Sexualität und Evolution: Hat Engels Recht behalten?

Marx und Engels gingen davon aus, dass die frühen Menschen bis zur Entstehung von gesellschaftlichen Klassen, in einem Urkommunismus lebten. Menschen lebten als Gleiche unter Gleichen. Das Entstehen von Privateigentum und Klassengesellschaft bedeutete „die Vertreibung aus dem Paradies“ und den Beginn von systematischer Frauenunterdrückung.
4. April 2016 |

Eine sehr populäre Version der menschlichen Frühgeschichte – Familie Feuerstein – ist eine nette Karikatur auf die verbreitetste Ansicht über den Frühmenschen. Demnach ähnelte unser Sozialverhalten über die Jahrhunderttausende mehr oder weniger dem Klischee von heute: Monogame Kleinfamilien mit männlichem Oberhaupt, das die Familie ernährt, während die Frau (unterdrückt, unzufrieden, und sehr wehrhaft) das Haus und die Kinder hütet. Obwohl die Feuersteins wirklich lustig und sympathisch sind, nichts könnte ferner von der Lebensrealität der Jäger_innen und Sammler_innen der Urzeit sein.

Überflussgesellschaft

Die Frühmenschen dürften für unsere Verhältnisse äußerst sozial gelebt haben. Alle Mitglieder einer Gruppe waren aufeinander angewiesen. Die jagenden Mitglieder waren vom Sammel-Erfolg der anderen Mitglieder abhängig und umgekehrt. Dasselbe galt für das Errichten des Lagers und überhaupt alle Tätigkeiten.

Es machte in einer Gruppe von vielleicht 20 bis 40 Menschen absolut keinen Sinn, wenn Einzelne benachteiligt oder bevorzugt waren, da alle gleichwertig zum Überleben der Gruppe beigetragen haben. Anhäufung von persönlichem Besitz machte genauso wenig Sinn bei diesen immer in Bewegung bleibenden Menschen, die maximal Faustkeile, Speere, Beile, Transportschlitten, Lederutensilien oder Ähnliches „besaßen“. Sie waren auch nicht ständig am Rande des Verhungerns, sondern bildeten die erste „ursprüngliche Überflussgesellschaft“, wie der bedeutende Ethnologe Marshall Sahlins es treffend formulierte.

Die frühen Jäger_­innen und ­­Sammler_innen konnten die Bedürfnisse aller in der Regel mit Leichtigkeit befriedigen. Das zu betonen ist wichtig, da unter den Bedingungen permanenter Not nur schwerlich die Entwicklung immer feinerer Methoden zur Subsistenzwirtschaft erklärbar wäre.

© Aino Tuominen (Wikimedia Commons)
© Aino Tuominen (Wikimedia Commons)

Wir spekulieren nicht nur über unser Sozialverhalten in der Urzeit, wir verdanken unser Wissen über die Steinzeitmenschen Forschern wie Sahlins und den von ihnen beschriebenen Gesellschaften, die noch Elemente des Urkommunismus praktizierten, wie etwa die Kung in der Kalahari. Unschätzbar wertvolle Berichte über das Leben der indigenen Völker Nordamerikas bieten die Chroniken französischer Jesuiten aus dem frühen 17. Jahrhundert, die Jesuit Relations. Ähnliche Zeitzeugenberichte gibt es über weitere Nomadenvölker Afrikas, über die Aboriginals in Australien, über Nomaden im südamerikanischen Dschungel, in Südasien und in Ozeanien.

Niederlage der Frau

Engels‘ Arbeit, „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“, hat bis heute bahnbrechenden Charakter. Er hat seine und Karl Marx‘ materialistische Methode, Gesellschaft und Geschichte zu untersuchen, auf die Frühzeit angewandt, und kam zu den spektakulärsten Befunden. Speziell eine Aussage ist in die Annalen der Geschichte eingegangen: „Der Umsturz des Mutterrechts war die weltgeschichtliche Niederlage des weiblichen Geschlechts. Der Mann ergriff das Steuer auch im Hause, die Frau wurde entwürdigt, geknechtet, Sklavin seiner Lust und bloßes Werkzeug der Kinderzeugung.“

Mutterrecht und Vaterrecht

In der Ethnologie (Völkerkunde) sind die Thesen von Engels natürlich umstritten. Sie passen so gar nicht in das verbreitete Bild von der Beziehung zwischen den Geschlechtern. Gab es tatsächlich einmal ein Mutterrecht und gab es Gleichberechtigung bzw. echte Gleichheit zwischen den Geschlechtern? Wir schöpfen unser Wissen einerseits aus den Beobachtungen von Völkern, die noch sehr viele Elemente des ursprünglichen kommunalen Lebens beibehalten haben, andererseits aus archäologischen Funden. Daraus ist eines ganz sicher ableitbar: die Kleinfamilie, das Idealbild der bürgerlichen Familie, war für die längste Zeit der menschlichen Existenz nicht die Norm.

Die Kleinfamilie, das Idealbild der bürgerlichen Familie, war für die längste Zeit der menschlichen Existenz nicht die Norm.

Die Römer beschrieben die auf den britischen Inseln von ihnen vorgefundene Gruppenehe mit Abscheu. Sie wurden sogar von einer Armee unter der Führung einer Frau (Boudicca) besiegt und für kurze Zeit von der Insel vertrieben. „Gruppenehe“ bedeutet, dass jedes Mitglied einer Gruppe mit allen Mitgliedern einer anderen Gruppe eine intime Beziehung eingehen und diese auch wieder auflösen konnte. Gruppen wurden meist so gebildet, dass Inzest vermieden wurde. Beziehungen wurden gewechselt, konnten aber genauso gut dauerhaft sein.

Auf den britischen Inseln hatte sich noch kein fertiges Staatswesen gebildet und die Gesellschaft war noch nicht endgültig in Klassen gespalten, aber sie war schon seit tausenden Jahren sesshaft. Engels kannte die Beschreibungen Lewis Henry Morgans von den ebenfalls sesshaften Irokesen, und erwähnte die Gruppenehe in Hawaii. Das in der frühen Sesshaftigkeit weit verbreitete „Mutterrecht“ hatte Engels besonders hervorgehoben. Tatsächlich beschreibt der antiquierte Begriff „Mutterecht“ Verwandtschaftsverhältnisse, um die sich ein Clan organsiert. Ziehen zwei Jungvermählte zu der Familie der Mutter, so nennt man das eine matrilineare Gesellschaft und spricht von Matrilokalität oder Matrifokalität. Es kann aber in anderen Gesellschaften auch die Familie der Großmutter sein, die Familie des Mutterbruders, die Familie des Vaters, oder einfach der Geburtsort bestimmend sein.

Entstehung von Staaten

Was Engels argumentiert hat, indem er den Umsturz des Mutterrechts als einen historischen Meilenstein festmachte, war folgendes: Unser Sozialverhalten ist nicht genetisch fixiert, es hat sich in den letzten 10.000 Jahren mehrfach drastisch verändert. Die Unterwerfung der Familie unter ein männliches Familienoberhaupt ist keine natürliche Angelegenheit, sondern war die Folge großer sozialer Umwälzungen. Nach tausenden Jahren Sesshaftigkeit entwickelten sich vor ungefähr 5.000 Jahren im heutigen Irak, in Anatolien, kurz darauf in Ägypten, Indien und China mächtige Stadtstaaten – Babylon ist der bekannteste – und die ersten dauerhaften Klassengesellschaften. Ausgeprägte Klassenunterschiede zwischen Herrschern, Priestern, Soldaten, Kleinbauern und -bäuerinnen, Leibeigenen, und Sklav_innen wurden fixiert.

Etwas muss in der Entwicklung vorgefallen sein, was die Männer in eine Position brachte, die Frauen zu dominieren – und das war eben die Einführung des Privateigentums und des Staats.

Bis zu diesem Zeitpunkt gab es alle möglichen Gesellschaftsformen, aber ab diesem Zeitpunkt wird die Kleinfamilie zur dominanten Form. Etwas muss in der Entwicklung vorgefallen sein, was die Männer in eine Position brachte, die Frauen zu dominieren – und das war eben die Einführung des Privateigentums und des Staats. Vorbedingung für Staatenbildung war die Entwicklung schwerer Werkzeuge, wie des Pflugs oder die Domestizierung der großen Haustiere. Dann förderte die Bewältigung großer gemeinschaftlicher Maßnahmen die Staatenbildung – wie Bewässerung, Kanalbauten, bzw. die Regulierung großer Flusssysteme – da sie ohne zentraler Verwaltung nicht zu organisieren sind.

Kontakt mit Zivilisation

Will der Mann sicher stellen, dass sein Privateigentum auf seinen leiblichen Sohn übergeht, dann hat er in den frühen Gesellschaften ein Problem: er weiß nicht mit Sicherheit welches seine Kinder sind. Die Liebe ist noch relativ frei und nur die Frauen können sagen, welches ihre Kinder sind. Daher begann der Mann das Sexualverhalten der Frau zu kontrollieren, die Sexualität wurde unfrei. Das geschah zuerst in den Haushalten der mächtigsten Familien, bevor es sich durch verschiedenste Mechanismen zur vorherrschenden Gesellschaftsform ausbreitete.

Die Anthropologin Eleanor Burke Leacock beschreibt, wie die Männer indigener Völker Nordamerikas erst durch den Kontakt mit Händlern aus Europa, dazu übergingen, Jagd- und Fischgründe sowie Handelsverbindungen für sich zu reservieren, Waffen und Werkzeuge aus Eisen an ihre leiblichen Söhne zu vererben und damit das Mutterrecht auszuhöhlen. In ihrem Werk Myths of Male Dominance (Mythen über männliche Dominanz) geht sie Beobachtungen auf den Grund, die Engels‘ These zu widerlegen scheinen – nämlich männlich dominierte indigene Kulturen. Und zumeist kann sie nachweisen, dass männliche Dominanz ein junges Phänomen war, das sich erst durch Handel (Felle oder Fische) eingeschlichen hatte.

Unsere vs. ihre Moralvorstellung

Unheimlich berührend sind ihre Schilderungen des Alltags bei den Montagnais-Naskapi, einem Volk, das mit den Weißen und den Irokesen Handel trieb, aber bis heute Teile ihres traditionellen Lebens bewahrt haben. Dort herrschte einerseits strikte Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, es herrschte aber auch höchster Respekt vor der Arbeit des anderen.

In einer Szene beschreibt sie einen Mann der Montagnais-Naskapi, wie er stundenlang ein krankes Kind umsorgt und hätschelt, während die Frau Fleisch räuchert. Bestrafung von Kindern war diesen Völkern undenkbar.

Die moderne Wissenschaft konnte Engels‘ Thesen in Vielem bestätigen. Marshall Sahlins‘ Stone Age ist ein Beispiel dafür.
Die moderne Wissenschaft konnte Engels‘ Thesen in Vielem bestätigen. Marshall Sahlins‘ Stone Age ist ein Beispiel dafür.

Der Missionar Pierre Le Jeune bemerkt in seinen Briefen, dass es unmöglich sein würde, die Kinder der Montagnais-Naskapi in Missionarsschulen im Dorf zu unterrichten, da sie nach dem ersten scharfen Wort von den Eltern unter einem Vorwand weggenommen werden. Sie ertrugen es auch nicht, wenn fremde Kinder bestraft werden sollten und boten sich als Ersatz an. Sie vermieden es anderen und auch den Kindern ihren Willen aufzuzwingen. Umgekehrt herrschte totales Unverständnis für das Konzept von Autorität und Unterwerfung. Bezeichnend ist folgender Dialog zwischen dem Jesuiten und einem Medizinmann: „Ich sagte ihm, dass es für eine Frau nicht ehrenhaft ist, irgend jemand anders zu lieben ausgenommen ihren Ehemann; und da dieses Übel unter ihnen herrsche, ist auch er nicht sicher, dass sein Sohn, der anwesend war, auch wirklich sein Sohn ist. Er antwortete: Du hast keinen Verstand. Ihr Franzosen liebt nur eure eigenen Kinder; aber wir lieben alle Kinder unseres Stammes.“

Familie und Gewalt

Wie Leacock außerdem betont, ist der Blick von uns „westlichen“ Menschen ziemlich verstellt. Sie zitiert Ruth Bunzel, die eine sehr aufschlussreiche Szene aus dem Leben der Zuni beschreibt, einem Volk in New Mexico, das viele Verhaltensweisen ihrer kommunalen Lebensweise beibehalten hat: „Wenn ein Mann von seinem Tagwerk zurückkehrt, beendet seine Frau welche Arbeit auch immer sie gerade verrichtet, geht zur Tür und bittet ihn herein.“ Aus unserer Sicht, die wir in einer Gesellschaft leben, in der Frauen den Großteil der unbezahlten Arbeit verrichten, ist dieses Verhalten ein klares Signal der Unterwerfung der Ehefrau. Aus Sicht der Zuni aber sind es die Handlungen einer Gastgeberin, nicht einer Dienerin. Das Haus ist ihr Haus, und was der Mann in das Haus bringt, gehört ab diesem Moment ihr. Hätte sie anders gehandelt, dann würde er es als ein Zeichen dafür sehen, dass sie ihn nicht mehr als seinen Mann betrachtet, erklärt Ruth Bunzel. Anders gesagt: Selbst wenn wir in älteren Kulturen Formen männlicher Dominanz zu entdecken vermeinen, dann steckt dahinter oft ein Konzept des kooperativen Miteinanderlebens – wir interpretieren mit unserem Erfahrungsschatz aus einem repressiven Miteinander.

Das Entstehen der Kleinfamilie war demnach zwar ein Schritt in Richtung Frauenunterdrückung, aber manche Völker haben noch Jahrtausende lang Familienstrukturen gekannt, in denen die Beziehung zwischen den Geschlechtern auf Austausch beruht hat. Die Familie, wie Engels sie beschreibt, hat ganz neue Qualitäten: „Das Wesentliche ist die Einverleibung von Unfreien und die väterliche Gewalt; daher ist der vollendete Typus dieser Familienform die römische Familie. Das Wort familia bedeutet ursprünglich nicht das aus Sentimentalität und häuslichem Zwist zusammengesetzte Ideal des heutigen Philisters; es bezieht sich bei den Römern anfänglich gar nicht einmal auf das Ehepaar und dessen Kinder, sondern auf die Sklaven allein. Famulus heißt ein Haussklave, und familia ist die Gesamtheit der einem Mann gehörenden Sklaven.“

Unterdrückerische Beziehungen sind die Folge repressiver Gesellschaftssysteme und nicht die menschliche Natur schlechthin. Das Studium der immensen Vielfalt an existierenden Gesellschaftsformen ist nicht bloß von theoretischem Interesse, sondern hilft uns verstehen, wie die Menschheit ihr Sozialleben rationell organisieren kann. Dieses Wissen sollte uns anspornen unsere Gesellschaft umzustürzen und die Kapitalisten zu enteignen.

Der Verfasser/die Verfasserin hat den Artikel mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt.