Israel als koloniale Ausnahme – Warum Befreiung von der arabischen Arbeiterklasse abhängt
Der israelisch-palästinensische Konflikt nimmt im Rahmen des Kolonialismus und der Arbeitsbeziehungen eine einzigartige Stellung ein. Im Gegensatz zu klassischen Kolonialstaaten, in denen die Wirtschaft der Siedler in hohem Maße auf die Ausbeutung der Arbeitskraft der einheimischen Bevölkerung abhängig gemacht hat, hat Israel die Palästinenser:innen weitgehend von der Teilnahme an Arbeit und Wirtschaft ausgeschlossen. Dieser strukturelle Unterschied hat tiefgreifende Auswirkungen auf Klassenkampf, Solidarität und die Aussichten auf Veränderungen. Aktive Vorreiter dieser Politik der Exklusion war und ist der Gewerkschaftsverband Histadrut. Die israelischen Gewerkschaften verstanden sich schon lange vor der Staatsgründung als rein „hebräische“ Organisationen, die auch mit Gewalt gegen die Anstellung arabischer Arbeitskräfte vorgingen.
Warum eine Ausnahme
Die Ökonomien klassischer Siedlerkolonien wie Südafrika oder Französisch-Algerien stützten sich auf die Ausbeutung indigener Arbeitskräfte. Beide Kolonialstaaten fielen auf Druck von Aufständen und Streiks der einheimischen Arbeiter:innen.
Nur vorübergehend, nach der Besetzung des Westjordanlands und des Gazastreifens im Jahr 1967 integrierte Israel palästinensische Arbeitskräfte in seine Wirtschaft, insbesondere in Niedriglohnsektoren wie dem Baugewerbe und der Landwirtschaft. Seit den 1990er Jahren haben jedoch Maßnahmen wie Abriegelungen, Kontrollpunkte und der Bau der Trennmauern diese Abhängigkeit drastisch verringert. Stattdessen hat sich Israel ausländischen Wanderarbeiter:innen zugewandt und seine Wirtschaft weiter von der palästinensischen Arbeit abgekoppelt. Infolgedessen können palästinensische Arbeitnehmer:innen keinen Druck auf die israelische Politik oder Wirtschaft ausüben, indem sie streiken und die Arbeit niederlegen. Diese Tatsache steht in krassem Gegensatz zu den Instrumenten, die der schwarzen Arbeiter:innenklasse Südafrikas zur Verfügung standen, um dem sie unterdrückenden Apartheidregime entgegenzutreten. Die schwarze einheimische Bevölkerung stellte eine Mehrheit von 80 % der Gesamtbevölkerung. Schwarze Arbeiter blieben während der gesamten Apartheidherrschaft von zentraler Bedeutung für das Funktionieren der südafrikanischen Wirtschaft. Daher konnte ein Wandel von innen heraus in dem Moment entstehen, als die schwarze Arbeiter:innenklasse massive Streiks initiierte, die eine Welle des Widerstands auslösten.
Im Gegensatz zu klassischen Kolonialstaaten, in denen die Wirtschaft der Siedler in hohem Maße auf die Ausbeutung der Arbeitskraft der einheimischen Bevölkerung abhängig gemacht hat, hat Israel die Palästinenser:innen weitgehend von der Teilnahme an Arbeit und Wirtschaft ausgeschlossen.
Im Falle Palästinas waren die Dutzenden von kleinen Gewerkschaften im Westjordanland oder innerhalb der Grenzen von 1967 weniger erfolgreich bei der Störung der israelischen Wirtschaft. Dies ist hauptsächlich auf die Funktionsweise des Apartheidsystems zurückzuführen. Es verbietet zum Beispiel den Gewerkschaften, die palästinensische Wanderarbeiter in Israel vertreten, „direkte Kontakte und Verhandlungen mit israelischen Arbeitgebern durch die rechtlichen Strukturen der Besatzung“. Außerdem ist der palästinensische öffentliche Sektor in hohem Maße von israelischen Geldern abhängig. In Verbindung mit der unaufhörlichen Zerstörung der Wasserinfrastruktur und der Landnahme, die der Industrie und der Landwirtschaft schadet, schwächt dies die Macht der palästinensischen Arbeiter:innenklasse.
Versagen israelischer Arbeiterklasse
Klassenbewusstsein war in Israel stets etwas Nationalistisches. Arbeiter:innenviertel in Israel sind Hochburgen rechtsextremer Parteien, die für den Ausbau der illegalen Siedlungen und für militärische Aggressionen gegen Palästinenser eintreten. Die wirtschaftlichen Kämpfe werden in diesen Gemeinschaften eher in die Unterstützung ethno-nationalistischer Politiken als in klassenbezogene Forderungen kanalisiert. Inmitten des derzeitigen völkermörderischen Krieges gegen die Menschen in Gaza zeigen Umfragen das Ausmaß der Entmenschlichung, das die israelische Gesellschaft im Allgemeinen und auch die Arbeiterklasse durchdrungen hat. Auf die Frage, ob die IDF-Offensive das Leiden der palästinensischen Zivilbevölkerung bei ihren Operationen berücksichtigen sollte, antworteten vier von fünf jüdischen Israelis mit Nein.
Die Komplizenschaft der Gewerkschaften ist beispielhaft für die Verstrickung zwischen der Arbeiter:innenklasse und dem Streben nach einem Ethnostaat. Die israelische Generalorganisation der Arbeiter:innen, Histadrut, veranschaulicht diese Dynamik. Die 1920 im britischen Mandatsgebiet Palästina gegründete Histadrut machte es sich zur Aufgabe, jüdische Arbeiter gegenüber palästinensischen Arbeitern zu bevorzugen, Solidarisierung zwischen palästinensischen und jüdischen Arbeitern zu verhindern und dem Staat eine Apartheidpolitik aufzuzwinegn. Während der britischen Mandatszeit arbeitete sie mit der jüdischen Kolonialagentur (Jewish Colonial Agency) zusammen, verweigerte der arabischen Bevölkerung das Recht auf Selbstbestimmung, und verhinderte die Aufnahme von Araber:innen in ihre Gewerkschaft. Sie spielte eine zentrale Rolle beim Aufbau von zwei Institutionen: den Kibbuzim, selbstorganisierten Farmen auf ehemals palästinensischem Land, und der Haganah, der jüdischen paramilitärischen Organisation, die vor und während der Nakba 1948 Massaker an Araber:innen verübte und aus der später die israelische Armee hervorging. Eine der Schandtaten der Histadrut war die Zerschlagung von Gewerkschaften mit einer gemischten arabischen und jüdischen Mitgliedschaft, wie z. B. der Eisenbahn-, Post- und Telegrafenarbeiter. Während des Generalstreiks 1936/39 arbeitete die Histadrut mit den britischen Streitkräften zusammen, um den palästinensischen Streik zu unterdrücken, indem sie jüdische Streikbrecher anstelle palästinensischer Arbeiter:innen einsetzte. Darüber hinaus wies sie neu angekommene jüdische Siedler an, nicht auf arabische Arbeitskräfte zurückzugreifen, boykottierte arabische Waren und ermutigte die Zerstörung arabischer Märkte als Angriff auf arabische Arbeiter. Aus der Histadrut ging die Arbeitspartei Israels hervor, deren bekannteste Mitglieder von Anfang an die ethnische Säuberung Palästinas von der arabischen Bevölkerung als zentrales Ziel aller zionistischen Organisationen bezeichneten. Die ehemalige Premierministerin Golda Meir beispielsweise sagte Jahrzehnte später, als sie 1928 dem Exekutivkomitee beitrat, sei die Histadrut „nicht nur eine Gewerkschaftsorganisation gewesen. Sie war ein großes kolonisierendes Unternehmen“.
In Anbetracht dieser Geschichte ethnischer Exklusivität in den wichtigsten Gewerkschaften überrascht es nicht, dass die Logik der wirtschaftlichen Kämpfe heute in Israel innerhalb der Grenzen Israels bleibt, am Nationalismus und der jüdischen Vorherrschaft festhält und vom kolonialen Status quo profitiert. Aus diesem Grund werden Fragen zur militärischen Besatzung nie diskutiert, wenn die Gewerkschaften bessere Löhne oder Arbeitsbedingungen fordern. Selbst eher linke Gewerkschaften wie Koach laOvdim („Macht den Arbeitern“), die auch palästinensische Bürger Israels als Mitglieder aufgenommen haben, haben sich nicht vom Zionismus abgewandt.
Sumaya Awad und Daphna Thier bringen es auf den Punkt, wenn sie erklären, dass „die Gewerkschaften in Israel von ihren jüdischen Mitgliedern nach rechts gezogen werden. Um neue Mitglieder zu gewinnen, müssen sie die Frage der Besatzung beiseitelassen. Andernfalls verdammen sie sich selbst zur Marginalität. Das liegt in der Natur der Arbeit in einer Apartheidwirtschaft. Die fast vollständige Trennung bedeutet, dass Juden und Palästinenser absichtlich selten als Kollegen zusammenarbeiten. Stattdessen sind sie getrennt, was den Rassismus verfestigt und sicherstellt, dass nationale Loyalität das Klassenbewusstsein übertrumpft.“
Limits israelischer Protestbewegungen
Eine Möglichkeit, diesen Punkt zu betrachten, ist die Entwicklung der aktuellen Proteste in Israel. Im Juli 2011 breitete sich der Arabische Frühling endlich auch nach Israel aus und löste soziale Unruhen aus, die sich schon seit Jahren anbahnten. Studenten versammelten sich auf dem Rothschild Boulevard in einem wohlhabenden Viertel von Tel Aviv, um gegen die hohen Mieten in den Hochhäusern und die unbezahlbaren Hypotheken zu protestieren. Ihre Initiative „verbreitete sich wie ein Lauffeuer“, und innerhalb weniger Tage waren Hunderttausende unzufriedener Israelis auf der Straße, was sich bald zur größten Massendemonstration in der Geschichte Israels entwickelte. Die Menschen hatten genug von der neoliberalen Politik. Der Protest ging jedoch nie so weit, dass er die Besatzung und das Apartheidsystem im weiteren Sinne anprangerte. Die Organisatoren (wie auch die Gesellschaft) waren nicht bereit, den umfassenderen israelisch-palästinensischen Konflikt in Frage zu stellen. Der Inhalt war ähnlich wie bei den spanischen und griechischen Protesten, ihre Forderungen waren hauptsächlich sozioökonomischer Art. Auch die groß angelegten Proteste gegen die Justizreform des Obersten Gerichtshofs im Jahr 2023, haben die arabischen Israelis nicht eingebunden. Deren Themen, die gleiche Staatsbürgerschaft, die Beendigung der Besatzung und die Ausbreitung der Kriminalität in der arabischen Gesellschaft, wurden bei den Protesten ignoriert. Die Vorstellung, dass ein Staat, der als Besatzungsmacht das Leben von Millionen von Menschen einschränkt, keine Demokratie sein kann, kam den Demonstrierenden nicht in den Sinn. Viele kritisierten auch, dass der Protest nur auf die Wiederherstellung des Rechtsrahmens vor der Reform abzielte, also vor der Regierung Netanjahu, und dass die Araber kein Interesse daran hätten, „ein Gericht zu verteidigen, das die Palästinenser nicht verteidigt“.
Die jüdische israelische Arbeiterklasse hat auch ökonomisch kein Interesse daran, diese Konstellation zu ändern, da sie von der Besatzung profitiert. Einem Bericht des Zentralamts für Statistik zufolge verdienen Juden in Israel fast doppelt so viel wie palästinensische Israelis. Im Oktober 2024 lag die Arbeitslosenquote in Israel bei 2,7 Prozent. Jenseits der Trennungsmauer im Westjordanland lag sie bei 34,9 Prozent und im Gazastreifen erreichte sie inmitten des Krieges Israels gegen die Menschen schwindelerregende 80 Prozent. Ein Ende der Besatzung würde die materiellen Interessen der jüdischen Arbeiterklasse bedrohen, weshalb sich der Mangel an Klassensolidarität zwischen den nationalen und ethnischen Linien in der israelischen Wirtschaft festgesetzt hat.
Die Rolle der arabischen Eliten
Israel hat zwar eine autarke Siedlerkolonialwirtschaft aufgebaut, ist aber nach wie vor in hohem Maße auf internationale und regionale Unterstützung angewiesen. Vor allem die arabischen herrschenden Klassen haben eine entscheidende Rolle bei der Aufrechterhaltung der israelischen Vorherrschaft gespielt, indem sie ihren eigenen wirtschaftlichen und politischen Interessen oft Vorrang vor der Solidarität mit der palästinensischen Sache einräumen.
In den letzten Jahren kooperieren arabische Regierungen zunehmend mit Israel, sowohl offen als auch verdeckt. Die Normalisierungsabkommen im Rahmen des Abraham-Abkommens haben beispielsweise Länder wie die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain und Marokko in formelle Bündnisse mit Israel gebracht. Diese Abkommen verschaffen Israel Zugang zu regionalen Märkten und Investitionsmöglichkeiten, was seine Wirtschaft stärkt und seine Abhängigkeit von westlicher Unterstützung verringert.
Gleichzeitig haben die arabischen Regime aus Angst vor Aufständen im eigenen Land den pro-palästinensischen Aktivismus innerhalb ihrer Grenzen systematisch unterdrückt.
Ägypten und Jordanien unterhalten trotz ihrer historischen Konflikte mit Israel solide Energie- und Sicherheitspartnerschaften mit dem Staat. Diese Beziehungen stabilisieren Israels Wirtschaft und geopolitische Position und ermöglichen es dem Land, die Besatzung und sein allgemeines koloniales Projekt aufrechtzuerhalten.
Potenzial der arabischen Arbeiterklasse
Die Hoffnung auf einen bedeutenden Wandel liegt nicht in Israel, sondern in der Mobilisierung der Arbeiter:innenklasse in den benachbarten arabischen Ländern. Diese Bevölkerungen haben ihre eigenen Kämpfe gegen autoritäre Regime, wirtschaftliche Ungleichheit und Ausbeutung im In- und Ausland. Ihre Beschwerden überschneiden sich mit dem breiteren antiimperialistischen Kampf, in dem die palästinensische Befreiung eine zentrale Rolle spielt.
Der Arabische Frühling hat gezeigt, welche Kraft die Massenmobilisierung hat, um festgefahrene Regime im gesamten Nahen Osten herauszufordern. Der Sturz lang herrschender Diktaturen wie Ägyptens Mubarak oder Tunesiens Ben Ali innerhalb weniger Monate erschütterte die Grundfesten des israelischen Sicherheitsapparats, der weitgehend auf offiziellen und stillschweigenden Friedensvereinbarungen mit den herrschenden Eliten in den arabischen Nachbarländern beruhte, Vereinbarungen, die von der arabischen Straße nie akzeptiert wurden.
Siegreiche Arbeiter:innenbewegungen in den Golfstaaten und anderen arabischen Ländern würden Partnerschaften mit Israel in Frage stellen. Schon Streiks in Sektoren, die mit den Abraham-Abkommen verbunden sind, wären eine Bedrohung für die diplomatischen Beziehungen.
Israel im Weltgefüge
Israels Rolle für die USA, der Führungsmacht des westlichen Imperialismus, ist die eines „unsinkbaren Schlachtschiffs“ Amerikas im Nahen Osten, wie es der ehemalige Verteidigungsminister Caspar Weinberger formulierte. Israel kann jederzeit jede arabische Hauptstadt angreifen und seine aggressive Präsenz soll eine panarabische Einigung und Emanzipation vom westlichen Imperialismus verhindern. Eine erfolgreiche arabische Revolution wäre das Ende dieser Rolle. Ob Israel dann fallengelassen würde, ob es auf die Seite Chinas wechselt, oder bis zum Atomkrieg verteidigt wird, können wir nicht vorhersagen.
Wir wollen die herrschende Weltordnung beendet sehen, damit die menschliche Zivilisation und die Artenvielfalt eine Zukunft haben, und diese Ordnung wäre auf alle Fälle zutiefst erschüttert. Der Prozess wird mit Sicherheit chaotisch und es wird eine mächtige revolutionäre Bewegung brauchen, ihn zu Ende zu bringen. Aber solange die imperialistische Weltordnung weiter besteht, steuert die Menschheit immer schneller auf den Abgrund zu.
Deshalb ist Solidarität mit Palästina und den nächsten arabischen Revolutionen so zentral für Revolutionäre auf der ganzen Welt.