Generalstreik und bewaffnete Arbeiter: Kasachstan kurz vor der Revolution

Ausgelöst wurde die Revolte in Kasachstan durch eine vom IWF empfohlene Verdoppelung der Öl- und Gaspreise. In Windeseile weitete sich der soziale Protest gegen diese Maßnahmen zu einem Generalstreik der Arbeiter_innen aus. Der Streik blieb nicht bei ökonomischen Forderungen. Polizeistationen, Kasernen und Regierungsgebäude stehen in Flammen, Arbeiter_innen organisieren sich in Selbstverteidigungskomitees, staatliche Waffenlager werden kollektiviert, Nasarbajew – der quasi Diktator des Landes – flüchtete vermutlich nach Dubai. Zusammengefasst: Kasachstan steht kurz vor einer Revolution. Linkswende sprach mit Quellen vor Ort über die Entwicklungen im Land.
10. Januar 2022 |

„Die Protestaktionen begannen in den gas- und ölführenden Regionen im Westen des Landes, insbesondere in Zhanaozen, einer Stadt mit einer langen Geschichte von Arbeitskämpfen. Hier streikten 2011 die Beschäftigten der Bergbauindustrie, woraufhin die Behörden mit Staatsterror und der Erschießung von Arbeiterdemonstrationen reagierten.“ Laut der Regierung wurden damals 16 Menschen von Polizisten oder staatlich finanzierten Schlägerbanden ermordet, in Wahrheit dürften es deutlich mehr Menschen gewesen sein. Dieses Regierungsmassaker wurde nicht vergessen.

Chronologie der Eskalation

Direkt nach den ersten Protestaktionen in Zhanaozen wurde in der Region Mangistau am Montag dem 3. Jänner ein Generalstreik ausgerufen. Die zentralen Forderungen waren die Rücknahme der Preiserhöhung und eine hundertprozentige Lohnerhöhung. Diesen Forderungen schlossen sich Öl- und Minenarbeiter_innen im ganzen Land an. Am Mittwoch dem 5. Jänner stand die industrielle Produktion landesweit still. Begleitet wurde der Generalstreik von Massendemonstrationen und Angriffen auf Regierungsgebäude.

Nachdem die Rücknahme der Preiserhöhung die Massenbewegung nicht befriedigte, versuchte der Staat am 6. Jänner die Bewegung militärisch niederzuschlagen. Im ganzen Land gingen Polizei und Militär mit scharfer Munition gegen die Demonstrant_innen vor. Trotz tausender Verhaftungen und hunderter Toter ist der Versuch, die Bewegung militärisch zu zerschlagen, bis jetzt gescheitert. Zwei Gründe sind hierfür zentral: Das Überlaufen von Polizei und Militär zu den Aufständischen in den ländlichen Regionen und die Kampfbereitschaft der Aufständischen in den Städten.

Überlaufen von Polizei und Militär

Kasachstan ist in etwa so groß wie ganz Westeuropa, gleichzeitig leben gerade einmal 19 Millionen Menschen in dem Land. Aufgrund dieser relativen Bevölkerungsarmut gibt es in Kasachstan riesige Regionen, in denen das staatliche Gewaltmonopol schwach ist. Gerade in diesen Regionen mit wenigen Polizisten und Soldaten ist die Bindung zwischen Polizei und Bevölkerung enger als in den Großstädten. Viele Polizisten und Soldaten weigerten sich, gegen die Massenbewegung vorzugehen und einige liefen sogar zu den Aufständischen über.

Militanz der Bewegung

Im Unterschied zu den ländlichen Regionen kommt es in den Städten zu brutalen Konfrontationen zwischen Staatsapparat und Aufständischen. Die Stadt Almaty ist das Zentrum des offenen Kampfes. Demonstrant_innen zündeten Rathaus und Präsidentenpalast an und versuchten, die Hauptquartiere von Polizei und Militär zu stürmen.

Vom 8. auf den 9. Jänner wurden über 300 Polizeiautos in Brand gesetzt. Punktuell wurden Waffenarsenale des Staates geplündert und die Demonstrant_innen wehrten sich bewaffnet gegen die staatlichen Angriffe. Auch wenn nicht klar ist, wie die Konfrontation ausgehen wird: Durch den breiten Rückhalt innerhalb der Bevölkerung und die aktive Rolle der Arbeiter_innenklasse innerhalb der Massenbewegung stehen die Chancen auf einen Sieg der Aufständischen gut. 

Forderungen der Bewegung

Die Organisation Sozialistische Bewegung in Kasachstan fasst in einem Statement zusammen: „Die Proteste waren von Anfang an sozialer und klassenbezogener Natur. Die Verdoppelung des Flüssiggaspreises war lediglich der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.“

Die Forderungen der Bewegung sind zutiefst progressiv. Eine Liste der Forderungen laut unserer Quellen vor Ort:

  • Wechsel des politischen Regimes: die Machtübernahme durch eine als revolutionär anerkannte Person. Die vollständige Entmachtung Nasarbajews und aller seiner Stellvertreter, einschließlich des derzeitigen Präsidenten des Landes, Tokajew.
  • Volkswahlen der Akims (Bürgermeister, Gouverneure) jeder Region und jeder Stadt (derzeit werden diese Positionen durch Ernennung von oben besetzt).
  • Wiedereinführung der Verfassung von 1993 (diese Verfassung unterscheidet sich von der modernen Verfassung beispielsweise dadurch, dass das gesetzgebende Organ des Staates der Oberste Sowjet und nicht das Parlament ist).
  • Keine strafrechtliche Verfolgung von zivilen und politischen Aktivisten.
  • Senkung der Preise für Wohnraum und Versorgungsleistungen.
  • Senkung der Lebensmittelpreise.
  • Anhebung der Löhne für alle Arbeitnehmer.
  • Erhöhung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall.
  • Senkung des Rentenalters auf 60 Jahre für Männer und 58 Jahre für Frauen.
  • Senkung der Kraftstoffpreise. Erhöhung des Kindergeldes. Und einiges mehr.

Russland – Kraft der Konterrevolution

Die letzte Hoffnung der kasachischen Regierung, die Revolution zu verhindern, ist die Intervention Russlands. Als ehemalige Sowjetrepublik besitzt Kasachstan relativ enge Beziehungen zu Russland, nicht nur aus historischen Gründen, sondern auch, weil Russland neben China der engste Handelspartner Kasachstans ist. Der Export von Bodenschätzen wie Öl, Gas und Uran ist von zentraler Bedeutung für die kasachische Wirtschaft. Auf Ansuchen des kasachischen Premiers Tokajew entsandte der russische Präsident Putin Bodentruppen zur Niederschlagung des Aufstandes.

Statuensturz Nasarbajew

Russland legitimiert seine Truppenentsendung durch zwei Argumente:

1. Vergleichbar mit Weißrussland oder Syrien erfindet die russische Regierung die Lügengeschichte, die aktuellen Unruhen würden von ausländischen Agenten (allen voran der CIA) angezettelt. Zu glauben, die USA besäßen die Macht, hunderttausende Kasachen zu einem Kampf auf Leben und Tod gegen das Regime zu motivieren, ist blanker Unsinn. Abgesehen davon ist es falsch, zu glauben, Russland wäre ein anti-imperialistisches Regime, nur weil es andere geopolitische Interessen als die USA verfolgt.

2. In den nördlichen Regionen Kasachstans leben viele russischsprachige Menschen. Das russische Staatsfernsehen behauptet, diese wären von rassistischer Gewalt und antirussischen Ressentiments bedroht. Aber es „gibt es keine Beweise für antirussische Forderungen und Stimmungen unter den aufständischen Arbeitern. Die kämpfenden Arbeiter stellen keine Forderungen und Slogans, die darauf abzielen, ethnischen Hass, Chauvinismus oder Rassismus zu schüren. All das gibt es nur im Umfeld des russischen Nationalismus.“

Putin vor Problemen

Die russische Intervention läuft über das Militärbündnis OKVS (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit). In diesem Bündnis sind neben Russland noch Armenien, Weißrussland, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan. Insgesamt mobilisierte Russland 3.000, Weißrussland 500, Tadschikistan 200 und Armenien 70 Soldaten nach Kasachstan. Kirgisistan weigerte sich anfangs Truppen nach Kasachstan zu entsenden und erklärte sich für unbeteiligt. Dort war es  zuvor zu Solidaritätsprotesten mit der Massenbewegung in Kasachstan gekommen. Der Druck des russischen Präsidenten konnte den kirgisischen Präsidenten zum Einlenken bringen.

Auch in Weißrussland wird die Entsendung von Truppen unter russischer Führung nach Kasachstan von Teilen der oppositionellen Bevölkerung abgelehnt. Letzten Sommer brachte eine Massenbewegung der weißrussischen Arbeiter_innenklasse den Diktator Lukaschenko beinahe zu Fall. Auch damals stand die Entsendung russischer Truppen zur Niederschlagung des Aufstandes im Raum. Putin positioniert sich als Macht der Konterrevolution, welche alle aufständischen Bewegungen in der Region niederschlagen kann.

Doch Putins Spiel ist riskant und kann langfristig zur Destabilisierung seines Regimes beitragen. Es wird russischen Truppen nicht leichtfallen, das weitläufige Land gegen den Willen der Bevölkerung zu „stabilisieren“. Gleichzeitig besteht die Möglichkeit, dass sich die Massenbewegung auf weitere Staaten der OKVS ausweitet. Als Linke sollten wir unsere Solidarität mit den aufständischen Massen in Kasachstan gegen das reaktionäre Putin-Regime zum Ausdruck bringen.

>>Weiterlesen<< Ein Interview und Fragmente zum Aufstand in Kasachstan (https://sunzibingfa.noblogs.org)