Teorama

Der Regisseur und Dichter Pier Paolo Pasolini legte sich im Italien der 1960er- und 1970er-Jahre lustvoll und leidenschaftlich mit dem politischen Establishment, der Kirche sowie der kommunistischen Partei an. In „Teorema“ (1968) rechnet Pasolini beinhart mit einer versteinerten, rückwärts gerichteten Bourgeoisie ab.
29. Februar 2016 |

Pasolini erschreckte das brave italienische Bürgertum mitsamt der katholischen Kirche. Nicht nur mit seiner kommunistischen Überzeugung, sondern auch mit seiner Homosexualität ging er äußerst offensiv um. Auch wenn Poesie seine Waffe war, hegte er einen ganz persönlichen, glühenden Hass gegen die herrschende Klasse und die herrschenden Verhältnisse. In „Teorema“ trifft er diese Bourgeoisie an einem verwundbaren Punkt, der Sexualität.

„Teorema ist der erste Film mit bourgeoisen Figuren in einem bourgeoisen Milieu“, sagt Pasolini über seinen Film. „Bisher habe ich das nie getan, weil ich die Vorstellung nicht ertrug, monatelang mit Menschen, die ich nicht mag, zusammen sein zu müssen, um das Drehbuch fertigzustellen und den Film zu drehen.“

Was sich in dem bürgerlichen Haushalt abspielt, ist in Wahrheit der Untergang dieser Bourgeoisie. Oder wie ein Kritiker es formulierte: Der Nullpunkt der Bourgeoisie.

Nullpunkt der Bourgeoisie

Regisseur und Dichter Pier Paolo Pasolini © rankly.com
Regisseur und Dichter Pier Paolo Pasolini © rankly.com

Es kommt aber ein Faktor dazu, der Pasolini Zeit seines Lebens beschäftigte – das Religiöse. Der Untergang wird nämlich ausgelöst durch das Auftauchen einer einerseits triebhaften, andererseits göttlichen Figur. Ein seltsamer Gast (Terence Stamp) erscheint eines Tages, ein junger, sexuell äußerst anziehender Mann.

Sein überirdischer Charme bringt alle Familienangehörigen, unabhängig von Alter und Geschlecht, dazu, sich in ihn zu verlieben und diese Liebe auch körperlich auszuleben. Der Patriarch Paolo (Massimo Girotti), seine sexuell gehemmte Frau Lucia (Silvana Mangano), die beiden Kinder Pietro (Andrés José Cruz Soublette) und Odetta (Anne Wiazemsky) sowie das Hausmädchen Emilia verfallen dem Fremden.

Religion und Sexualität

Für Pasolini sind die Bereiche der Politik, der Religion und der Sexualität nicht getrennt. Er meint, wenn es etwas Heiliges gäbe, dann hat der Kapitalismus es zerstört. Pasolini sprach in einem Interview davon, dass er den geheimnisvollen Gast sehr wohl als Sendboten Gottes im Sinne des alten Testaments sah.

Doch dem Regisseur geht es weniger um konkrete Sexualität oder Religion, als darum, den Zuseher_innen Räume zur eröffnen, in denen sich ihre Vorstellungen entfalten können. Es geht ihm um das „Authentische“ also quasi das „Echte“ im Gegensatz zum verzerrten, entfremdeten Menschenbild des späten Kapitalismus. Das Eindringen des „Gastes“ in die bürgerliche Familie ist das Einbrechen dieses „Authentischen“. Die multiple Liebesbeziehung sieht Pasolini als Bild der Revolution.

Es geht ihm um das „Authentische“ also quasi das „Echte“ im Gegensatz zum verzerrten, entfremdeten Menschenbild des späten Kapitalismus.

Für ihn lebt die Bourgeoisie unter dem Schutz einer eingefahrenen Routine, gewohnter Abläufe, eines Theorems. Hinter diesem Schutz vermutet der Regisseur Unglück und Leere. Wenn das Theorem durch eine unerwartete „Variable“ gestört wird, bricht der Schutz zusammen und diese Leere tritt zutage. Die Geschichte von „Teorema“ ist im Mailand des Jahres 1968 angesiedelt. Pasolini nutzt aus der Hand gefilmte Schwarz-Weiß-Bilder in der Szene, in der die Arbeiter einer Fabrik interviewt werden. Mit dem Wechsel zur Farbe, wechselt der gesamte Stil.

Verzweifelte Verwandlungen

Höchst fokussiert wird ein fast mathematisch konstruierter Beweis eines Lehrsatzes abgewickelt, ein „marxistisch-christliches Lehrstück“, wie ein zeitgenössischer Kritiker den Film bezeichnete. Religion und Sexualität sind die Katalysatoren, mit deren Hilfe der „Gast“ die bürgerliche Familie quasi erweckt und damit vernichtet. Denn als der geheimnisvolle Fremde so plötzlich verschwindet, wie er aufgetaucht ist, stürzt das jedes Mitglied der Familie in eine schwere Krise.

In Bildern, die sich ganz auf das Wesentliche konzentrieren, zeigt Pasolini die verzweifelten Verwandlungen. Gerade die Angestellte Emilia verfällt dem religiösen Wahn und wird wundertätig, während die Tochter des Hauses in der Psychiatrie landet. Die vorher so moralische Ehefrau sucht sich jugendliche Liebhaber und Paolo verschenkt seine Fabrik, um nackt in die Wüste zu gehen. Erst dort, in Abwesenheit aller kapitalistischen Merkmale, kann er Rettung finden.

La Lotta Continua

Trotz der poetischen Prägnanz seiner Bilder, trotz Pasolinis Liebe zum geschrieben Wort, war er sich der Bedeutung realer politischer Aktivität bewusst. „Es gibt keine Poesie außer der realen Tat“, schreibt er. So arbeitete er 1971 gemeinsam mit Aktivist_innen der außerparlamentarischen, linken Gruppe Lotta Continua, für deren Zeitschrift er zeitweise als Herausgeber verantwortlich war, am Dokumentarfilm „12 Dicembre“.

Selbst die Kamera auf der Schulter tragend, filmte er Demonstrationen von Studierenden und Zusammenstöße mit der Polizei. Im April folgten die Anzeigen wegen Aufrufs zum Ungehorsam gegen die Gesetze des Staates und Aufforderung zu strafbaren Handlungen.

Pasolinis Zugang wurde oft als pessimistisch angesehen und man könnte „Teorema“ vorwerfen, dass der Film zwar die Bourgeoisie sehr heftig attackiert, die antagonistischen Kräfte des Proletariats aber kaum darstellt. Die Übergabe der Fabrik an die Arbeiter_innen scheint diese ruhigzustellen und so den endgültigen Sieg des Kapitals zu symbolisieren.

„Hass“

„Hass“

Pasolini ist nicht unbedingt für seine politische Analyse zu bewundern, sondern für die Kraft seiner Bilder, seine Hartnäckigkeit und seinen Mut gegenüber den Angriffen der politischen Eliten Italiens, der Kirche, der kommunistischen Partei Italiens und nicht zuletzt auch dafür, was er durch sein Auftreten für das Selbstbewusstsein von Homosexuellen geleistet hat.

Der Verfasser/die Verfasserin hat den Artikel mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt.