International Socialist Tendency: Statement zum Coronavirus.

Wir veröffentlichen das Statement der Strömung der Internationalen Sozialisten (IST) zum Coronavirus. Linkswende jetzt ist Teil dieser Strömung.
21. April 2020 |

1. Die Coronavirus-Pandemie wird im Allgemeinen als „Naturkatastrophe“, als „externer Schock“ für das normale Funktionieren des kapitalistischen Systems dargestellt, was nicht ganz der Wahrheit entspricht. Es gab immer wieder neue Ausbrüche von Grippe und Coronaviren (SARS, MERS, H5N1), bei denen Epidemiologen vor einer globalen Pandemie warnten. Die Bedingungen für diese Ausbrüche wurden, wie die Arbeiten marxistischer Biologen wie Rob Wallace gezeigt haben, durch die Ausbreitung der intensiven Massentierhaltung und das Eindringen von Markt und Kapital in entlegene Gebiete, in denen sich das Virus in Wildtier- und Vogelpopulationen weiterentwickelt, geschaffen.¹ Es ist ein gutes Beispiel für das, was Marx als „einen unheilbaren Riß hervor(ge)rufen in dem Zusammenhang des gesellschaftlichen und durch die Naturgesetze des Lebens vorgeschriebnen Stoffwechsels“ bezeichnete, der durch die kapitalistische Landwirtschaft entstanden ist, und ganz allgemein die Zerstörung der Natur, die den Klimawandel vorantreibt. Dies ist eine durch und durch kapitalistische Pandemie, die, wenn sie nicht bekämpft wird, etwa 40 Millionen Menschen das Leben kosten könnte (nach Prognosen des Imperial College London).

2. Die Reaktion der Staaten auf die Pandemie spiegelt die Prioritäten des Kapitals wider. In den fortgeschrittenen kapitalistischen Volkswirtschaften hat die neoliberale Sparpolitik eine minimale Notfallplanung (oder sogar, wie im Fall der Trump-Regierung, die Auflösung des Pandemieplanungsteams) und völlig ausgehöhlte Gesundheitssysteme hinterlassen. Die Regierungen schwankten zwischen einer minimalen Reaktion zur Aufrechterhaltung der Wirtschaft (wie im Fall der berüchtigten Strategie der „Herdenimmunität“, die es ermöglicht, dass sich die Infektion in der Bevölkerung ausbreitet und dabei das Leben der Schwachen aufs Spiel setzt, wie sie von Boris Johnson in Großbritannien versucht wurde und in den Niederlanden und Schweden immer noch umgesetzt wird) und den durch autoritäre Maßnahmen verhängten Sperren. Das Versäumnis, im Voraus zu planen und sich vorzubereiten, hat es viel schwieriger gemacht, die in einigen asiatischen Ländern verfolgte Strategie von Verfolgen-Testuen-Behandeln umzusetzen und hat so viele Tausende von Menschenleben gekostet, darunter auch das von Arbeiter_innen im Gesundheitswesens, die darum kämpfen, die überlasteten Intensivstationen am Leben zu erhalten.

3. Die Pandemie führt auch zu einer tiefen wirtschaftlichen Rezession, wahrscheinlich tiefer als die „Ggroße Rezession“ von 2008-2009. Auch daran ist nichts Natürliches. Es spiegelt die Natur eines Wirtschaftssystems wider, das von der Logik des Profits beherrscht wird. Lockdowns unterbrechen zwangsweiße die Produktion. Die Folgen der Schließung der chinesischen Wirtschaft zu Beginn des Jahres zogen sich durch die gesamte globale Lieferkette, und die Ausbreitung der Pandemie führt zur Schließung von ganzen Wirtschaftszweigen in der restlichen Welt. Aber in einer anderen Gesellschaft würde das nicht zu der sprunghaft ansteigenden Arbeitslosigkeit führen, die wir jetzt auf der ganzen Welt sehen. Die extreme Panik auf den Finanzmärkten zeigt die Instabilität einer Weltwirtschaft, die in den letzten zehn Jahren durch billiges Geld von Zentralbanken und eine enorme Anhäufung von Unternehmensschulden über Wasser gehalten wurde (ein Zustand, der durch die Entscheidung Russlands und Saudi-Arabiens, einen Ölpreiskrieg zu führen, noch verschärft wurde). Die Flucht zum Bargeld (vor allem Dollar), die wir auf dem Höhepunkt des Absturzes 2007-2008 gesehen haben, hat die Märkte eingefroren und alle Vermögenspreise nach unten gedrückt. Die Staaten greifen heute in noch größerem Umfang ein als damals, überschwemmen das Finanzsystem mit Liquidität und greifen den Unternehmen, insbesondere Großkonzernen, mit unzähligen Formen der Unterstützung unter die Arme. Zu diesen Maßnahmen gehören häufig auch Formen der Einkommensunterstützung für entlassene Arbeiter_innen, die in ihrer Höhe und Verfügbarkeit jedoch ziemlich limitiert sind. Arbeiter_innen  im wachsenden informellen Sektor (z.B. in der Gig-Ökonomie, wo Arbeiter_innen oft gezwungen sind, sich als „Selbständige“ zu bezeichnen) und Migrant_innen ohne Papiere sind davon meist ausgeschlossen. Wieder einmal ging es vorrangig um die Sicherstellung der Profite und nicht um das Leben und den Lebensunterhalt der einfachen arbeitenden Menschen.

4. Regierungen verwenden angesichts der Pandemie häufig eine Kriegsrethorik und appellieren an ein angebliches gemeinsames nationales Interesse. Aber die wirkliche Last der Krise tragen die Arbeiter_innen. Beschäftigte im Gesundheitswesen sind oft gezwungen ihr Leben ohne ausreichende persönliche Schutzausrüstung zu riskieren. Während einige Gruppen von Arbeiter_innen in der Lage sind, von zu Hause aus zu arbeiten, sind viele andere gezwungen weiter zu arbeiten, oft intensiver und in größerem Umfang, und oft unter Bedingungen in denen soziale Distanzierung praktisch unmöglich ist. Beispielsweise in landwirtschaftlichen Betrieben und Fabriken, Supermärkten und Apotheken, Lagerhäusern, Lieferbetrieben, der Müllentsorgung, Bussen und Zügen. Die Arbeiter_innen des informellen Sektors, die vor allem in weiten Teilen des globalen Südens die städtische Bevölkerung dominieren, sind von lockdowns besonders stark betroffen, weil sie damit augenblicklich von Verdienstmöglichkeiten abgschnitten wurden, wie wir bei der verzweifelten Flucht von Millionen von Wanderarbeiter_innen aus den Städten Indiens gesehen haben. Covid-19 hat eindringlich daran erinnert, dass die Welt des globalisierten Kapitalismus im 21. Jahrhundert noch immer auf Arbeit angewiesen ist – Arbeit die jetzt neuen Gefahren ausgesetzt ist.

5. Zur Selbstverteidigung greift das System auf bewährte Taktiken zurück: Teile und herrsche. Trumps beharrliche Rede von einem „chinesischen Virus“ hat eine Unzahl rassistischer Angriffe und Beleidigungen gegen ostasiatische Menschen legitimiert. Migrant_innen und Flüchtlinge sind besonders verwundbar, wie die schrecklichen Szenen an der Grenze zwischen der Türkei und Griechenland gezeigt haben. Die Staaten sind damit beschäftigt, sich mit zusätzlichen repressiven Maßnahmen zu bewaffnen, die sie nur ungern aufgeben werden, wenn die unmittelbare Krise vorüber ist. Das Schuldzuweisungsspiel zwischen den Vereinigten Staaten und China und die Lähmung innerhalb der Europäischen Union werden die interimperialistischen Rivalitäten vertiefen.

6. Mit anderen Worten: Die Coronavirus-Krise entsteht aus den Umständen, die durch die moderne Form der Kapitalakkumulation geschaffen werden, und ihre Folgen werden durch Klassengegensätze und die interkapitalistische Konkurrenz vermittelt, die die kapitalistische Gesellschaft ausmachen. Aber die offiziellen Führer der Linken und der Arbeiter_innenbewegung haben sich den Forderungen der Regierung nach nationaler Einheit angeschlossen. Sozialdemokratische Politiker und Gewerkschaftsführer haben sich weitgehend der offiziellen Politik angeschlossen und die Maßnahmen zur Stützung der Wirtschaft begrüßt, obwohl diese zur Rettung von Profiten und nicht von Leben ausgerichtet sind. Doch trotz der einschränkenden Wirkung dieser Positionen haben Gruppen von Arbeiter_innenn, vor allem in Frankreich, Italien und den USA, Maßnahmen ergriffen, die die Schließung nicht unbedingt notwendiger Arbeitsplätze erzwangen und verlangen dort nach Schutzausrüstung, wo sie weiter arbeiten müssen. Diese grundlegende Reaktion der Arbeiter_innenklasse muss durch weitere Aktionen ausgeweitet werden und in einem Programm verallgemeinert werden, das zu einer Säule des Kampfes wird.

7. Dieses Programm sollte Forderungen wie diese enthalten:

– Staatliche Lenkung der Wirtschaft, um die Ressourcen auf die Gesundheitsversorgung und die Herstellung von Schutzausrüstung für Patient_innenen und Gesundheitsarbeiter_innen umzuverteilen;

– Die dauerhafte Bereitstellung einer kostenlosen bedarfsorientierten Gesundheitsversorgung die durch eine progressive Besteuerung angemessen finanziert wird;

– Diese Umverteilung von Ressourcen soll durch drastische Kürzungen der Militärausgaben finanziert werden;

– Als wesentliche Arbeitskräfte sollten die gelten, die einen wesentlichen Beitrag zum Wohlergehen der Bevölkerung leisten, ihnen sollten sichere Bedingungen für die Fahrt zur Arbeit und die Ausübung ihrer Tätigkeit geboten werden;

– Alle nicht wesentlichen Arbeiter_innen, die nicht in der Lage sind von zu Hause aus zu arbeiten, sollten unabhängig von ihrem rechtlichen Status einen existenzsichernden Lohn erhalten;

– Staatliche Finanzhilfe für die Gemeinden, um mit Unterstützung lokaler Kommunalbehörden die Unterstützung der Bedürftigen zu organisieren und die angemessene Verteilung von Nahrungsmitteln, Medikamenten und anderen Notwendigkeiten sicherzustellen

 – Verstaatlichung ohne Entschädigung von Firmen, die versuchen die Krise auszunutzen;

– Keine rassistische Sündenbockpolitik: Schließung der Flüchtlingszentren und Bereitstellung von Wohnraum, in dem sie sich selbst isolieren können, sowie Gewährung des Bleiberechts (wie in Portugal, nur noch besser),

– Verteidigung der bürgerlichen Freiheiten: keine Sondervollmachten für die Polizei. Einschränkungen der Bewegungsfreiheit müssen von den lokalen Communities durchgesetzt werden.

8. Die Covid-19-Pandemie hat die Grenzen des Kapitalismus deutlich offengelegt. Rechte Regierungen wie die von Trump, Merkel und Johnson waren gezwungen in Bereiche einzudringen, die dem Staat im Rahmen des Neoliberalismus verboten waren. Die Staaten intervenierten in vielen wirtschaftlichen Bereichen, und verteilten Aufträge zur industriellen Produktion und  Bereitstellung von erforderlicher medizinischer Ausrüstung.   Auch wenn diese Politik nicht ausreicht und von oben herab durchgeführt wird, um den Kapitalismus zu schützen, zeigt sie doch, dass es eine Alternative zum neoliberalen Kapitalismus gibt.  Dies ist genau in dem Moment geschehen, in dem die Pandemie selbst – wie die ostafrikanischen Überschwemmungen und die Brände im Amazonasgebiet im vergangenen Jahr oder die australischen Waldbrände Anfang 2020 – das Ausmaß der Naturzerstörung durch den Kapitalismus offenbart haben. Mit anderen Worten: ein echter Sozialismus, in dem die arbeitenden Menschen die demokratische Kontrolle über die Welt und ihre Ressourcen übernehmen und für den Bedarf und das Wohl aller anstatt für Profit produzieren, ist sowohl möglich als auch notwendig. Es darf keine Rückkehr zu der Normalität geben, die diese Katastrophen hervorbringt. Die Pandemie ist ein beängstigendes Ereignis, das die wahre Zerstörungskraft des Kapitalismus demonstriert. Aber eine kraftvolle politische Reaktion der Linken kann die Grundlage für eine andere Art von Welt legen, in der die Menschheit eine Zukunft hat.

Übersetzt aus dem Englischen von Martin Völkl

 ¹ Rob Wallace, Alex Liebman, Luiz Fernando Chaves, und Roderick Wallace, „Covid-19 and the Circuits of Capital”, Monthly Review (27 March 2020) https://monthlyreview.org/2020/03/27/covid-19-and-circuits-of-capital/, Rob Wallace, „Coronavirus: ‘Agribusiness would Risk Millions of Deaths’” (11 March 2020) https://www.marx21.de/coronavirus-agribusiness-would-risk-millions-of-deaths/ and Joseph Choonara, „Socialism in a Time of Pandemics”, International Socialism 166 (Spring 2020), http://isj.org.uk/socialism-in-a-time-of-pandemics/