieder werden uns die deutschen ungestraft hier wegbringen. Wir werden untergehen, aber die grausamen Eindringlinge werden mit ihrem Blut für unsere Tode bezahlen. Wir brauchen uns keine Gedanken ums Überleben machen, dann ein jeder von uns trägt sein Todesurteil schon in der Tasche. Wir sollten besser daran denken mit Würde zu sterben, im Kampf zu sterben.“