Das Virus und der Kapitalismus

Die Corona-Pandemie ist nicht ausgebrochen, weil in China die Menschen gerne Wildtiere essen – das ist nur die gängige und ebenso blödsinnige wie rassistische Erklärung für den Ausbruch der Pandemie.
16. Juni 2020 |

Die nächste schwere Pandemie durch einen noch unbekannten Erreger kann genauso gut in einem Industrieland im Westen ausbrechen, wie sonst überall in dieser globalisierten Welt. In China leben gut ein Fünftel, 1.4 Milliarden Menschen oder 18.7 Prozent der Weltbevölkerung, darunter sehr viele Menschen auf engstem Raum in Slum-ähnlichen Unterkünften. Es ist alleine deshalb schon sehr wahrscheinlich, dass neue Epidemien von China ausgehen können. Aber MERS, ebenfalls eine Coronavirus-bedingte Epidemie ist in Saudi-Arabien ausgebrochen, die H1N1-Influenza-Epidemie von 1976 breitete sich auf einem US-Militärstützpunkt aus und die H1N1-Influenza-Epidemie von 2009 stammte aus Mexiko.

Kapitalismus, nicht China

Abgesehen von der Bevölkerungsanzahl ist in China ein weiterer Umstand am Wirken, der den Ausbruch von Seuchen begünstigt: Die immer tiefere Durchdringung der kapitalistischen Wirtschaft dieses riesigen Landes richtet gleichzeitig soziale und ökologische Verwüstungen ungeheuren Ausmaßes an. Tim Benton, Professor für Bevölkerungsökologie an der Universität Leeds, betont, die immer neuen Ausbrüche von bedrohlichen Epidemien können nur als Teil eines größeren Systems verstanden werden: „Gesellschaften und Regierungen neigen dazu, jede neue Infektionskrankheit als eine unabhängige Krise zu behandeln, anstatt zu erkennen, dass sie ein Symptom dafür sind, wie sich die Welt verändert.

Je mehr wir die Umwelt verändern, desto wahrscheinlicher ist es, dass wir Ökosysteme stören und Krankheiten die Möglichkeit bieten, sich zu entwickeln“, sagte er. Dem müssen wir aus ökosozialistischer Sicht hinzufügen, dass nicht nur die Störung der Ökosysteme die Ausbreitung neuer Epidemien antreibt, die Zerstörung von sozialen Strukturen ist ein genauso wichtiger Faktor. Unter sozial und ökologisch lassen sich eine Vielzahl von Faktoren zusammenfassen, die nur künstlich zu trennen sind.

Die Zerstörung von ländlichen Strukturen und die Ausbreitung von industrieller Landwirtschaft, die Zerstörung der öffentlichen Gesundheitsversorgung und die fehlende Vorbereitung auf erwartbare Virusausbrüche, Klimaerwärmung, Industrialisierung, Massentierhaltung und Vernichtung von Regenwäldern und anderen wichtigen Biotopen. Das sind alles Prozesse, die direkte Folgen der modernen Entwicklung von Kapitalismus sind und die dazu beitragen, dass sich ständig neue Infektionskrankheiten entwickeln, die sich immer schneller ausbreiten können.

Großer Pool an Viren

Die Virologen Woolhouse und Gaunt erstellten und verfeinerten einen Katalog der fast 1.400 anerkannten humanpathogenen Erreger-Arten. Eine Untergruppe von 87 Arten wurde seit 1980 anerkannt und gelten derzeit als „neue“ Pathogene. Die Autoren stellen vier Eigenschaften dieser neuartigen Pathogene fest, von denen sie erwarten, dass sie die meisten in Zukunft auftretenden Mikroben beschreiben werden: ein Übergewicht von RNA-Viren; Pathogene, die Tiere als Reservoires nutzen; Pathogene mit einem breiten Wirtsspektrum; und Pathogene mit einem gewissen (vielleicht anfänglich begrenzten) Potenzial für eine Übertragung von Mensch zu Mensch.

Massentierhaltung

Als Evolutionsbiologe und Phylogeograph erforscht Rob Wallace die Herkunft und Ausbreitung von Krankheitserregern. In seinem Buch Big Farms Make Big Flu zeichnet er nach, wie unter den Bedingungen von Massentierhaltung Krankheitskeime eine Selektion durchmachen, die sie gleichzeitig ansteckender, gefährlicher, und leichter auf den Menschen übertragbar machen. „Broiler“ oder Masthühner werden so gezüchtet, dass sie nach nur 28-30 Tagen Mastdauer schlachtreif sind. Erst danach wird in der industriellen Mast der völlig verschmutzte Stall oberflächlich gereinigt und sofort neu besetzt. Alle Hühner besitzen mehr oder weniger dieselbe Genetik mit all denselben genetischen Mängeln, die solche Inzuchtlinien auszeichnen. Natürlich fällt auch fehlende Resistenz gegen spezielle Krankheitserreger unter diese genetischen Mängel. Mike Davis, der Autor von The Monster at Our Door: The Global Threat of Avian Flu schreibt: „Als Aushängeschild der industrialisierten Geflügel- und Tierproduktion gilt weltweit das gigantische Unternehmen Tyson Foods. Tyson Foods schlachtet 2,2 Milliarden Hühner im Jahr.

Massentierhaltung: ein perfektes Umfeld für die Entwicklung potentiell immer gefährlicherer Krankheitserreger

Es steht für die Ausbeutung von Vertragsbauern, für Gewerkschaftsfeindlichkeit in den Betrieben, für wild wuchernde Verstöße gegen das Arbeitsrecht, für Wasserverschmutzung durch Einleitung von Abwässern in die Flüsse und für politische Korruption. Die globale Dominanz solcher Kolosse wie Tyson haben die einheimischen Bauern dazu gezwungen, sich entweder in den großen Hühner- und Schweinfleischverarbeitungsfirmen zu integrieren – oder einzugehen. Überall wurden ganze landwirtschaftliche Gebiete in Lagerhallen für Massentierhaltung verwandelt, in denen die Bauern die Hühner lediglich noch zu beaufsichtigen hatten.“

Nach dem Vorbild von Tyson Foods breitet sich auch in Asien die industrielle Hühnermast aus – mit all ihren Folgen. Eine davon ist die größere Störung von Ökosystemen und die Ausweitung der Warenproduktion. Dies hat zur Folge, dass Menschen neue Siedlungsgebiete suchen oder Urwälder abholzen, dass verschiedene Tierarten zusammengedrängt werden und miteinander in Kontakt kommen, wodurch neue Krankheitserreger in Umlauf gebracht werden.

Fledermausviren

Man weiß bis heute nicht genau, woher das SARS-2 Virus stammt. Höchstwahrscheinlich ist es von Fledermäusen auf den Menschen übergegangen, möglicherweise hat es sich vorher an andere Haus- oder Wildtiere adaptiert. Es stimmt wahrscheinlich nicht, dass die Übertragung erstmals auf dem Lebensmittelmarkt von Wuhan stattgefunden hat. Prinzipiell dürfte auch bei SARS-2 die Beobachtung zutreffen, dass die rasche Expansion des industriellen Raubbaus an der Natur den Kontakt von Menschen mit zuvor isolierten Virenstämmen begünstigt hat. Für diesen Ausbreitungsweg gibt es mehrere Beispiele.

Zwischen 1998 und 1999 erkrankten in Malaysia Schlachthofarbeiter an einer Gehirn- und Lungenentzündung, hervorgerufen durch das Nipah-Virus, das von Flughunden auf Schweine und dann auf Menschen übergegangen ist. Die Hälfte der Infizierten ist an der Erkrankung gestorben. Dem Ausbruch vorausgegangen ist die Zerstörung des Lebensraums der Fledermäuse durch Dürre und menschliche Abholzung.
Das Ebola-Virus, das bis zu 90 Prozent der infizierten Menschen töten kann, ist das wohl bekannteste Fledermausvirus, das unter Menschen gewütet hat. Das Ebolafieber tritt seit den 1970er-Jahren auf. 2014 hat Ebola in Westafrika in epidemischer Form gewütet und bis zu 30.000 Menschen infiziert, von denen 60 Prozent gestorben sind.

Wieder war Landraub ein entscheidender Faktor. Konzerne aus Europa, den USA und China haben Wälder abholzen lassen und in den wachsenden Palmölplantagen haben die Flughunde und Fledermäuse Ersatzlebensräume gefunden. Die Arbeiter in den Plantagen und Forstbetrieben wurden außerdem durch eigens angestellte Jagdtrupps mit Wildfleisch versorgt. Man sieht wieder die Ausbreitung der Warenproduktion mit all ihren Implikationen am Werk: Massentierhaltung, Raubbau an der Natur, Störung natürlicher Gleichgewichte und deren soziale Folgen haben die Voraussetzungen für eine Zoonose geschaffen.

Armut

Zoonosen, also Krankheiten, die von Tieren auf Menschen übergehen, begleiten unsere Spezies schon seit jeher. Man konnte erst kürzlich bei Stichproben feststellen, dass Menschen in chinesischen Dörfern Antikörper gegen andere Viren von Fledermäusen haben, also Infektionen durchgemacht haben, die nicht zu Epidemien führten. Aber wie die Autoren einer epidemiologischen Studie feststellen, kann Armut eine ganze Infektionslawine ins Rollen bringen: „Das Auftreten von zoonotischen Krankheiten ist ein Symptom dafür, wie sich die Welt verändert.

Die Verwundbarsten tragen das größte Risiko bei solchen Krankheiten. Menschen, die in Armut leben, haben oft als Folge schlechterer Ernährung, der Belastung durch schlechte Luft oder durch unhygienische Zustände ein schwächeres Immunsystem. Wenn sie erkranken, können sie sich womöglich keine medizinische Versorgung leisten.“ Derselbe Autor, Kerry Bowman, beschreibt auch Klimawandel und Umweltzerstörung als Faktor im Epidemiegeschehen: „Je stärker wir die Umwelt verändern, desto wahrscheinlicher zerstören wir Ökosysteme und bieten Krankheiten eine Möglichkeit.“

Politikversagen

„Regierungen der ganzen Welt wurden Jahr für Jahr vor einem unmittelbar bevorstehenden Ausbruch einer neuen Viruspandemie gewarnt”, erzählt Mike Davies in einer Diskussionsveranstaltung. „Zumindest auf dem Papier gibt es keinen Mangel an Vorbereitungen für den Ernstfall. Die führenden Politiker wurden spätestens seit 2003, also seit dem SARS-1-Ausbruch in dem Jahr, von der Wissenschaftsgemeinde, von den öffentlichen Gesundheitsämtern, von den Gesundheitsministerien und von der Weltgesundheitsorganisation gewarnt.

Trump wurde sogar von seinen Wirtschaftsberatern auf eine unmittelbar drohende und neuartige Pandemie hingewiesen, und auf den Umstand, dass die privatwirtschaftlich organisierte Pharmaindustrie nicht in der Lage sein werde, die nötigen Impfstoffe und Heilmittel zur Verfügung zu stellen. Auch auf den Mangel an Therapieplätzen, Material und Geräten infolge der Zerschlagung des öffentlichen Gesundheitswesens wurde die Aufmerksamkeit gelenkt.“ Den Warnungen folgend hätten strategische Reserven der wichtigsten Materialien und Gerätschaften angelegt werden, die Bettenversorgung ausgebaut, Frühwarnsysteme eingeführt und Notfallpläne ausgearbeitet werden müssen.

Die Forschung an Impfstoffen und Behandlungsmethoden für die bekannten Viruserkrankungen hätte angemessen finanziert und ausgebaut werden müssen. Vor allem hätte man das Augenmerk auf den Gesundheitszustand der verwundbarsten Bevölkerungsgruppen in den Industrienationen und vor allem im globalen Süden richten müssen. Dass all diese Notwendigkeiten dem Drang zur Maximierung der Profite diametral entgegenstehen, ist allerdings auch jedem klar, der den Gang der Geschichte auch nur halbwegs aufmerksam beobachtet hat. Und so fand in derselben Periode intensiver Warnungen weltweit ein Abbau an Spitalsbetten und Gesundheitspersonal statt. Griechenland wurde von der Troika aus IWF, EZB und Europäischer Kommission gezwungen das Spitalswesen abzubauen.

Der unheilbare Riss

Das fehlende Element, das diese Faktoren verbindet, ist Arbeit, bzw. die Ausbeutung von menschlicher Arbeit im Kapitalismus als Vermittler im Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur. Marx hat sich ausführlich mit den Folgen des Endes der selbsttragenden Landwirtschaft beschäftigt. Der bahnbrechende deutsche Chemiker Justus Liebig veröffentlichte 1856 sein Werk über landwirtschaftliche Chemie, in dem er Störung des chemischen Gleichgewichts im Ackerbau leidenschaftlich thematisiert.

Marx entwickelte daraus sein Konzept des ökologischen Bruchs bzw. des „unheilbaren Riß“ (Marx im Originalwortlaut) im Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur unter den Bedingungen des Kapitalismus. Wenn Profitmaximierung die Bedingungen der Landwirtschaft diktiert, dann gibt es keine Nachhaltigkeit. Beispielweise werden Nahrungsmittel auf Böden angebaut, die solche Früchte von sich aus nicht tragen können. Oder die Produkte werden in die Städte transportiert, aber der menschliche Dung nicht zurück auf die Felder. Schließlich wurde zu Marx‘ Zeiten ein lebhafter Handel mit Guano aus Südamerika betrieben, der den Feldern in England wieder ihre Fruchtbarkeit zurückgeben konnte. Der Abbau davon geschah unter solch brutalen Bedingungen, dass die Arbeiter zugrunde gingen.

Marx und Engels empörten sich darüber, wie in diesem Kreislauf die irischen Bauern Hungersnöte litten, weil sie die Kartoffeln exportieren mussten und wie die Fabriksarbeiter an Mangelkrankheiten litten. Es ist ihr Verdienst, dass sie die fremdbestimmte Arbeit, die im Kapitalismus gänzlich der „Wertschöpfung“ untergeordnet ist, als das zentrale und verbindende Element festmachen. Erst wenn Arbeit als Vermittler zwischen Mensch und Natur selbstbestimmt stattfindet in einer Gesellschaft deren Priorität nicht Profit, sondern soziale und ökologische Bedürfnisse ist, kann der ökologische Bruch wieder geheilt werden, also im Sozialismus.