Kippelemente: Polareis und Ozeane

Für die Politik der Klimagerechtigkeitsbewegung sind die wissenschaftlichen Untersuchungen über Kippelemente im Erdsystem absolut entscheidend. Die zu erwartenden sprunghaften qualitativen Veränderungen des Weltklimas verlangen nach dementsprechend radikalen Gegenmaßnahmen. Kleine oder zu langsame Maßnahmen können die Katastrophe nicht verhindern und kaum verzögern.
12. November 2019 |

Der Weltklimarat hat am 25. September seinen dritten Sonderbericht veröffentlicht. Diesmal mit dem Schwerpunkt über den Ozean und die Kryosphäre in einem sich wandelnden Klima. (Als Kryosphäre definiert man alle gefrorenen Komponenten des Erdsystems: Schneedecke, Gletscher, Eisschilde, Eisschelfe, Eisberge, Meereis, See-Eis, Flusseis, Permafrost und saisonal gefrorenen Boden.) Der Zusammenbruch eines Kippelementes, z.B. das Abschmelzen des Polareises, kann sich auf zahlreiche scheinbar weit entfernte Elemente auswirken, wie die tropischen Korallenriffe, die Monsunregen oder das El-Niño-Phänomen.

Der Bericht

Die Erde könnte einen drastischen Verlust der Fischbestände erleben, einen hundertfachen Anstieg von Schäden durch Superstürme und die Vertreibung von Millionen Menschen durch steigende Meeresspiegel, wenn die Emissionen von Treibhausgasen nicht bald und drastisch zurückgefahren werden, so der Bericht der Wissenschaftler_innen.

Der Bericht gliedert sich in die schon beobachtbaren Veränderungen, ihre Auswirkungen auf die Ökosysteme und auf die Menschheit und er leistet eine Vorschau auf zukünftig zu erwartende Veränderungen und ihre Auswirkungen. Beides, schon stattgefundene und die projizierten zukünftigen Veränderungen, liefern beklemmende Bilder. Die großen Eisschilde Grönlands und der Antarktis verlieren unfassbare Mengen an Wasser. Der Nordpol, dessen Eis auf Wasser schwimmt, könnte erstmals im Sommer 2030 eisfrei sein. Die Gletscher der Gebirge gehen denselben Weg, geben vorerst zu viel Wasser ab um danach als Speicher und Quellen für die großen Flusssysteme wegzufallen. Die Ozeane erwärmen sich, der Meeresspiegel steigt, wegen der thermischen Ausdehnung des Ozeans und wegen der Unmengen Schmelzwasser. Gleichzeitig werden die Ozeane saurer, weil sie CO2 einlagern.

CC BY-SA 4.0


Der Bericht enthält Modelle für verschiedenste Ökosysteme, wie Warmwasserkorallen, Kelpwälder, Meereis-abhängige Ökosysteme, und viele mehr. Er projiziert aber auch Auswirkungen auf verschiedene geografische Regionen und menschliche Systeme, wie Landwirtschaft, Fischfang, Migration, Infrastruktur usw. Er geht auch auf unerwartete menschliche Dimensionen ein, wie Gender-Ungleichheit, den Verlust von indigenem bzw. lokalem Wissen oder von sozialem Kapital.

Die Zusammenhänge

Die wärmeren Ozeane haben schon in den letzten Jahren gigantische Katastrophen ausgelöst. Sie führen zu höheren Windgeschwindigkeiten, zu Zunahmen von Niederschlägen, von tropischen Wirbelstürmen und von extremen Wellen. Die Folgen sind für die Ökosysteme und die Menschen vor allem an den Küsten verheerend, aber durch Extremwetterlagen bis weit ins Binnenland spürbar. Bei aller Schrecklichkeit des Sonderberichts ist die wissenschaftliche Arbeit, die dahinter steckt, einfach beeindruckend. Klimaforscher haben es mit ungemein komplizierten Abläufen zu tun und versuchen diese in gigantische Rechenmodelle einzubauen.

Höhenwinde

So wurden die Extremwetterlagen der vergangenen Jahre schon lange zuvor prognostiziert. Es wurde aus der Erwärmung der Arktis, die zwei bis dreimal stärker ist als die Erwärmung gemäßigter Breiten, geschlossen, dass sich der Jetstream derart verändern würde, dass Wetterphänomene einer Region viel ausgeprägter werden können. Sogar auf so kleinem Raum wie Österreich hatten wir regionale Extremwetterlagen (vor allem Kärnten und Steiermark wurden wochenlang von Starkregen und Gewittern beherrscht, während etwas weiter nördlich wochenlange Hitzewellen zu Dürre und Ernteausfällen geführt haben). Die lange anhaltenden Hitzewellen in Europa von 2003, 2006, 2015 und 2018 werden auf den menschengemachten Klimawandel und seine Wirkung auf den Jetstream zurückgeführt.

© Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung


Der nördliche Jetstream ist ein Starkwindband, das in großer Höhe, zwischen 8 und 12 Kilometer, mit Geschwindigkeiten von 200 bis 500 km/h den Nordpol umkreist. Er entsteht aufgrund der Temperaturunterschiede (bzw. Luftdruckdifferenzen) zwischen den polaren und tropischen Regionen. Weil sich die polaren Regionen schneller erwärmen, nehmen die Temperaturunterschiede ab und schwächen den Jetstream. Die Rossby-Wellen des Jetstreams ziehen dadurch langsamer. Liegt so eine Welle genau über Österreich und verharrt dort auch noch längere Zeit, dann dominiert auf einer Seite der Welle ein Hochdruckgebiet, auf der anderen ein Tief. Durch die Abschwächung des Jetstreams wird allerdings auch die Polarluft weniger stark abgeschirmt, deshalb kann es häufiger zum Ausbrechen der Polarluft kommen. Dabei entstehen starke Ausbuchtungen nach Süden des Polarwirbels, die dann zu polarer Kälte z.B. in den USA oder Europa führen.

Lichtreflexion

Albedo nennt man das Reflexionsvermögen von Sonnenlicht durch Oberflächen. Die Albedo der großen Schnee- und Eisflächen war mitverantwortlich für die bemerkenswerte Stabilität des Klimas im Holozän. Schmilzt Eis, oder bleibt Schneefall aus, dann kommt darunter dunkleres Festland oder Meerwasser zum Vorschein, das sich und die Atmosphäre erwärmt und das weitere Abschmelzen der übrigen Eisflächen verstärkt. Die verringerte Reflexion von Sonnenlicht trägt zur Erwärmung der Oberflächen bei und beeinflusst so den gesamten Energiehaushalt der Erde. In der Folge verdunstet auch mehr Wasser und dieses Wasser wirkt in der Atmosphäre ebenfalls als Treibhausgas und trägt dazu bei, dass große Stürme und Extremwetterlagen häufiger auftreten. Das Abschmelzen der Eisflächen ist unter anderem deshalb ein klassisches, sich selbst verstärkendes Phänomen. Einfluss der abnehmenden Albedo auf lokale Wetterphänomene konnte mit einiger Sicherheit bisher nur in großen Bergregionen des Himalayas nachgewiesen werden.

Permafrostböden

Das Auftauen der Permafrostgebiete ist ebenfalls eine Folge der schnelleren Erwärmung der Arktis. In den Permafrostböden wird seit tausenden Jahren organisches Material eingelagert. Wird es wegen des Auftauens durch Mikroorganismen abgebaut, dann entsteht neben CO2 Methan, ein sehr potentes Treibhausgas. Zwischen 1460–1600 Gigatonnen (Milliarden Tonnen) organischer Kohlenstoff liegt in den polaren und borealen Permafrostböden gelagert. Schon heute taut oberflächennaher Permafrost auf, aber es ist noch unklar, ob die entstehenden Emissionen schon einen Nettoeffekt auf die Atmosphäre haben, oder noch von verstärktem Pflanzenwachstum kompensiert werden. Auf alle Fälle muss verhindert werden, dass die großen Permafrostgebiete, wie die Yedoma Region, großflächig und in die Tiefe auftauen, weil dann die Klimaerwärmung völlig entgleisen würde. Große Mengen Methan sind auch am Grund der Polarmeere gelagert und man befürchtet, dass diese Vorkommen instabil werden könnten.

Der Golfstrom

Weiters wirkt sich die Erwärmung der Arktis auf die großen Meeresströmungen aus, der Golfstrom ist die geläufigste dieser Strömungen. Diese haben nicht nur Einfluss auf die Entstehung von Wetterphänomenen. Sie tragen auch entscheidend zur Stabilität des Klimas bei und sie sind lebenswichtig für die Ökologie der Ozeane, indem sie die Ozeane umwälzen und durchmischen. Ein Motor dieser großen Umwälzbewegung ist das Eis der polaren Regionen. Wo das Meerwasser gefriert, reichert sich Salz im Ozean an und das salzreichere, schwerere Wasser sinkt in die Tiefe. Weil vom Grönland-Eisschild und vom antarktischen Eisschild so riesige Mengen Süßwasser abschmelzen, nimmt der Salzgehalt des Meeres dort ab und die Umwälzbewegung verlangsamt sich. Es ist leider heute schon eine leichte Verlangsamung und Verlagerung des Golfstroms nachweisbar, und anstelle der großen Durchmischung des Meeres ist eine zunehmende Schichtung feststellbar, es entstehen Schichten mit viel oder wenig Sauerstoff, und die Verteilung der Temperaturen und von Nährstoffen verändert sich messbar.

Langsamer Ausstieg unmöglich

Das Wissen über Kippelemente im Klimasystem ist relativ jung und dennoch ist heute schon klar, dass wir diese Kippelemente und ihre Kipppunkte extrem ernst nehmen müssen. Überschreiten wir bestimmte Grenzwerte, setzt man eine unaufhaltsame Kettenreaktion in Gang und ein weiteres Umkippen ist nicht mehr aufzuhalten. Der Klimaforscher Schellnhuber warnt, dass das Erdsystem nicht sicher bei zwei Grad langfristig „geparkt“ werden kann.

Die Wissenschaft bestätigt, wie richtig die Klimagerechtigkeitsbewegung mit ihrer Forderung nach einem raschen Ausstieg aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe liegt. Manche Elemente des Klimasystems können solange stabil erscheinen, bis sie urplötzlich und für immer verloren gehen. Es liegt in ihrer Natur, dass wir nicht jahrzehntelang stetig weniger Treibhausgase ausstoßen dürfen, sondern wir müssen sehr schnell radikale Maßnahmen ergreifen. Das Risiko, dass wir ansonsten eine Erwärmung um weit mehr als zwei Grad verursachen, ist zu groß.