Russland verliert Cherson – aber der Krieg geht weiter
Der Rückzug Russlands aus Cherson, der einzigen ukrainischen Provinzhauptstadt, die es einnehmen konnte, sieht nach einem weiteren militärischen Rückschlag für das Regime von Wladimir Putin aus. Aber es ist nach wie vor außerordentlich schwierig zu verstehen, was in der Ukraine militärisch vor sich geht.
Einigen „Experten“ zufolge war der Rückzug aus Cherson ein taktisches Manöver oder sogar Ergebnis einer geheimen Absprache zwischen Moskau und Washington. Andere meinen, die Ukraine bereite sich darauf vor, die festgefahrenen russischen Truppen zu umgehen und auf die Krim vorzustoßen.
Klar ist einzig und allein, dass der Krieg weitergehen wird. Es war zwar in letzter Zeit vermehrt die Rede von Verhandlungen, aber weder Kiew noch Moskau scheinen wirklich daran interessiert zu sein. Begünstigt durch die enormen Waffenlieferungen des Westens und die dadurch ermöglichten Erfolge macht die ukrainische Regierung nun den russischen Rückzug aus der gesamten Ukraine, einschließlich der Krim, zur Vorbedingung für Gespräche.
Putins Überlebenskampf
Was Putin anbelangt, trifft wahrscheinlich die Einschätzung des britischen Militärhistorikers Lawrence Freedman zu: „Angesichts des derzeitigen Stands des Krieges besteht seine Hauptpriorität derzeit nicht so sehr darin, einen Sieg zu erringen, obwohl dieses Ansinnen nicht einfach weg ist, sondern eine totale Niederlage zu vermeiden. Für Putin stehen persönliche Dinge auf dem Spiel. Es ist sein Krieg, und er hat keinen Hehl daraus gemacht, was er erreichen wollte. … Sobald ein Scheitern nicht mehr geleugnet werden kann, wird sein Urteilsvermögen infrage gestellt und seine Position angreifbar werden. Grob gesagt: Wenn Putin an der Macht bleiben will, muss Russland im Krieg bleiben.”
Die Kämpfe könnten sich nun aufgrund des harschen Winters verlangsamen. Sollten die Ukrainer jedoch einen Vorstoß Richtung Krim wagen, könnte dies Putin dazu veranlassen, seine Andeutungen über den Einsatz von Atomwaffen wahr zu machen. Die Reaktion des Westens kann einen Zyklus der Eskalation in Gang setzen, der zum Dritten Weltkrieg führt.
Im Hintergrund steht China, dessen wirtschaftlicher und militärischer Vormarsch eine viel ernstere Bedrohung für die globale Hegemonie der USA darstellt.
Putin hat diesen Krieg als einen Kampf gegen den „kollektiven Westen“ dargestellt. Genauer gesagt handelt es sich um einen zwischenimperialistischen Krieg, in dem die Vereinigten Staaten und die anderen westlichen Mächte die Ukraine als Stellvertreter benutzen, um ihren schwächeren, aber dennoch gefährlichen russischen Rivalen zu besiegen.
Neuaufteilung der Welt
Im Hintergrund steht China, dessen wirtschaftlicher und militärischer Vormarsch eine viel ernstere Bedrohung für die globale Hegemonie der USA darstellt. Wie es in einem neuen Buch einer Gruppe italienischer Marxisten heißt, markiert der Krieg „die offizielle Wiedereröffnung des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt, da die westliche Hegemonie auf dem Weltmarkt, in der Weltpolitik und in der Weltkultur in eine Krise gerät“. Der daraus resultierende Konflikt beherrscht diese Woche den Gipfel der führenden Wirtschaftsnationen der G20 auf Bali, Indonesien. Dies ist das wichtigste Forum zwischen den Großmächten des Nordens und des Südens. Aber, wie die Financial Times schreibt, „China und Indien, die bevölkerungsreichsten Länder der Welt und zwei der sechs größten Volkswirtschaften, haben Putin nicht verurteilt“. „Andere G20-Mitglieder wie Saudi-Arabien, Südafrika und die Türkei haben die Forderungen des Westens, Russland für seine Invasion zu bestrafen, zurückgewiesen“, heißt es weiter. Charles Kupchan vom Council on Foreign Relations sagte: „Wir befinden uns wieder in einem globalen Szenario, das von militarisierter Rivalität zwischen dem Westen und Russland geprägt ist. Und diese Rivalität weitet sich nun auf China aus. Das hat zur Folge, dass die Fähigkeit der G20, als kooperatives Gremium zu funktionieren, sehr in Frage gestellt ist.“
China unterstützt Russland wirtschaftlich, indem es dessen Energie kauft und versucht, die durch die Sanktionen der Europäischen Union entstandene Handelslücke zu schließen. Aber Peking hat Moskau keinen Blankoscheck ausgestellt. Es wurde berichtet, dass Putin den chinesischen Präsidenten Xi Jinping über die Invasion im Unklaren ließ, als sie sich im Februar trafen. Und letzte Woche verurteilte Xi gemeinsam mit dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz die Androhung oder den Einsatz von Atomwaffen.
Wie lange noch?
Die Situation ist nach wie vor äußerst gefährlich. Nach Angaben von General Mark Milley, dem Vorsitzenden der US-Generalstabschefs, haben Russland und die Ukraine jeweils 100.000 Opfer zu beklagen. Hinzu kommen das enorme Leid der Zivilbevölkerung und die Unterdrückung durch die beiden kriegführenden Regierungen. Und dann besteht die Gefahr, dass der Konflikt eine nukleare Katastrophe auslöst. Wir brauchen eine Massenbewegung, um zu verhindern, dass unsere Machthaber die Kriegsmaschinerie weiter anheizen.
Übersetzung von Manfred Ecker, ursprünglich
erschienen auf socialistworker.co.uk