Mit Marx gegen Antisemitismus

Antisemitismus hat zu dem schrecklichsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte geführt, dem Holocaust. Marxismus darf deshalb an seiner Fähigkeit gemessen werden, mit Antisemitismus angemessen umzugehen, sprich ihn konsequent und effektiv zu bekämpfen, und als Voraussetzung dafür, ihn richtig zu analysieren.
21. Juni 2023 |

Karl Marx, Rosa Luxemburg und Leo Trotzki sind die drei bekanntesten jüdischen Leitfiguren unserer Strömung. Abraham León muss im Zusammenhang Marxismus und Judentum ebenfalls erwähnt werden. Er hat, während er sich vor der Verfolgung durch die Nazis in Belgien versteckt hielt, das bahnbrechende Werk „Judenfrage und Kapitalismus“ geschrieben. Ihm kommt eine besondere Rolle innerhalb der jüdischen Sozialist:innen zu, weil er sich, während im Holocaust Millionen jüdischen Menschen umkamen, intensiv mit der „jüdischen Frage“ auseinandergesetzt hat. Die präsentierte sich ihm in allen Formen des Antisemitismus und der Reaktionen darauf, sowie in der reichen jüdischen Geschichte. León wurde von den Nazis gejagt, 1944 im Alter von 26 Jahren nach Auschwitz verschleppt, gefoltert und in der Gaskammer ermordet.

Aber auch in der Basis aller sozialistischen Parteien waren jüdische Arbeiter:innen stark vertreten. Sie reagierten mit außerordentlicher Energie auf die doppelte Erfahrung von Ausbeutung und Unterdrückung. Die Entwicklung ihres Klassenbewusstseins, ihrer Arbeiterorganisationen und ihrer sozialistischen Ideen war untrennbar mit ihren Erfahrungen von antisemitischer Diskriminierung und Gewalt verbunden. Darüber hinaus entwickelte sich die radikale jüdische Strömung parallel zu der breiteren emanzipatorischen Bewegung und war Teil von ihr; radikale Jüdinnen und Juden handelten gemeinsam mit anderen, die für die Veränderung der Welt kämpften, als Sozialist:innen und Revolutionär.

Gleichzeitig dachten und agierten sie nicht im nationalen Sinne jüdisch, sie wehrten sich bewusst gegen die Festschreibung in dieser Rolle, waren sie als Sozialist:innen doch stolze Internationalist:innen. Von den Zionisten wurde das durchaus wahrgenommen und als großes Problem gesehen, dass so viele junge Jüd_innen nicht national dachten, sondern internationalistisch. 1903 berichtete der führende Zionist Chaim Weizmann an Theodor Herzl:

„Der zionistischen Bewegung ist es nicht gelungen, die besten Elemente der jüdischen Jugend anzuziehen … Fast die gesamte jüdische Studentenschaft steht wie ein Mann auf Seiten des revolutionären Lagers.“


Aus Sicht der Gründerväter des Zionismus, war der Wettstreit der politischen Strömungen um die jüdische Jugend etwas durchaus Natürliches. Heute wird jede antizionistische jüdische politische Bewegung als antisemitisch gebrandmarkt, ein Hinweis darauf, wie stark Zionismus in die Ideologie des amerikanisch geführten westlichen Imperialismus integriert worden ist. So präsent, wie der Kampf gegen Antisemitismus in den sozialistischen Bewegungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts war, überraschte es nicht, dass nach Emanzipation strebende Jüd:innen bei den Sozialisten andockten und nicht bei den Zionisten. Die reiche Geschichte an jüdischen emanzipatorischen Kämpfen wird so aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht.

Erst mit dem Zweiten Weltkrieg ist nationales Denken so naturalisiert worden, dass Jüdinnen und Juden, die sich in Arbeiterparteien engagiert haben, strittig gemacht wurde, überhaupt für die jüdische Emanzipation oder gegen Diskriminierung aktiv zu sein. Wolfgang Neugebauer, der langjährige Leiter des Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes beschrieb die Rolle der jüdischen Sozialist:innen im Widerstand so: „Gerade in diesem linkem Widerstandsmilieu waren Menschen jüdischer Herkunft stark vertreten; vertrieben, vielfach von der NS-Herrschaft wieder eingeholt, spielten sie im europäischen Widerstand, vor allem in Frankreich, ein wichtige aktivistische Rolle. Allerdings verstanden sich die meisten in der KPÖ wirkenden Frauen und Männer nicht als Juden im religiösen oder nationalen Sinn, auch nicht als linke Zionisten; vielmehr hatten sie sich voll und ganz der kommunistischen Weltbewegung verschrieben.“

Neugebauer weiß zwar die antifaschistischen Aktivitäten der jüdischen Sozialist:innen zu schätzen, aber unter jüdischen Widerstand reiht er nicht ein, was nicht national oder religiös jüdisch motiviert war. Das hinterlässt ein sehr unangenehmes Gefühl, weil Neugebauer als Historiker mit der Aufarbeitung der Geschichte des antifaschistischen Widerstands beauftragt war. Er war mit der wichtigen Rolle jüdischer Sozialist:innen vertraut. Fairerweise hätte er betonen sollen, warum sich so viele Jüd:innen der Arbeiter:innenbewegung und nicht dem Zionismus verbunden fühlten: weil sich die Sozialisten als die konsequentesten Gegner von Antisemitismus herausgestellt haben.

Nach einer Welle von Pogromen in Russland im Jahr 1881 standen Juden weltweit im Mittelpunkt des Widerstands gegen den Kapitalismus. Viele von ihnen wurden in die höchsten Ränge radikaler Parteien und Bewegungen befördert, und zwar von Menschen, die in ihrer großen Mehrheit nicht jüdisch waren. Neben diesen gemischten Formationen gab es auch spezifisch jüdische Organisationen der Linken wie den „Bund“ (Der Allgemeine jüdische Arbeiterbund in Litauen, Polen und Russland).

Ezra Mendelsohn erklärt, warum das Engagement so intensiv war:

„Auf den ersten Blick scheint die Antwort ziemlich offensichtlich zu sein. Würde nicht ein Volk, das mit Diskriminierung, Hass und Demütigung konfrontiert ist (insbesondere in Osteuropa, aber auch im Westen), ein Volk, das mit einer großen, von Armut geplagten Arbeiterklasse und unteren Mittelschicht gesegnet oder verflucht ist – würden sich nicht viele Mitglieder einer solchen Gruppe unweigerlich zu der einzigen politischen Kraft hingezogen fühlen, die sich für revolutionäre Veränderungen einsetzt? Das war in vielen Ländern die Linke, die einzige Gruppe, die sich entschlossen und mutig gegen Nazismus, Faschismus und andere antisemitische Bewegungen stellte.“

Viele junge jüdische Rekrut:innen rückten rasch in die Redaktionsstuben und Parteizentralen auf und stellten wichtige Akteure in Parteien und Bewegung. In der Folge traf der Antisemitismus nicht nur die jüdische Bevölkerung, sondern wurde auch als politische Waffe gegen die sozialistischen Parteien eingesetzt. Die bekannteste Ausgeburt davon ist die Erfindung einer jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung, die von modernen Neonazis und Konservativen mit ihrer Verschwörungstheorie vom großen Austausch wiederbelebt wurde.

Leóns Thesen

León argumentiert, dass die besondere Rolle des Judentums in Europa und Vorderasien und auch der Antisemitismus schon im Römischen Reich seinen Ausgang genommen haben. Weit davon entfernt die jüdischen Gemeinden seit der Antike nur als Opfer zu sehen, beschreibt er ihre aktive Rolle in den Gesellschaften. Die damals gängige und heute noch populäre These war, dass die Juden sich über Jahrtausende als Volk erhalten konnten, trotzdem sie in die Diaspora getrieben und auf die halbe Welt verstreut wurden, trotzdem sie unter permanenten Druck waren sich zu assimilieren oder in Ghettos gesperrt wurden. Und León widerspricht heftig – mit einem Satz von Marx. „Das Judentum hat sich nicht trotz der Geschichte, sondern durch die Geschichte erhalten.“ Sie waren nicht ein passiver Spielball der Geschichte, sondern hatten einen Platz in der Geschichte erobert und hielten sich aktiv in dieser Position.

Leòn: „Gerade weil die Juden sich als gesellschaftliche Klasse erhalten haben, haben sie auch bestimmte ihrer religiösen, ethnischen und linguistischen Eigenheiten bewahrt. Dieses Zusammenfallen von Klasse und Volk (oder Rasse) ist bei weitem nicht außergewöhnlich in den vorkapitalistischen Gesellschaften. Die sozialen Klassen unterscheiden sich dort sehr häufig durch ihren mehr oder minder nationalen Charakter.“

Jüdische Kaufleute aus der römischen Provinz Palästina gründeten Handelshäuser in den Städten des gesamten Römischen Reichs, und zwar schon Jahrhunderte vor dem jüdischen Aufstand und der Vertreibung der Juden durch die Römer aus Palästina. León zitiert den jüdischen Philosophen Philon, der die Städte von Nordafrika bis Vorderasien aufzählt, in denen sich jüdische Gemeinden etabliert hatten. Teilhabe an den Handelsnetzwerken war ein geschütztes Privileg, das zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Regionen jüdischen Gemeinden vorbehalten war. Sie bildeten nach León eine Volksklasse. Damit wurden gesellschaftliche Formationen beschrieben, die sich in vor allem in feudalen Gesellschaften herausbilden konnten. Angehörige eines bestimmten Volkes stellten etwa die Händler oder Söldner oder bildeten den Kern des Bürgertums in den jungen Städten ländlicher Gesellschaften. Aber die Beschreibung als Volksklasse ist zu starr, um über alle historischen Perioden zu funktionieren. Man könnte den Begriff auf das indische Kastensystem anwenden, das auch in der europäischen Antike und dem frühen Mittelalter anzutreffen war. Das heißt, gewisse Berufe durften nur von bestimmten Gruppen ausgeübt werden, und umgekehrt sind Mitglieder bestimmter Gruppen auf „ihre“ Berufe beschränkt. Durch die Nutzung von Fähigkeiten, die in der fortgeschritteneren Kultur des Nahen Ostens erworben wurden, aber in Europa nicht vorhanden waren, entwickelten sich die jüdischen Berufe in zwei Richtungen – Handwerk und Handel. Einen Eindruck davon, was Ersteres in der Praxis bedeutete, vermittelt eine kleine spanische Stadt kurz vor der Vertreibung von 1492. Dort wurden Juden als Korbmacher, Goldschmiede, Schuster, Schneider, Schmiede und Geschirrmacher aufgeführt. Ein halbes Jahrtausend später betonten zaristische Beamte, dass die Juden in Russland „durch ihre unbedeutenden und häufig verleumdeten Tätigkeiten nicht nur das ländliche, sondern auch das gewerbliche Leben fördern”, so dass es „keine Möglichkeit gab und für lange Zeit auch nicht geben wird, sie zu ersetzen”.

Mit der Französischen Revolution von 1791, die die Mauern der Ghettos niederriss und die Emanzipation der Juden vorantrieb, wird die Gesellschaft aber viel offener und dynamischer. Volksklasse ist spätestens ab dann kein hilfreiches Konzept mehr, abgesehen davon, dass auch der Begriff Volk von der Wissenschaft immer mehr abgelehnt wird. Praktische jede Ethnie zeichnet sich dadurch aus, dass sie im Austausch mit anderen Ethnien zu dem entwickelt hat, was man zu einem bestimmten Zeitpunkt beschreibt, aber tatsächlich sind Ethnien ein sehr dynamisches und offenes Konstrukt. Man spricht dann besser von Ethnogenese, dem Werden einer Ethnie. Allerdings war der Begriff Volk zu Leóns Zeiten sehr populär, weniger in marxistischer Literatur, aber León kam schließlich aus der nationalen Bewegung Hashomer Hatzair und reagierte mit seiner Schrift auf deren These von den Juden als ewige Opfer der Geschichte.

Judenhass in der Antike

Jüdische Reisende konnten in zahlreichen römischen Städten mit einer jüdischen Niederlassung rechnen, die ihnen Zutritt und Unterkunft versprach. Damit waren die Juden viel mobiler als andere Teile der Bevölkerung im Römischen Reich. So wie später die europäischen und russischen Herrscher bedienten sich die Römer der Juden, um die wirtschaftliche Entwicklung der unterworfenen Gebiete in ihrem Sinne zu fördern. Und sehr ähnlich den Feudalherren im Mittelalter hatte die römische herrschende Klasse für die wirtschaftliche Tätigkeit der Händler nur Verachtung übrig und entwickelte einen römischen Antisemitismus. León: „Der Haß gegen die Juden besteht nicht erst seit Durchsetzung des Christentums. Seneca behandelt die Juden als kriminelle Rasse. Juvenal glaubt daß die Juden nur dazu da seien, um anderen Völkern Leiden zuzufügen. Nach Quintilius sind die Juden ein Fluch für die anderen Völker.“

Hier zitiert León Henri Laurent: „Die Feindseligkeit des Mittelalters Händlern gegenüber ist nicht nur christlichen oder pseudochristlichen Ursprungs. Sie hat auch eine heidnische Quelle ganz realer Art. Diese Feindseligkeit ist stark verwurzelt in einer Klassenideologie: Die herrschenden Klassen der römischen Gesellschaft, Senatsleute ebenso wie Mitglieder der provinzialen Kurien, brachten auf Grund ihrer tief sitzenden bäuerlichen Tradition allen Formen wirtschaftlicher Aktivität, außer solchen, die sich aus der Landwirtschaft ableiten, Verachtung entgegen.“

León beschreibt die Stellung der jüdischen Gemeinden in der Antike als im Vergleich beneidenswert, aber sie waren auch sehr exponiert. Fernhandel hatte fast immer mit Luxusgütern zu tun, und die Händler waren sichtlich wohlhabend, aber sie stellten nicht die herrschende Elite. Die Herrschenden konnten in Krisenzeiten die Wut der Bevölkerung auf die jüdischen Gemeinden Juden ableiten. Auch wenn León im belgischen Untergrund nur limitierten Zugang zu historischen Forschungsunterlagen hatte und einige Details seines Manuskripts redigiert gehört hätten, das Entscheidende worauf Leon unsere Aufmerksamkeit lenken will, ist die aktive Rolle der jüdischen Gemeinden in der antiken Gesellschaft – nicht die ewigen Opfer, die durch Vertreibung im gesamten Römischen Reich siedelten, sondern eine ethnische Gruppe von vielen in der Antike, die eine gesellschaftliche Rolle übernahm, für die sie gerüstet war. Palästina war immer schon ein Knotenpunkt zwischen Afrika, Asien und Europa und seine Bevölkerung dementsprechend prädestiniert für eine Rolle als Mittler zwischen den Welten.

Leóns Leben und Tod

Abraham León wurde 1918 in Warschau geboren. Seine Eltern verließen Pilsutskis Polen, wanderten nach Palästina aus, aber die harten Bedingungen veranlassten sie 1926 zur Rückkehr nach Europa. Sie ließen sich in der belgischen Bergbauregion Charleroi nieder, ein Zentrum der radikalen Linken. Der junge León trat jedoch zuerst der linken zionistischen Jugendbewegung Hashomer Hatzair bei. Die war zu diesem Zeitpunkt schon stalinistisch orientiert, was die Organisation bald in eine tiefe Krise werfen sollte. Stalins Schauprozesse in den 1930er-Jahren waren stark antisemitisch unterfüttert, und das Regime als Ganzes hatte dem Internationalismus völlig abgeschworen. 1939 schmiedeten Hitler und Stalin einen Nichtangriffspakt. Sie teilten Polen unter sich auf und Millionen polnischer Juden wurden den Nazis ausgeliefert. León hatte schon davor begonnen der zionistischen Geschichtsschreibung zu widersprechen. Beim letzten Weltkongress des Hashomer Hatzair vor dem Krieg trug er seine Thesen als gewählter Delegierter vor, die er später in seinem Buch „Judenfrage und Kapitalismus“ weiter entwickeln sollte. Aber nach dem Schock den der Hitler-Stalin Pakt bei Sozialist:innen auf der ganzen Welt ausgelöst hat, brach er endgültig mit Stalinismus und mit dem Hashomer Hatzair. Er hatte sich schon länger mit Trotzki beschäftigt, dessen Auseinandersetzung mit dem Faschismus ihn in dieser finsteren Zeit völlig aus der Masse hervorstechen ließ. 1940, als er die Nachricht von der Ermordung Trotzkis durch einen Agenten Stalins erhält, bricht er zusammen, macht sich aber bald daran, die trotzkistische Linke im besetzten Belgien gemeinsam mit Ernest Mandel wiederaufzubauen. Es mangelte ihm nicht an Heldenmut oder Intellektualität, nur an Lebenszeit. 1944 entdeckten ihn seine Verfolger, rächten sich grausam an ihm und ermordeten ihn schließlich. Sein Manuskript der „jüdischen Frage“ wurde von der trotzkistischen Organisation in Belgien nach dem Krieg veröffentlicht, blieb aber weitgehend unbekannt. Erst 1968 fiel es mit den Studierendenprotesten auf fruchtbaren Boden. Der jüdische Marxist Maxime Rodinson legte das Buch damals mitten in den Unruhen erneut auf und machte es unter dem Titel La conception matérialiste de la question juive (Das materialistische Konzept der Judenfrage) einer breiten und radikalisierten Öffentlichkeit bekannt.

Leo Trotzkis Judentum

Trotzki hatte seine wichtigste Stunde als Organisator der Russischen Revolution und als Anführer der Roten Armee. Er selbst meinte über sich, er sei in diesen Rollen ersetzbar gewesen, aber nicht in seiner Rolle als Kämpfer gegen den Faschismus. Seit seiner Vertreibung und Verfolgung durch Stalin musste er damit zurechtkommen, dass das russische Proletariat zwar die Revolution gewonnen hatte und dennoch die Reaktion über Europa rollte. 1919 ermordeten in Deutschland konterrevolutionäre Truppen Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. 1922 ist der italienische Faschismus an die Macht gekommen und in Deutschland drohte die faschistische Machtergreifung. Das wäre das Ende aller Hoffnungen auf Freiheit gewesen, die von der Russischen Revolution geweckt worden waren. Die deutsche Arbeiterklasse war die mächtigste der Welt. Wenn sie sich von ihrem Erzfeind schlagen lassen würde, hätte das Folgen für die ganze Welt und traumatisierende Auswirkungen auf Generationen gehabt. Trotzki widmete sich deshalb vor allem dem einen Thema – die Machtergreifung des Faschismus in Deutschland verhindern. Der Hauptstrang seiner Argumentation war folgender: Faschismus ist eine konterrevolutionäre Massenbewegung, darauf ausgerichtet die Arbeiter:innenbewegung zu vernichten und jegliche Demokratie zu unterbinden. Die Arbeiter:innen, weil sie als Kollektiv kämpfen können, können die Faschisten schlagen, aber sie müssen geeint auftreten. Die Spaltung in Reformisten und Revolutionäre darf im Kampf gegen Faschismus keine Rolle spielen – SPD und KPD müssen eine Einheitsfront gegen die Nazis bilden. Wir wissen heute, dass beide Parteien eine Einheitsfrontpolitik nie ernsthaft verfolgt haben, und dann von den Nazis vernichtet wurden.

Das Judentum hat sich nicht trotz der Geschichte, sondern durch die Geschichte erhalten. Sie waren nicht ein passiver Spielball der Geschichte, sondern hatten einen Platz in der Geschichte erobert und hielten sich aktiv in dieser Position.

Trotzki entstammte selbst einer Familie jüdischer Bauern in der Ukraine, was er selten thematisiert hat. Aber er lernte schon früh den antisemitischen Mob kennen, die russischen Schwarzhunderter, die angestachelt durch die antisemitische Agitation des russischen Innenministers und mit Unterstützung von Polizei und Behörden straflos Pogrome gegen Juden und Jüdinnen ausüben durften, deren Grausamkeit einen fast sprachlos machte. Trotzki wird oft nachgesagt, er hätte seine jüdische Herkunft versteckt oder gar geleugnet. Dabei ziehen sich seine Erfahrungen von Ausbeutung und doppelter Unterdrückung der jüdischen Bevölkerung durch seine Schriften und mit Sicherheit haben sie auch seine Entwicklung angetrieben. Und offenbar hatte bis zur Frühphase des Naziregimes kaum ein anderer Politiker den Naziterror und den Holocaust so dramatisch und präzise vorhersagen können wie Trotzki. Trotzki antwortete auf die Frage nach seiner Herkunft gerne mit: „Ich bin nicht Jude, ich bin Internationalist!“ Aber als ihm 1906 der Prozess als Anführer der gescheiterten Revolution von 1905 gemacht wurde, hob er das jüdische Element, verachtet vom Gericht, extra hervor. Auch im Namen der verfolgten und ermordeten Juden habe sich das revolutionäre Russland erhoben. Er zählte dem Richter die Pogrome auf: „und wenn sie mir sagen, dass Kischinew, Odessa, Bjelostock die Regierungsform des Russischen Reiches ist – ja, dann erkenne ich zusammen mit der Staatsanwaltschaft an, dass wir uns im Oktober und November gegen die Regierungsform des Russischen Reiches bewaffnet haben!“ Angesichts der drohenden Todesstrafe war das doch ziemlich mutig für jemanden, dem die jüdische Sache gleichgültig gewesen sein soll. Trotzki hatte einen besonders tiefen Einblick in die Seele des antisemitischen Mobs, der in Russland gewütet hat. Organsiert und gefördert von ganz oben verübten die „Schwarze Hundert“ genannten Einheiten die grausamsten Pogrome. Die einfühlsame Beschreibung der schockierenden Brutalität der Antisemiten zeigt Trotzki als jemanden, der mehr als einen kruden materialistischen Blick auf die Geschehnisse zu werfen vermag. Trotzki in seiner Geschichte der russischen Revolution über die Pogromisten:

„Ihm (dem Mitglied der antisemitischen Bande) ist alles erlaubt, er darf alles, er ist Herr über Gut und Ehre, über Leben und Tod. Wenn er die Lust dazu verspürt, schleudert er aus einem Fenster im dritten Stock eine alte Frau zusammen mit einem Konzertflügel aufs Straßenpflaster hinunter, zerschmettert einen Stuhl am Kopfe eines Säuglings, vergewaltigt ein kleines Mädchen vor den Augen der Menge, treibt Nägel in lebendiges Menschenfleisch … Er schlachtet ganze Familien hin; er begießt das Haus mit Petroleum, verwandelt es in einen lodernden Scheiterhaufen und gibt jedem, der sich aus dem Fenster aufs Pflaster wirft, mit dem Knüttel den letzten Rest … Es gibt keine Marter, die nur ein von Schnaps und Wut tollgemachtes Hirn aushecken kann, vor der er gezwungen wäre, Halt zu machen. Denn ihm ist alles erlaubt, er darf alles …“

Trotzki verstand, dass solche Menschen der faschistischen Bewegung ihre Dynamik aufzwingen konnten. Mit seinem besonderen Einblick in die Seele des Faschismus konnte er schon 1938 warnen: „die nächste Entwicklung der Weltreaktion bedeutet mit Sicherheit die physische Vernichtung der Juden.“ Dabei hat Trotzki immer gewusst, dass der Kampf gegen Antisemitismus auch in den eigenen Reihen geführt werden muss.

Eine Anekdote aus den Tagen der Revolution verdeutlicht das: Als Alexander Kerenski, der Führer der provisorischen Regierung, den Winterpalast verließ, bemerkte er, dass jemand in großen Buchstaben an die Palastwand gemalt hatte: „Nieder mit dem Juden Kerenski, es lebe Trotzki!“ Unnötig zu erwähnen, dass Kerenski kein Jude war, Leo Trotzki aber schon. Russland war verseucht mit Antisemitismus, doch wählten die revolutionären Arbeiter:innen 1905 einen Juden, Trotzki, zum Vorsitzenden ihrer Räteregierung und 1918 folgten sie ihm in den Bürgerkrieg gegen die Weißen Armeen.

Das fasst noch einmal den Kern der marxistischen Sichtweise zusammen, dass echte Emanzipation immer im Zuge von Massenbewegungen stattfindet und von der Dynamik dieser Kämpfe abhängt. Scheitern sie, dann triumphiert wieder Antisemitismus. Stalin hat die Konterrevolution gegen die russische Revolution angeführt und Antisemitismus als Waffe eingesetzt. Sechs Millionen Jüdinnen und Juden zahlten den Preis für die gescheiterte Revolution in Deutschland. Trotzki und die Strömung des Sozialismus von unten stehen für die echte Emanzipation aller Unterdrückten.