Street Art: Kunstform des Proletariats

Street Art ist die Kunst der Besitzlosen. Das illegale Sprayen richtet sich gegen den Staat und gegen die Kapitalisten, deren Eigentum unfreiwillig zur Leinwand wird. Soziale und antifaschistische Bewegungen nutzen das Stadtbild als Medium der Mobilisierung und des Widerstands. Die Geschichte von Graffitis ist darum seit jeher eine des Klassenkampfs.
23. Juni 2024 |

In Amerika wurden Graffitis in den 1960er Jahren von politischen Aktivisten und Gangs popularisiert. Graffitikunst entwickelte sich als eine tragende Säule der Hip-Hop-Kultur und war somit insbesondere unter schwarzen Jugendlichen aus der Arbeiter:innenklasse beliebt. Die Bewegung war eine Auflehnung gegen die Unterdrückung von Minderheiten durch den Staat und seine Institutionen, insbesondere gegen Gefängnisse und die Polizei. Doch Graffitikultur ist auch Schauplatz eines Klassenkampfes „von oben“ – ein Vorwand für die öffentlichen Organe, genau in diesen Communities nochmal nachzutreten und ärmere, sowie migrantische Viertel, noch stärker ins Visier polizeilicher Überwachung zu rücken. In Österreich sind für Sachbeschädigung (§ 125 StGB) und schwere Sachbeschädigung (§ 126 StGB), die bei der unerlaubten Verzierung des eigenen Grätzls zu tragen kommen, Gefängnisstrafen von bis zu fünf Jahren vorgesehen. Die starke Kriminalisierung von Sprayern, zeigt bis heute am allerdeutlichsten, dass der Schutz von Eigentum im Kapitalismus Vorrang hat, und die Arbeiter:innenklasse für jede Form des individuellen Ausdrucks, der Aneignung und der Rebellion bestraft wird.

Antikunst Street Art

Kunst im Kapitalismus ist ein zweischneidiges Schwert. In einem System in dem die Güter, die wir produzieren und konsumieren uns fremd sind, gibt es wenig Schöneres, als unsere eigenen Gedanken und Ideen künstlerisch zu verwirklichen. Dies kann eine Arbeit sein, die wir nicht machen, weil wir es müssen, um Miete und Lebensmittel zu zahlen. Es ist etwas, dass uns einfach Spaß macht und das eine Verbindung zu anderen Menschen und zu der Welt herstellt, in der wir leben. Auf der anderen Seite ist der als „hohe Kunst“ verstandene Kunstbetrieb ein elitäres Getriebe, in dem Millionensummen für einzelne Werke von Hand zu Hand gehen können, als wären es des Kaisers neue Kleider. Der Kunstmarkt dient der herrschenden Klasse und teilweise der bürgerlichen Mittelschicht oft nur als Anlageobjekt für Kapital und als moralische Abgrenzung gegenüber den als nieder und unkultiviert empfundenen Massen. Straßenkunst spielt nicht nach diesen Regeln. Sie kann als „Antikunst“ verstanden werden, die sich der Marktlogik vollkommen entzieht: Jeder, der den Willen zu Sachbeschädigung hat, kann Street Art machen – dafür braucht es keine Ausbildung, kein Talent – noch nicht einmal Material: ein Stein allein reicht aus, um etwas in Mauern zu ritzen. Im Gegenteil ist eigenes Eigentum nicht die Bedingung für Straßenkunst, sondern das der Kapitalisten: Die Häuser, in denen wir leben, die uns aber nicht gehören, die Firmen und Fabrikwände, in denen wir arbeiten, aber nicht mitreden können, und die Mauern, die bestimmen, wo wir uns aufhalten dürfen. Das Eigentum der Bourgeoisie wird gegen ihren Willen von denen verwendet, die selbst nichts haben – und damit das Nutzungsrecht enteignet und umverteilt! Die reine Existenz von Graffitis sagt: Wir erkennen euren Besitz und eure Moral nicht an. Was nutzt uns eine schöne, saubere Nachbarschaft, wenn uns ein schönes Leben für alle verwehrt bleibt?

Wessen Stadt? Unsere Stadt!

Seit den siebziger Jahren ist das „Tagging“, eine beliebte Praxis in der Spraykultur. Das Ziel ist seinen eigenen Sprayernamen, den Tag, überall in der Stadt zu verteilen, so groß und so oft wie es nur geht. Diese, wie die meisten glauben , primitive Form der Selbstverewigung, ist die Antwort der Sprayer auf eine ignorante Gesellschaft. Für Jugendliche, die täglich von Eltern, Lehrern und den Medien zu spüren bekommen, sie seien nichts wert, ist es ermächtigend, ihre Namen überall in die Öffentlichkeit anzubringen. Die Botschaft dahinter: „Wenn ihr uns nicht sehen wollt, machen wir uns eben selbst sichtbar! Auf Kosten eurer sauberen Fassaden.“

In Brasilien entwickelte sich aus dem Tagging ein ganz eigener Graffitistil mit dem Namen Pichação. „Pixo“ sind meist einfarbige, einfach gehaltene Inschriften, in hieroglyphischem Stil, die die Stadtmauern im ganzen Land bedecken. Sie werden per Definition an verbotenen Orten und nachts in Schnellangriffen angebracht. Im Unterschied zu konventionellen Graffitis wollen sie nie schön sein. Ihre Motivation ist immer die Wut auf eine ungleiche Gesellschaft, ihr Ziel der „Angriff auf die Stadt“ – selbstsicher und klassenbewusst.

All about Community

Pichação repräsentieren nicht den Künstler, sondern seine Klasse – was Street Art als Kunstform so spannend macht, ist, dass die Werke fast nie der Ausdruck einer einzelnen Person sind, sondern einer Gemeinschaft: eine Gang, eine politische Gruppierung, eine soziale Klasse, eine Nachbarschaft oder ein Fußballclub. Zum Beispiel waren in Nordirland große Wandmalereien wichtig für das Herstellen eines Gefühls der Zusammengehörigkeit, bei Republikanern und auch bei Loyalisten. Sie dienten als klare Marker für Territorium, die zeigen sollten, wie sich ein Stadtviertel und dessen Bewohnerinnen positionieren.

Schriften wie “You are now entering Free Derry” und Malereien von historischen Ereignissen waren ein Signal nach außen, aber auch eine Erinnerung an die Bewohnerinnen selbst: wir stehen geschlossen auf einer Seite. Während bei den Loyalisten solche Malereien oft bei Profis in Auftrag gegeben wurden, hatte auf republikanischer Seite das Anbringen der Straßenkunst schon einen gemeinschaftlichen Aspekt. Die aufwendigen, riesigen Murals ließen sich nicht alleine machen, man arbeitete zusammen, nicht nur beim Malen, sondern auch bei der inhaltlichen und grafischen Gestaltung. So wichtig wie diese Malereien für das Selbstverständnis der republikanischen Gruppen und Viertel wurden, ergibt es Sinn, dass die Stadt Belfast vor einigen Jahren ein Programm gestartet hat, dass die “spaltende Symbolik” durch “positivere” Bilder ersetzen sollte. 

Revolutionäre Propaganda

Auch revolutionäre Organisationen nutzten Straßenkunst, um zu mobilisieren. Im Anschluss an die erfolgreichen Oktoberrevolution 1917, in dem die Bolschewiki in Russland die Macht erlangten, kam es zu großangelegten Plakatkampagnen, die die Bevölkerung über soziale Missstände aufklären und die Partei popularisieren sollten. In russischer Grafikkunst wurden die Produktionsmechanisierung, das Ende der Zarenherrschaft und die Gleichstellung der Frau öffentlich gemacht. Gerade die Bildlichkeit des Mediums, schaffte es, politische Ideen in einer weitgehend analphabetischen Bevölkerung zu verbreiten. Sie erfüllte somit den innersten Zweck revolutionärer Propaganda – in Lenins Worten: „der „Masse“ eine Idee zu vermitteln: die Idee von der Sinnlosigkeit des Widerspruchs zwischen der Zunahme des Reichtums und der Zunahme des Elends.“  Da Druckmaschinen in den Kriegen größtenteils zerstört wurden entwickelte die Telegrafenagentur ROSTA gemeinsam mit russischen Künstlern einen charakteristischen Schablonenstil, der die Straßenkunst bis heute prägt. Auch Zugbemalungen und das „Zupostern“ von öffentlichen Plätzen sind Merkmale heutiger Straßenkunst, die in der Tradition der russischen Revolution stehen.

Mai 68´in Paris

Dieselben Taktiken wurden insbesondere im Mai 1968 in Paris angewandt. Im Zuge der Universitätsbesetzungen verwandelte sich das gesamte Quartier Latin zu einer Freiluftgalerie der politischen Kunst. Student:innen schlossen sich spontan zu Kollektiven zusammen und gründeten in den besetzten Räumen Werkstätten, in denen jeden Tag Plenas abgehalten und gemeinsam produziert wurde. An Tagen, an denen die Arbeiter:innen der Zeitungen und Fernsehstationen streikten, wurden die Wände von Paris zur einzigen Nachrichtenquelle und die Werkstätten entwickelten sich schnell zum Herzstück der Bewegung. Arbeiter:innen und Student:innen versammelten sich hier, tauschten Berichte aus und diskutierten die Lage. Die bekannteste Werkstatt, das Atelier Populaire allein stellte um die 150.000 Siebdrucke aus 350-500 Designs mit politischen Botschaften her, und verteilte diese im Viertel. An ihrem Eingang stand geschrieben: „Im Atelier Populaire zu arbeiten bedeutet, die große Bewegung der streikenden Arbeiter konkret zu unterstützen, die ihre Fabriken besetzen und sich der gaullistischen Regierung widersetzen, die gegen das Volk arbeitet.

Soziale Bewegungen

Seither ist Graffitikunst ein wesentlicher Bestandteil von sozialen und sozialistischen Bewegungen. Von der schwarzen Bürgerrechtsbewegung und den Anti-Vietnamprotesten in Amerika, über den Kampf gegen Apartheid in Südafrika, dem Aufstand in Argentinien Anfang der 2000er, bis hin zur Klimabewegung, in allen Kämpfen greifen die Menschen zur Farbe, denn: Wände können ein demokratisches Kommunikationsmedium sein, wenn die Mainstream-Medien, über die wir keine Kontrolle haben, über soziale Missstände schweigen oder sie bewusst vertuschen. Auch im Internet werden politische Inhalte immer stärker zensiert. Plattformen wie Meta schränken beispielsweise die Reichweite von pro-palästinensischen Inhalten massiv ein oder löschen sie. Auch Regierungen versuchen, gezielten Einfluss auf Social-Media-Inhalte zu nehmen: Während die USA und Israel versuchen, TikTok stärker zu kontrollieren, verbieten Staaten wie China und Russland bestimmte Plattformen ganz.

Solche Zensur ist bei Street Art für den Staat deutlich schwieriger umzusetzen, egal wie sehr man sie kriminalisiert. Bis ein Graffiti von der Polizei entdeckt und dann übermalt wird, haben es schon viele Menschen gesehen und die Sprayer:innen im besten Fall schon neue gemacht. So haben wir etwa in der ägyptischen Revolution gesehen, wie Graffitisgenutzt wurden, um Kritik an der Regierung auszudrücken und für Proteste zu mobilisieren, während das Internet zensiert oder unzugänglich gemacht wurde.

Antifaschistische Graffitis

Aus diesen Gründen wurden Graffitis auch immer wieder als Widerstandsform gegen eine Besatzungsmacht eingesetzt. Ein besonders heroisches Beispiel sind die slowenischen Frauen, die während der Besatzung durch die Achsenmächte im zweiten Weltkrieg, in klandestinen Aktionen das Stadtbild von Ljubljana und anderen Orten antifaschistisch verzierten. Die Italiener hatten die Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt und eine Ausgangssperre verhängt. Diese Widerstandsakte, zu denen auch Flyern, Waffenschmuggel und Sabotage gehörten, gliedern sich ein in eine antifaschistische Bewegung, die mit Streiks gegen den Krieg begann und sich zu einem hochorganisierten antifaschistischen „Staat innerhalb eines Staats“ mit eigener Partisanenarmee entwickelte. Insbesondere der Kürzel OF (für Osvobodilna Fronta – Befreiungsarmee) fand sich an jeder Ecke und auf den faschistischen Propagandapostern. In der Nacht vor dem 1. Mai 1943 kam es in Ljubljana zu einem großangelegten Protest, in dem junge Menschen jede Wand in der Stadt mit Parolen und Fahnen (rote Fahnen, Jugoslawische und Slowenische) bedeckten, im Tivoli Park wurden Protestslogans durch Megaphone geschrien und Feuer auf den umliegenden Hügeln entfacht. Nach den Berichten der kommunistischen Widerstandskämpferin Zdenka Kidrič feuerten die Italiener verzweifelt Schüsse ab, errichteten Blockaden und zogen sich unorganisiert in Verstecke zurück, weil sie dachten, die Partisanen hätten Ljubljana eingenommen.

Natürlich sind Graffitis nicht allein das Werkzeug der Antifaschist:innen. Seit den 20er-Jahren mobilisieren in Italien faschistische Gruppen ihre Anhänger über Straßensymbole – damals Äxte und Totenkopfsymbole mit schwarzer Farbe, so dass sie zu den Uniformen der „Schwarzhemd“-Schlägertrupps passten. Die bedrohlichen Zeichen im öffentlichen Raum waren ein wichtiger Bestandteil, um das Angstklima im totalitären System zu errichten. Neofaschistische Gruppierungen orientieren sich bis heute daran – mit Graffitiaktionen die sich gegen Flüchtlinge und Migranten richten.  Ziel,  ist die Bevölkerung zu verunsichern, indem man die Illusion erzeugt, überall zu sein, zu beobachten, zu überwachen und die hasserfüllten Aktionen aus dem Geheimen heraus zu planen. Die moderne antifaschistische Straßenkunst stellt eine Gegenbewegung dazu dar, die die Faschisten mit ihren eigenen Tricks einschüchtert. Die „Zona Antifascista“ kann inzwischen als internationaler Tag der Antifa angesehen werden.

Zwischen Rebellion und Kommerz

Graffitis sind ein Fall von vielen, bei dem die herrschende Klasse versucht, sich die Ästhetik des Widerstands anzueignen. Die Kulturindustrie, die Immobilienbranche, der Tourismussektor, alle wollen ein Stück vom Kuchen. Für sie ist Straßenkunst eine weitere Werbefläche und obendrauf der Beweis, wie authentisch, einzigartig und alternativ ihre Marke oder Viertel nicht ist. Auch in Belfast werden inzwischen Führungen von den erwähnten Murals der republikanischen Bewegung angeboten, mit anschließendem Besuch im Souvenirshop. Viele Städte setzen gezielt darauf, Straßenkunst zu fördern, in der Hoffnung, Touristen anzulocken und mehr Einnahmen zu erzielen. Am Ende sind es die lokalen Bewohner:innen, die durch steigende Preise aus den neuerdings „hippen“ Grätzeln verdrängt werden.

Dadurch verlieren die Graffitis ihr eigentlich subversives Gehalt vollständig – die Missachtung der Eigentumslogik. Die Anlageobjekte der Kapitalisten verlieren durch Schmierereien nicht mehr an Wert, sondern werden im Zuge eines regelrechten Street-Art-Fetischismus sogar aufgewertet. Während sich der Kapitalismus die „gute Straßenkunst“ – die legal angebracht wurde und den bürgerlichen Kunstgeschmack trifft, einverleibt, sind alle anderen Formen weiterhin verpöhnt und kriminalisiert. In Italien zum Beispiel investieren Städte massiv in Street Art als Tourismusmagneten, gleichzeitig aber erlässt die faschistische Regierung ein Dekret gegen sogenannten „Öko-Vandalismus“, das Klimaaktivist:innen für Graffitis bis zu fünf Jahre Haft androht. In Necochea, Argentinien, wurde im Februar eine Aktivistin der „schweren Beschädigung öffentlichen Eigentums“ bezichtigt, weil sie mit Graffiti auf das Verschwinden einer Trans*-Person aufmerksam machen wollte, während die Gemeinde aber mit Malereien in ihrem Hafengelände wirbt.

Das macht deutlich: Kritik an Unterdrückungsverhältnissen und Eigentum ist so fest in der Graffiti-Kultur verankert, dass Street Art überall, wo sie sich nicht in die bestehende Ordnung integrieren lässt, mit aller Härte vom Staat bekämpft wird. Er tut dies, weil sich die untere Klasse damit ein Selbstbewusstsein schafft, dessen bloße Existenz eine Bedrohung für ihre Herrschaft ist.