Pro-Choice-Proteste verwandeln Polen

Die massenhaften Pro-Choice-Proteste gegen Abtreibungsverbote in Polen nehmen zu. Ein Marsch auf Warschau am vergangenen Freitag hatte nach Angaben der Organisatoren und des Stadtrates 100.000 Teilnehmer_innen. Die Menschen kamen aus dem ganzen Land, um in der Hauptstadt zu demonstrieren. Auch in anderen Städten und Gemeinden gab es am gleichen Tag große Proteste. - Ein Artikel von Ellisiv Rognlien und Andy Zebrowski von Pracownicza Demokracja (Demokratie der Arbeiter_innen), Schwesternorganisation von Linkswende jetzt in Polen)
6. November 2020 |

Die aktuelle Bewegung ist viel größer als in den Jahren 2016 und 2018. Beide Male wurden Versuche der Regierung, schärfere Abtreibungsverbote durchzusetzen, vereitelt. Wir erleben heute die größte Protestbewegung seit der Legalisierung von Demonstrationen vor dreißig Jahren.

Am vergangenen Mittwoch sagte die Polizei, die die Zahlen prinzipiell immer zu niedrig ansetzt, dass seit Beginn der Proteste am 22. Oktober insgesamt 430.000 Menschen bei 410 Demonstrationen auf die Straße gegangen seien. Die Demonstrationen sind sowohl von Feierlaune als auch Wut geprägt. Die Menschen tanzen zu Techno-Beats und der jahrhundertealten Polonaise, dem polnischen Nationaltanz. Rapper fügen „Fuck PiS“ in ihre Texte ein. Es gibt tausende selbstgemachte Plakaten mit Slogans wie „Revolution ist eine Frau“ und „Ich denke, ich fühle, ich entscheide“. Viele sind auf Englisch, insbesondere Wortspiele wie „PiS off“ und „Girls just want to have FUNdamental rights“. Es überwiegen junge Menschen im Teenageralter und in den Zwanzigern. Aber die Demonstrationen sind so groß, dass sie eine beträchtliche Anzahl von Menschen aus allen Altersgruppen umfassen. Frauen führen, Männer unterstützen sie.

Die ultrakonservative Regierung für Recht und Gerechtigkeit (PiS) ist erschüttert worden. Seit Beginn der Proteste hat sie in Meinungsumfragen rund 10 Prozent an Unterstützung verloren. Die Entscheidung des Verfassungsgerichts vom 22. Oktober, welche die Proteste auslöste, zwingt schwangere Frauen dazu, schwer deformierte Föten zu behalten. Jeder weiß, dass das Urteil von PiS-Führer Jaroslaw Kaczynski angeordnet wurde. Von politischen Experten oft als brillanter Stratege bezeichnet, hat er sich als gefährlicher Narr erwiesen. Er hatte damit gerechnet, dass die Rekordzahlen an Covid-Infektionen und Todesfällen die Menschen von den Straßen fernhalten würden. Die Protestierenden sind weit davon entfernt, Covid-Leugner zu sein. Sie beschuldigen Kaczynski, sie auf die Straße gezwungen zu haben. Jetzt wird er mehr gehasst als jeder andere Politiker. Tausende haben mehrmals vor seinem Haus demonstriert.

Die Proteste haben sogar Kleinstädte erreicht, die PiS sonst unterstützen. Zum Beispiel in der nördlichen Stadt Nowy Dwór Gdański unterstützten Bauern in einer langen Reihe von Traktoren eine Straßenblockade mit dem Slogan „Bekämpft das Virus, nicht die Frauen“. Und 1.000 Menschen kamen in die südliche Stadt Dobczyce, wo der PiS-Kandidat Andrzej Duda bei den Präsidentschaftswahlen in diesem Sommer 67 Prozent der Stimmen erhielt. Die Stadt hat rund 6.000 Einwohner!

Wendung

Die Regierung weiß nicht, welchen Weg sie einschlagen soll. Einerseits schlägt Premierminister Mateusz Morawiecki einen versöhnlichen Ton an, ebenso wie Präsident Andrzej Duda. Ihr verwirrender Vorschlag, die Entscheidung des Tribunals nur ganz geringfügig zu umgehen, wurde von der Pro-Choice-Partei allgemein abgelehnt. Frauen wollen zumindest die Aufhebung der Entscheidung, und immer mehr Frauen sprechen sich für die Möglichkeit einer Abtreibung auf Wunsch aus.

Auf der anderen Seite hat Justizminister und Generalstaatsanwalt Zbigniew Ziobro Protestveranstaltern mit acht Jahren Gefängnis gedroht. Die haben diese Einschüchterungsversuche ausgelacht. Die Regierungsminister versuchen, die Proteste als eine Bewegung darzustellen, die sich der physischen Zerstörung der katholischen Kirche verschrieben hat. Im staatlichen Fernsehen werden Aufnahmen von Parolen an Kirchenwänden und der Störung einiger Gottesdienste am vergangenen Sonntag durch kleine Gruppen von Frauen gezeigt. Auf diese Weise will Kaczynski eine Gegenreaktion hervorrufen. Er hat seine Anhänger aufgerufen, die Kirchen physisch zu verteidigen. Dies folgte auf die Ankündigung des Faschisten Robert Bakiewicz, eine „Nationalgarde“ zum Schutz der Kirchen zu bilden. Bakiewicz ist der Hauptorganisator des von Faschisten geführten Marsches zum Unabhängigkeitstag, der jedes Jahr am 11. November stattfindet.

Aber dieser Gegenschlag funktioniert nicht. Die riesige Demonstration in Warschau am vergangenen Freitag marschierte an einer bekannten Kirche vorbei, die von dutzenden Faschisten und hunderten Polizisten und der Militärpolizei geschützt wurde. Die vorbeimarschierenden Demonstrant_innen fanden das absurd komisch, weil sie einen Ort verteidigten, den niemand angreifen wollte. Piotr Duda, der Vorsitzende des regierungsfreundlichen Gewerkschaftsbundes Solidarność, hat sich auf schändliche Weise dafür eingesetzt, dass seine Mitglieder und Sympathisanten sich den Aktionen dieser so genannten Nationalgarde anschließen. Gewerkschafter dazu aufzurufen, sich mit Faschisten zu verbünden, ist ein Skandal. Glücklicherweise steht Duda in völligem Widerspruch zur Basis von Solidarność. Viele der Mitglieder müssen sich als Einzelpersonen an den Protesten der Frauen beteiligen.

Am Freitag wurden Faschisten zweimal von der Pro-Choice-Demonstration weggejagt, nachdem sie Feuerwerkskörper in die Menge geworfen hatten. Sie stellen keine Gefahr für die Demonstrationen an sich dar, aber einige Menschen wurden am Rande der Proteste oder auf ihrem Heimweg angegriffen.

Antifaschist_innen

Auf allen großen Protesten sind Parolen gegen die extreme Rechte zu hören. Im Vorfeld des 11. November hat die Pro-Choice-Bewegung sogar noch mehr Antifaschist_innen hervorgebracht. Am vergangenen Montag blockierten Demonstrant_innen während des abendlichen Berufsverkehrs im ganzen Land erfolgreich Straßen. Dies wird sich in dieser Woche wiederholen.

Am vergangenen Mittwoch riefen die Organisator_innen des nationalen Frauenstreiks zu einem Streiktag auf. Unter dem Druck von Studierenden, Lehrer_innen und Dozent_innen schlossen Rektor_innen und Direktor_innen einige Schulen und Colleges und sagten den Videounterricht ab. Einzelne Personen beschlossen auch, sich Tage von der Arbeit freizunehmen. Obwohl es keine Massenstreiks gab, hat der Fokus auf den Arbeitsplatz die Gewerkschaften dazu veranlasst, Erklärungen zur Unterstützung der Frauenproteste abzugeben.

Zu den Gewerkschaften, die dies getan haben, gehören einer der beiden größten Verbände, die OPZZ, und die größte Gewerkschaft des Landes, die ZNP. Diese organisiert Lehrer_innen, Dozent_innen und andere Beschäftigte an Schulen und Hochschulen. Die Gewerkschaft August 80, die am stärksten unter Bergarbeiter_innen ist, gab eine Erklärung heraus, in der sie die Proteste unterstützt und allen, die Repressionen ausgesetzt sind, kostenlosen Rechtsbeistand anbietet. Weitere Gewerkschaften, die ihre Unterstützung zum Ausdruck brachten, sind die Öl- und Gasarbeiter und die ZZPD, eine weitere Bergarbeitergewerkschaft, die das Blitzsymbol der Proteste auf ihrem Logo abgebildet hat.

Diese Unterstützung ist wichtig und muss in echte Streiks umgesetzt werden. Dies ist ein realistischer Vorschlag. Die Bewegung hat jetzt sehr tiefe Wurzeln. Die Menschen kommen aus Arbeitersiedlungen, um sich an den Demonstrationen zu beteiligen. Junge Leute ziehen ihre Mütter und Väter mit. Im ganzen Land herrscht eine Stimmung der Radikalisierung und Revolte. Es ist durchaus möglich, dass sie auf andere Gebiete übergreift.

Übersetzung von Katharina Anetzberger