Helen Keller

Die taub-blinde US-amerikanische Schriftstellerin Helen Keller wird meist auf die Rolle des behinderten Wunderkindes reduziert. Ihre Begeisterung für den Sozialismus und ihr Einsatz für eine gerechtere Welt werden dafür gern unter den Teppich gekehrt. Dabei lohnt sich der Blick auf ihr Leben als linke Aktivistin und Autorin, die von Persönlichkeiten wie Mark Twain tief bewundert wurde.
24. November 2020 |

Helen Keller kam 1880 im US-Staat Alabama zu Welt. Sie entwickelte sich zunächst normal und sprach bereits ihre ersten Worte, als sie mit eineinhalb Jahren an einer lebensgefährlichen Gehirnentzündung erkrankte. Das Kind überlebte, verlor jedoch sowohl Sehkraft als auch Gehör – ein Albtraum für Keller, konnte sie sich plötzlich nicht mehr mit ihrem Umfeld verständigen, was in verzweifelte Wutausbrüche ausartete. Dadurch, dass sie in einem sehr privilegierten Haushalt aufwuchs, hatte sie aber Glück im Unglück. Die Blindenlehrerin Ann Sullivan lehrte der damals Siebenjährigen über Tasteindrücke auf die Handfläche Zeichen, später Braille und Fingeralphabet und mit zehn Jahren sogar das Sprechen. Plötzlich stand ihr durch Sullivan, mit der sie bis zu deren Tod eng verbunden war, eine Welt des Wissens offen. Während ihres Studiums auf dem Radcliffe-College verschlang sie ganze Brailleschrift-Bibliotheken. Sie lernte die Sprachen Französisch, Deutsch und Latein und brannte regelrecht für Philosophie, Ökonomie und Politik.

Politisierung über Behindertenrechte

Obwohl sich Keller bisher in ihrem bürgerlichen Leben wohl fühlte, begann sie die herrschenden Verhältnisse grundlegend in Frage zu stellen, denn von den Möglichkeiten, die sie hatte, konnten die meisten behinderten Menschen nur träumen. Sie realisierte, dass Klasse und gesellschaftliche Faktoren wie Armut nicht von der Diskriminierung von Behinderten zu trennen sind: „Der blinde Mann, so sehr sein individuelles Leiden unser Herz auch anspricht, ist kein einzelner, getrennter Mensch, dessen Problem sich von selbst lösen kann, sondern ein Symptom der sozialen Fehlanpassung.“ Die Aufmerksamkeit, die auf sie wegen ihren Errungenschaften als Taubblinde gerichtet wurde, nutzte sie, um öffentlichkeitswirksam für andere politische und soziale Themen zu kämpfen, wie Frauenrechte und Antirassismus. Über 470 Reden und Essays aus um die 40 Jahren Aktivismus wurden archiviert, darunter auch ein Brief „an eine englische Suffragette“ aus 1911: „Ich bin entrüstet über die Behandlung der tapferen, geduldigen Frauen von England. Ich bin entrüstet, wenn die Konfektionsschneiderinnen in Chicago von der Polizei misshandelt werden. Ich bin erfüllt von Seelenangst, wenn ich an die Erniedrigung, die Sklaverei und die industrielle Tyrannei denke, welche Millionen zermalmen und Frauen und hilflose Kinder zu Boden drücken.“

Für den Sozialismus

Die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft war für Keller eine Notwendigkeit, denn solange die Arbeiter_innenklasse nicht frei ist, kann es auch keine andere unterdrückte Gruppe wirklich sein. All die verschiedenen Kämpfe, seien es der fürs Frauenwahlrecht, gegen den aufkommenden Faschismus oder gegen Behindertenfeindlichkeit, hängen mit den kapitalistischen Verhältnissen zusammen und können nicht getrennt voneinander betrachtet werden. Sie tritt der Socialist Party und wenige Jahre später der Gewerkschaft Industrial Workers of the World bei. Anfeindungen der bürgerlichen Presse, die sie auf ihre Behinderungen reduzieren, schüchterten sie nicht ein: „Es ist kein fairer Kampf oder ein gutes Argument, mich und andere daran zu erinnern, dass ich weder sehen noch hören kann. Ich kann lesen. Ich kann alle sozialistischen Bücher, für die ich Zeit habe, auf Englisch, Deutsch und Französisch lesen. Wenn der Herausgeber des Brooklyn Eagle einige davon lesen würde, wäre er vielleicht ein klügerer Mann und würde eine bessere Zeitung machen. Wenn ich jemals in der sozialistischen Bewegung das Buch, von dem ich manchmal träume, beisteuere, weiß ich, wie ich es nennen werde: Industrielle Blindheit und soziale Taubheit.“ In einer Rede von 1918 bewertete sie die Russische Revolution positiv als ein Experiment, echte Demokratie zu erreichen. Auch wenn Keller sich ab 1921 mehr darauf fokussierte, Spenden für Blindenorganisationen zu sammeln, blieb sie eine treue Unterstützerin von Kämpfen für eine gerechte Welt.

Facts:
• Geboren am 27. Juni 1880 in Tusumbia, Alabama, USA
• 1900: Aufnahme ins Radcliffe-College, ein Frauencollege, das als Erweiterung der damals rein männlichen Harvard Universität gegründet wurde
• 1904: Keller veröffentlicht mit nur 24 Jahren ihre Autobiographie Die Geschichte meines Lebens und schließt als erste taub-blinde Person einen Bachelor of Art-Abschluss ab
• 1909: Beitritt in die 1901 gegründete Socialist Party of America
• 1912: Keller tritt der Industrial Workers of the World (IWW) bei. Die 1905 gegründete Gewerkschaft stach damals neben anderen Organisationen hervor, da sie besonders die von der traditionellen Arbeiter_innenbewegung vernachlässigten gesellschaftlichen Gruppen wie Frauen, Afroamerikaner_innen und ungelernte Arbeiter_innen organisierte. Die IWW sah direkte Aktionen wie Streiks, Blockaden und Sabotage als wichtiges Mittel im Arbeitskampf.
• 1920: Keller hilft, die Bürgerrechtsunion American Civil Liverties Union (ACLU) mitzugründen. Die ACLU entstand als Reaktion auf den Red Scare, eine Ära, in der vor allem Kommunist_innen massiven staatlichen Repressionen ausgesetzt waren
• Verstorben am 1. Juni 1968