Vor 100 Jahren: Mussolinis Griff zur Macht

David Paenson analysiert in einem Gastbeitrag die Machteroberung von Benito Mussolini.
25. September 2022 |

Im September diesen Jahres, 2022, stehen Wahlen in Italien an. Es sieht ganz danach aus, als ob die Dreierkoalition der extrem rechten Parteien – Salvinis Lega, Berlusconis Forza Italia und Melonis »post«faschistischer Fratelli d’Italia (Brüder Italiens) die Wahlen gewinnt.

Meloni, die ihre Partei als »Bewegung« bezeichnet, die »nicht faschistisch, aber auch nicht nichtfaschistisch« sei, deren Parteilogo eine brennende Fackel in den Farben der italienischen Fahne darstellt und auf ihrer Homepage Faschisten und italienische Geheimagenten von ihrer erwiesenen Verantwortung für den Anschlag auf den Bahnhof von Bologna im Jahr 1980 mit 85 Toten freispricht, liegt in der Wählergunst vorne. Droht eine Wiederholung von Mussolinis Machtergreifung vor genau 100 Jahren, im Oktober 1922?

Historische Wurzeln des italienischen Faschismus

Der historische Faschismus in Italien speist sich im Wesentlichen aus zwei Quellen: dem Drang der herrschenden Klasse des erst zwischen 1860 und 1870 vereinigten Italiens nach »ihrem« Platz in der Sonne unter den bestehenden imperialistischen Mächten und dem Rachegefühl der Industriellen und Agrarier gegen eine der lebendigsten Arbeiter- und Landarbeiterbewegungen in ganz Europa.

Zunächst wollen wir einen kurzen Blick auf Italiens Stellung in der Rangordnung europäischer Mächte werfen.

Italiens Einheit

Im Jahr 1860 fanden in acht verschiedenen Regionen des zersplitterten Italiens Volksabstimmungen über die Frage des Anschlusses an ein geeintes Königreich Italien statt – zwei weitere folgten in den Jahren 1866 und 1870 – also ziemlich zeitgleich mit der Gründung des Deutschen Reichs.

Diese Volksabstimmungen waren aber im Gegensatz zu Bismarcks Gründung des Deutschen Reichs nach der Niederschlagung der Pariser Kommune 1871 teilweise Ausdruck einer breiten demokratischen Mobilisierung. Die Ergebnisse waren eindeutig. Die Toskana gab 366.571 Ja-Stimmen gegen 14.925 Nein-Stimmen ab, in Venedig waren es 647.246 zu 69. Gleiches Bild im ärmeren Süden: in Neapel 1,3 Millionen zu Zehntausend, in Sizilien 432.053 zu 667.

Im Süden verbanden die Menschen die Einheit Italiens mit der Hoffnung auf eine Landreform. Ihre Hoffnungen wurden allerdings bitter enttäuscht, als Garibaldi, der Held der Revolution von 1848, die Seiten wechselte und seine Truppen einsetzte, um Landbesetzungen durch die Bauern niederzuschlagen. Luchino Visconti hat die Ereignisse in seinem 1964 gedrehten Film »Der Leopard« eindrucksvoll geschildert.

Ein junger Imperialismus

Die neugewonnene Einheit katapultierte das Land in die Liga der imperialistischen Mächte – vor allem England und Frankreich, aber auch Deutschland, USA, Russland, Österreich und Japan.

Es handelte sich allerdings um einen schwächeren Imperialismus. Als Spätankömmling im Konkurrenzkampf der Nationalstaaten musste Italien vor allem zwischen den bestehenden Kolonialmächten Frankreich und Großbritannien lavieren.

Während beispielsweise die Briten Italien schon im Jahr 1882 das Angebot unterbreiteten, ägyptische Besitzungen am südlichen Ufer des Roten Meers zu besetzen, um so den Einfluss Frankreichs zurückzudrängen, lud seinerseits Frankreich Italien dazu ein, statt nach Tunesien zu greifen, doch lieber Tripolitanien (ausgedehntes Gebiet im Nordwesten des heutigen Libyen) in Besitz zu nehmen.

Seine ersten blutigen Niederlagen als Kolonialherr holte sich Italien in verschiedenen Schlachten gegen äthiopische Truppen in den Jahren 1887 bis 1889 ein, was die italienische herrschende Klasse nicht davon abhielt, es immer wieder zu versuchen.

Italiens Industrialisierung

Wer Imperialismus sagt, sagt massenhafte Industrialisierung. Moderne Kriege, vor allem inter-imperialistische Kriege, wie wir sie heute in der Ukraine erleben, erfordern eine enorme Mobilisierung der Wirtschaftskräfte. Es kann keine modernen Kanonen ohne moderne Stahl- und Metallindustrie geben.

Die sofort nach der Staatsgründung einsetzende Industrialisierung Italiens fand daher vor allem auf dem Gebiet der Rüstung statt. Hier einige beispielhafte Zahlen: Die Stahlproduktion stieg in den sieben Jahren von 1881 bis 1888 von 3600 auf 158.000 Tonnen, die Stromproduktion von 3 Millionen kWh im Jahr 1881 auf 752 Millionen im Jahr 1910. Allerdings war Italien vollständig auf teure Kohleimporte angewiesen.

Es gab aber auch erhebliche Investitionen zur Modernisierung der Landwirtschaft in der Po-Ebene.

Wer Industrialisierung sagt, sagt auch Entstehung einer modernen Arbeiterklasse. Zwischen 1861 und 1870 wuchs die Zahl der Beschäftigten im Bergbau von 45.000 auf 330.000 und in der Eisenindustrie von 33.000 auf 154.000.

Die Arbeiterbewegung betritt die Bühne

Die Sozialistische Partei gründete sich im Jahr 1892, drei Jahre später schon entsandte sie 15 Abgeordnete ins Parlament. Ihre Tageszeitung Avanti! erschien erstmals im Jahr 1896.

Weil die Industrialisierung fast ausschließlich der Rüstung zugute kam und nicht einer Erhöhung des Lebensstandards der Arbeiterklasse, kam es im Jahr 1898 zu Brottumulten und Streiks, die mit Hilfe von 40.000 Soldaten niedergeschlagen wurden. In etlichen Städten Italiens wurde der Ausnahmezustand ausgerufen. Am 8. Mai kam es in Mailand zu Barrikadenschlachten, Kanonen wurden eingesetzt, es gab hunderte Tote und über tausend Verletzte. Im Jahr 1904 – ein Jahr vor der ersten russischen Revolution – fand dann der bislang größte Streik in der Weltgeschichte statt, der der Regierung eine Reihe von Sozialgesetzen abtrotzte.

Eintritt Italiens in den Ersten Weltkrieg

Mussolini verdiente seine Sporen als Diener der Interessen der herrschenden Klasse schon im Herbst 1914 – fünf Jahre vor der offiziellen Gründungsversammlung der faschistischen Partei im Jahr 1919.

Wie bereits erwähnt, musste der italienische Imperialismus zwischen den etablierten Imperialismen hin und her lavieren. Dieses Lavieren der herrschenden Klasse setzte sich bis in die ersten Monate des Ersten Weltkriegs fort, als sie sich nicht für eine Seite entscheiden konnte – die Mittelmächte mit Deutschland als führender Macht, oder die Entente unter der Führung Englands, Frankreichs und Russlands. Sie war zu dem Zeitpunkt eigentlich mit Deutschland vertraglich verbunden, führte aber mit der Entente parallele Geheimverhandlungen und entschied sich schließlich für letztere Alternative.

In dieser Situation der Unentschlossenheit entdeckten Frankreich und England in Mussolinis Rhetorik ein wertvolles Sprachrohr.

Mussolini wechselt die Seiten

Bis zum Sommer 1914 war Mussolini führendes Mitglied der Sozialistischen Partei und seit 1911 Chefredakteur von deren Zeitung Avanti! – eben jener Zeitung, die er fünf Jahre später in Brand setzen ließ – und glühender und extrem populärer Gegner eines Kriegseintritts.

Seine Kehrtwende wurde publik am 4. Oktober 1914. An diesem Tag, noch als Mitglied der Sozialisten und Avanti!-Chefredakteur, gegründete er zusammen mit führenden Syndikalisten die Fascio rivolionario dazione internazionalista.

Am 15. November 1914 folgte die erste Ausgabe seiner neuen Tageszeitung Il Popolo dItalia.

Aus der Partei ausgeschlossen wurde er am 29. November.

Seine Zeitung, die er bis 1943 stets unter seiner direkten Kontrolle behielt, war sein Instrument, um sein Netz an Anhängern bis weit in großbürgerliche Kreise hinein immer weiter auszudehnen und zu festigen. Sie war Propaganda-, Agitations- und Organisationsinstrument in einem. Um die Zeitung herum baute Mussolini auch ein Netzwerk von Korrespondenten – nicht viel anders als Lenin mit seiner Zeitung. Das Redaktionsbüro mitten im Roten Mailand war auch Ausgangs- und Endpunkt von faschistischen Demonstrationen und Kundgebungen.

Für seine Kriegspropaganda belohnte ihn der britische Geheimdienst MI5 mit wöchentlichen Überweisungen von 100 Pfund (umgerechnet 8000 Euro), die erst 10 Jahre später, im Jahr 1925, wieder eingestellt wurden. Auch das französische Außenministerium finanzierte ihn. Italienische Schwerindustrielle gehörten ebenfalls zu seinen Finanziers.

Werfen wir einen kurzen Blick auf das knappe, eine DIN-A4-Seite lange Gründungsprogramm vom 4. Oktober 1914:

In dieser tragischen Stunde, in der der ungeheure Krieg in Europa ein blutiges Fest feiert, in der die Vernunft der Zivilisation unter einer Sintflut der Barbarei überrollt erscheint, fühlen wir, wir Militante der verschiedenen revolutionären Fraktionen, dass es unsere Pflicht ist, unsere Meinung klar und ehrlich zu verkünden. Als Revolutionäre können wir nicht umhin, die internationale Bourgeoisie in ihrer Gesamtheit als verantwortlich für die Geißel der Völker zu betrachten, aber verantwortlich sind auch wir Revolutionäre, die Arbeiterklasse der verschiedenen Länder, die Avantgarde, die den Hass gegen den Krieg und den Kampf gegen den Militarismus zu ihrem Programm gemacht hatten. Unsere Bemühungen, den Krieg zu verhindern waren unzulänglich. … Die französischen, belgischen und britischen Genossen blieben standhaft, nicht aber die deutschen und österreichischen, also jener Staaten, die sich vor den Augen der ganzen Welt als die Architekten der wiederauferstehenden dunklen Kräfte des Mittelalters gegen jedes Licht der Zivilisation, gegen jedes Element des Fortschritts zeigen. … Daher müssen wir uns fragen, ob den vitalsten Interessen der Arbeiterklasse der verschiedenen Länder, ob der Sache der sozialen Revolution besser durch die von der offiziellen Sozialistischen Partei und den Klerikalen gewollte, die deutsche Armee begünstigende strikte Neutralität gedient ist, oder nicht vielmehr durch eine Intervention auf Seiten der Staaten Europas, die die Sache der Freiheit und des Friedens vertreten, auf der Seite Frankreichs, dem Geburtsort von hundert Revolutionen, auf der Seite Englands, dem Vorreiter jeglicher politischer Freiheit, auf der Seite des großzügigen und heroischen Belgiens.

Das war das Programm der italienischen Imperialisten, der Großindustriellen, der höheren Offiziere, der Elite-Soldaten Arditi, nicht aber der einfachen Soldaten.

Das wusste Mussolini auch. Öffentlich sprach er stets von großer Kriegsbegeisterung unter dem Volk. Im Privaten gab er zu, dass sie inexistent war. Seinem Biografen De Begnac vertraute er an: »Ich weiß alles über die Hinterbühne des Enthusiasmus der Truppen an der Front. Ich weiß alles über die Fremdheit, die der Bauernsoldat für die Idealität des Kriegs empfindet. … Der Krieg ist auch Hass gegen uns, die ihn ja gewollt haben, aber ohne die Möglichkeit bekommen zu haben, dessen Kurs zu bestimmen. Und der Krieg ist auch mein Groll gegen Cadorna, gegen Capello, gegen Andrea Graziani, der mit seiner Exekutionsplatoon aus Carabinieri den Soldatenreihen im Rücken stand.«

(General Graziani hatte sich einen Namen gemacht, indem er zahllose Soldaten standrechtlich erschießen ließ.)

Nach dem Krieg war Mussolini für eine kurze Zeit Befürworter der neugegründeten Liga der Nationen. Als Italien von den Siegermächten, zu denen Italien offiziell gehörte, um seinen »gerechten Anteil an der Beute betrogen« wurde, wurde er schnell wieder zum Befürworter eines neuen Kriegs, um diese Schmach zu beseitigen.

Die Arbeiterbewegung nach Kriegsende

Die Militanz der italienischen Arbeiterbewegung in den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg – wegen des Ausnahmezustands kurzzeitig eingefroren – nahm im letzten Kriegsjahr und nach Kriegsende wieder an Fahrt auf.

Italien hatte 600.000 Tote und eine Million Verletzte zu beklagen. Die heimkehrenden Truppen waren stark radikalisiert. Im Jahr 1919 erkämpfte die starke Metallarbeitergewerkschaft den 8-Stundentag. Die Sozialisten hatten mittlerweile 200.000 Mitglieder und bekamen 1,8 Millionen Stimmen. Mit 32,3 Prozent war sie die stärkste Partei. Sie stellte ein Viertel aller Bürgermeister im Land. Der gewerkschaftliche Dachverband CGdL verachtfachte seine Mitgliederzahl auf fast zwei Millionen. Dazu gab es die vom Papst anerkannte christliche Gewerkschaft mit 1,8 Millionen Mitgliedern und eine syndikalistische mit 300.000 Mitgliedern.

Es gab auch eine überbordende Kooperativbewegung. Das Arbeitsministerium zählte im Jahr 1921 20.000 Kooperativen, darunter 6.500 Verbraucherkooperativen. Die Arbeiterkooperativen beschäftigten im Jahr 1915 ein Siebtel aller Lohnabhängigen. Die größte Werft Italiens befand sich im Jahr 1919 in den Händen einer Arbeiterkooperative. Auch die Landarbeiter waren stark organisiert, sie bestimmten den Mindestlohn und kein Landarbeiter oder Landarbeiterin konnte sich an ihnen vorbei verdingen.

Die Militanz der Soldaten: Associazione nazionale combattenti

Die einfachen Soldaten gründeten wenige Tage nach Kriegsende, Mitte November 1918, die Nationale Vereinigung der Soldaten, Associazione nazionale combattenti, die innerhalb nur weniger Monate auf 300.000 Mitglieder anwuchs. Auf diese Vereinigung hatte Mussolini als verhasster Kriegstreiber keinen Einfluss.

Mussolini versuchte es dennoch. Sein Ansatz war, die allgemeine Verbitterung unter den Verletzten und Verstümmelten und den Familien der Getöteten auf seine Bahnen mit folgender verquerer Logik zu lenken: Ihre Opfer sollen nicht umsonst gewesen sein. Mussolinis Il Popolo dItaliahetzte gegen die Amnestie für Deserteure, »eine kreischende Sittenlosigkeit, eine Ohrfeige gegen die Erinnerung an die Getöteten, die nicht desertiert, die vielmehr gefallen sind, gegen die Ehre der Überlebenden, die gekämpft haben«. Es ist das Gegenteil der Forderung der Sozialisten, die eine Amnestie für alle Opfer der Kriegsjustiz verlangen.

Der erste Soldatenkongress fand im Juni 1919 statt, es kamen 1000 Soldaten zusammen.

Der führende Faschist Vecchi versuchte dort zu intervenieren. Er sprang auf den Tisch und wollte ein Manifest gegen alle bürgerlichen Kandidaten und überhaupt gegen das bürgerliche Parlament verkünden, wurde aber mit Pfiffen empfangen und rausgeworfen. Mussolini selbst musste draußen bleiben.

Mussolinis »proletarischer Antiimperialismus«

Mussolini hatte sein ganzes Vokabular in seinen Anfangsjahren in der Sozialistischen Partei gelernt.

Angelo Tasca, der zusammen mit Gramsci, Togliatti und Bordiga Anfang des Jahres 1921 den kommunistischen Flügel von der PSI abspaltete und die Italienische Kommunistische Partei gründete, urteilte in seinem Klassiker von 1938 »Glauben, gehorchen, kämpfen: Aufstieg des Faschismus in Italien«, Mussolini sei in Wirklichkeit niemals Sozialist gewesen, sondern ein machtgieriger Egoman, ein Eklektiker, der politische Versatzstücke aus den unterschiedlichsten Quellen zusammenklaubte und bei passender Gelegenheit von sich gab.

Er war ein Meister darin, das sozialistische Vokabular in sein Gegenteil zu verdrehen. So missbrauchte er den Klassenbegriff »Proletariat«, um das Verhältnis schwächerer, sogenannter »proletarischer« Nationen, zu denen Italien gehöre, zu den sogenannten »plutokratischen« Nationen, zu denen Frankreich und Großbritannien gehörten, zu beschreiben, womit er Italiens eigenen Imperialismus rechtfertigte.

In seinem Editorial für den 1. Januar 1919 schrieb er: »Der Imperialismus ist das ewige und unabänderliche Gesetz des Lebens. Er ist im Grunde genommen nichts anderes als das Bedürfnis, das Verlangen und der Wille zur Expansion, die jedes Individuum, jedes lebendige und vitale Volk in sich trägt.«

Kleinbauern und Soldaten von den Sozialisten im Stich gelassen

Die Radikalität der heimkehrenden Soldaten – 3 Millionen hatten unter grausamen Bedingungen gedient – wurde von den Sozialisten nicht aufgegriffen und organisiert. Viele Soldaten waren vom Land und hofften nach ihrer Rückkehr von der Front auf ein Stück Land im Rahmen der bereits 1917 versprochenen Landreform.

Die ärmere Landbevölkerung in der fruchtbaren Po-Ebene bestand aus Landarbeitern, Halbpächtern, Pächtern und Kleinbauern – ihnen gegenüber standen die Großgrundbesitzer und die mit ihnen verbandelten höheren Ränge von Polizei, Armee, Justiz und Kirche.

Die Landarbeiter waren gut organisiert. Tasca führt aus, dass es nur an 120 bis 130 Tagen im Jahr Arbeit für sie gab. Um nicht in Zeiten ohne Arbeit zu verhungern, führten sie während der Hochsaison oder unmittelbar vor der Ernte erbitterte Streiks, melkten nicht die Kühe und ließen sie verenden, ließen die Ernte liegen. Sie kämpften nicht nur für höhere Löhne, sondern auch um die Aufteilung der Arbeit und die Lieferung des landwirtschaftlichen Produkts an Kooperativen unter ihrer Kontrolle. Streikbrecher wurden gnadenlos boykottiert, Bäckereien beispielsweise durften kein Brot an sie verkaufen.

Dabei zwangen die streikenden Landarbeiter auch die Pächter und Halbpächter mitzumachen. Letztere durften zwar den für sie selbst bestimmten Anteil an der Ernte behalten, mussten aber den anderen Teil auf den Feldern liegen und verrotten lassen. Die verendeten Kühe, die Massen an vergammeltem Getreide mussten den Bauern das Herz brechen, wie Tasca schreibt.

Die unter der Kontrolle der Landarbeiterligen stehenden Arbeitsvermittlungsstellen verteidigten erfolgreich die Löhne. Denn wer Arbeit suchte, musste sich einschreiben, und wer Arbeiter suchte, musste sich ebenfalls registrieren, um einem Boykott zu entgehen. An diesen Erfolgen partizipierten die Kleinbauern nicht.

Um die Streiks und Kundgebungen der Landarbeiter vor den Angriffen durch die von den Großgrundbesitzern organisierten Schlägertrupps und Streikbrecher zu schützen, gründeten sich im Sommer 1919 die »Roten Garden«. In manchen Gegenden kontrollierten sie tatsächlich jeglichen Gütertransport von einem Ort zum anderen. Sie organisierten Boykotts, setzten Heuschuppen in Brand, töteten Vieh, griffen gelegentlich Häuser der Grundbesitzer und Streikbrecher an.

Diese radikale Bewegung auf dem Land wurde tragischerweise zu keinem Zeitpunkt mit der Bewegung der Industriearbeiter koordiniert. Die Sozialistische Partei vergraulte vielmehr die Kleinbauern mit ihrer Forderung nach Sozialisierung des Landes – das Gegenteil von Lenins Politik der sofortigen Landverteilung an die hungrigen Bauern und heimkehrenden Soldaten.

Denn die Sozialisten, anstatt Land für alle zu fordern, hatten die Verwandlung des Großgrundbesitzes mit einer über viele Jahre gestreckten Entschädigung der Eigentümer zu ihrem Programm erhoben. Für die Kleinbauern, die auf ihren kleinen Feldern kaum überleben konnten, und für die Landbevölkerung im südlichen Italien hatten sie kein Angebot, ebenso wenig für die Pächter, die zusammen mit den Großgrundbesitzern ihr Stück Land zu verlieren drohten, nur um mit der vagen Aussicht auf eine Beschäftigung in den neu zu gründenden Kooperativen vertröstet zu werden,

Schlimmer noch, dieses Programm sollte auf parlamentarischem Weg verwirklicht werden, in einem Parlament, in dem die Sozialisten nicht die Mehrheit hatten, und durch eine Regierung, an der sie sich nicht beteiligen wollten. Somit zogen sie den Hass der Großgrundbesitzer auf sich, ohne im Gegenzug die Landbevölkerung mobilisieren zu können. In dieser Situation konnten sich Mussolinis Faschisten als Freunde der Kleinbauern ausgeben und neue Rekruten für ihre gewalttätigen Streifzüge gegen die bestehenden Kooperativen gewinnen.

Eine faschistische Betriebsbesetzung

Ein Beispiel für Mussolinis Kalkül, an der Sozialistischen Partei und dem großen Gewerkschaftsverband CGdL vorbei Teile der Arbeiterklasse anzusprechen, bietet die Fabrikbesetzung der Stahlwerke Franchi i Gregorini in Dalmine am 15. März 1919 – also gerade eine Woche vor Gründung seiner Partei am 23. des gleichen Monats.

Es gab, wie bereits erwähnt, neben der großen sozialistischen Gewerkschaft Confederazione generale del lavoro CGdL mit ihren mittlerweile 2 Millionen Mitgliedern die anarcho-syndikalistische Gewerkschaft Unione Sindicale Italiana mit 300.000 Mitgliedern und die katholische Confederazione Italiana del Lavoro, die nach eigener Zählung 1,8 Millionen Mitglieder organisierte, allerdings vor allem auf dem Land.

Noch vor Kriegsende, am 9. Juni 1918, wurde dann die nationalistisch-syndikalistische Unione Italiana del Lavoro (UIL) als rechte Konkurrenz zu diesen Massengewerkschaften gegründet. Deren Sekretär Rossoni war in den USA zuvor einer der Organisatoren der Industrial Workers of the World gewesen. 1921 wurde er Parteimitglied der Fasci, und unter Mussolinis Herrschaft war er einer der Hauptarchitekten des faschistischen Staats und der zwangsweisen Eingliederung der Arbeiter und Arbeiterinnen in die faschistischen Gewerkschaften. Ein weiterer führender Faschist, der aus den Reihen der Uil stammte, war Bianchi.

Mit einiger Unterstützung durch Mussolinis Fasci und angeführt von der UIL besetzten die Arbeiter der Stahlwerke Franchi i Gregorini am 15. März 1919 ihren Betrieb, wobei sie die Produktion aufrechterhielten. Über die Fabrik hissten sie die Trikolore, die Nationalflagge Italiens, um sich von der roten Fahne der Sozialisten abzugrenzen. Die Besetzung fand unter dem Motto »Im Interesse der italienischen Industrie und für das Wohl des Volks ganz Italiens« statt.

Das Experiment dauerte gerade mal drei Tage, die Eigentümer kappten den Strom, das 600.000 Quadratmeter große Gelände wurde von 1000 Soldaten eingenommen und die Besetzer rausgeschmissen.

Mussolini war voll des Lobs für die Besetzung. Er stattete, zusammen mit anderen führenden Faschisten und Vertretern der UIl, am 20. März, drei Tage nach Ende der Besetzung, der »Avantgarde des nationalen Syndikalismus« eine Ehrenvisite ab. Er hielt eine Rede vor 1000 versammelten Arbeitern, in der er den »negativen Streik der Sozialisten« verdammte und den »kreativen Streik ohne Unterbrechung der Produktion« lobte.

In seiner Rede distanzierte er sich allerdings indirekt von der Fabrikbesetzung. Er sagte: »Das Experiment wurde durch die unnachgiebigen Erfordernisse des Klassengesetzes gekappt.« Mit anderen Worten, sie war von Beginn an ein hoffnungsloses Unternehmen. Damit rechtfertigte er letztlich die Herrschaft der Bosse.

Kein Wunder, denn einer der Hauptaktionäre des besetzten Werks war großzügiger Spender von Mussolinis Il Popolo dItalia. So schloss sich der Kreis!

Aber so einfach ließ sich die Belegschaft nicht düpieren. Anderthalb Jahre später, den ganzen Monat September 1920 über, als die Metallindustrie ganz Italiens von einer Fabrikbesetzungswelle erfasst wurde, wehte diesmal die Rote Fahne statt der italienischen Trikolore über der Fabrik. Und einer der Teilnehmer der ersten Besetzung verfasste ein Buch über die Ereignisse, in dem er sich von den Faschisten distanzierte.

Mussolinis Rede vor der Belegschaft hielt Einzug in die faschistische Folklore. Sie wurde bis Ende seiner Diktatur im Jahr 1943 immer wieder als großartiger Beweis für seine Nähe zur Arbeiterklasse zitiert. Drei Tage nach seiner Rede gründete er dann seine faschistische Partei.

Die Gründung der faschistischen Partei

Die Gründungsversammlung fand am 23. März 1919 statt, in einem prunkvollen Saal, der vom Unternehmerverband »Circolo degli Interessi Industriali e Commerciale« zur Verfügung gestellt wurde. Neben 100 bekennenden Faschisten verschiedener Prägung nahmen auch Ultrakonservative, Anarchosyndikalisten, ehemalige Frontkämpfer, Freimaurer, linke Kriegsbefürworter und Futuristen Teil.

Mussolinis Programm spiegelte die Stärke der Arbeiterbewegung wider. So forderte es »Technische Arbeitsräte auf nationaler Ebene«, was in seiner Wortwahl an die russischen Sowjets erinnerte. Außenpolitisch forderte es »den friedlichen Wettbewerb der zivilisierten Staaten«. Und auf sozialer Ebene »eine echte Teilenteignung aller Güter«. Das war die typisch zweideutige Sprache Mussolinis – denn was ist eine »echte«, aber nur »teilweise« Enteignung? Und welche Garantie gibt es, dass aus dem »friedlichen Wettbewerb der zivilisierten Staaten« nicht erneut wieder Krieg wird?

Bei aller »sozialistischen Sprache« stellte Mussolini gleich am Tag der Parteigründung klar, wer der Hauptfeind ist: »Es ist notwendig, sich bewusst zu machen, zu glauben und glauben zu lassen, dass die einzige reaktionäre Partei heute die offizielle Sozialistische Partei ist … weil sie seit 1914 für die Konterrevolution gearbeitet hat.«

Die Zerstörung der sozialistischen Zeitungszentrale Avanti!

Mussolinis frisch gegründete Fasci schritten schnell zur Tat. Am 15. April, also gerade mal drei Wochen nach Parteigründung, plünderten und brandschatzten ihre Schlägertrupps die Redaktionsbüros von Avanti! Es gab daraufhin einen Generalstreik und dank einer großen Spendensammlung konnten die Redaktionsbüros wiederhergerichtet werden.

Aber was fehlte, war ein gezielter Gegenschlag. Stattdessen gab es einige schöne Reden im Parlament. Serrati, Herausgeber der Avanti!, schrieb: »Das Blut der Opfer, das mit der Komplizenschaft der Behörden vergossen wurde, wird den Sozialismus zu neuer Blüte treiben.« Und Bombacci, der baldige neue Parteiführer der Sozialisten: »Unsere Partei ist heiter und stolz, denn dies ist die historische Periode des Triumphs des Sozialismus.« Und an die Squadristen gewandt: »Macht nur weiter so, meine Herren, wenn das euch gefällt, wir für unseren Teil marschieren heute wie gestern ungetrübt und enthusiastisch über unsere Straße.« Und der reformistische Fraktionsvorsitzender der Sozialisten, Turati: »Wenn das Spektakel von Individuen andauert, die sich in ihren Zeitungen damit brüsten, brandgeschatzt, geschossen und randaliert zu haben, und die Behörden sich weiterhin weigern, das zur Kenntnis zu nehmen und es sogar befördern, erwarten Italien traurige Tage, und die Schuld wird nicht unsere sein.« Nicht unsere Schuld? Damit hat Turati das klare Signal der Tatenlosigkeit ausgegeben. Es ist nicht mehr als ein blutleeres Appell an die Regierung, sie möge die Aufgabe erledigen, die Faschisten zurückzuschlagen. Es wurde zwar ein Generalstreik ausgerufen, aber mit dem beschränkten Ziel, Druck auf die Behörden auszuüben, die an Stelle der Antifaschisten einschreiten sollten.

Am Jahrestag nach diesem Anschlag höhnte Mussolini in seiner Zeitung: »Am 15. April offenbarten sich die Mailänder Sozialisten – für jedermann sichtbar – als Philister und Feiglinge. Sie waren nicht imstande, eine Geste der Revanche zu planen oder zu versuchen … Und das gesammelte Geld … reicht nicht aus, um die historische Bedeutung dieses Tages auszulöschen, an dem die maximalistische Puppe … in das stinkende Flusswasser des Navigliokanals fiel.«

Mussolini hatte hier die Schwäche seiner Gegner scharfsinnig erkannt: ihre mangelnde Bereitschaft, schnell und entschlossen zurückzuschlagen und die faschistische Bewegung im Keim zu ersticken. Das sollte, denke ich, auch für uns heute eine wichtige Lehre sein – eine Lehre, die übrigens Hitler, zwölf Jahre später, ausbuchstabierte: »Nur eines hätte unsere Bewegung stoppen können – wenn unsere Gegner ihr Prinzip verstanden hätten und vom ersten Tag an den Kern unserer neuen Bewegung mit aller Brutalität zerschlagen hätten.«

Der 15. April blieb – wie seine Rede vor der Arbeiterschaft der Stahlwerke Franchi i Gregorini – bis Ende von Mussolinis Diktatur im Jahr 1943 wesentlicher Bestandteil der faschistischen Legendenbildung. So schuf der futuristische und kubistische Maler Enrico Prampolini für eine faschistische Kunstausstellung im Jahr 1932 zwei riesige Bilder von jeweils 5×6 Metern zum Andenken an das blutige Ereignis. Eine ganze Riege hochrangiger Faschisten in voller Montur posierte davor (das Foto findet sich im Internet).

Caro vita Sommer 1919

Die stark nach links sich ausbreitende Unruhe im ganze Land hielt das ganze Jahr 1919 an. Der Sommer 1919 war von steigender Arbeitslosigkeit – gefüttert durch die heimkehrenden Soldaten und die Schwierigkeit, von der Kriegsproduktion wegzukommen – und rasanter Inflation gezeichnet.

Die Situation explodierte am 14. Juni. Hungernde Massen stürmten die Geschäfte. In dieser Situation schlug sich Mussolini auf ihre Seite, während die sozialistische Avanti! wie auch die Gewerkschaften versuchten, die Bewegung zu bremsen und zur Disziplin aufriefen.

In der Stadt Siena beispielsweise bestieg ein Sozialist einen LKW, überzeugte die Menge, von ihrer »schamhaften und unehrenhaften Plünderung« zu lassen, sammelte alle Waren ein, transportierte sie ins Gewerkschaftshaus und gab sie zurück an ihre Besitzer.

In Ancona, am 2. Juli, wurden Truppen vor die Geschäfte postiert, und als die Menge sich darüber hinwegsetzte, wurde Schießbefehl erteilt. Die Soldaten weigerten sich allerdings und wurden applaudiert. Aus lauter Verzweiflung übergaben manche Geschäftsleute die Schlüssel zu ihren Läden den Leitern der Gewerkschaftshäuser.

Der Charakter der Sozialistischen Partei

Auf ihrem Kongress im Oktober 1919 gewannen die sogenannten »Maximalisten« die Mehrheit und die Reformisten blieben stark isoliert.

Der Kongress bedeutete eine deutliche Linkswendung. So trat die Partei in ihrer Gesamtheit Lenins III. Internationale bei. Alle redeten von proletarischer Diktatur, von nahender Revolution, von der Notwendigkeit revolutionärer Gewalt, von Sowjets.

Nur der Reformist Turati warnte vor einem möglichen Suizid: »Heute nehmen uns unsere Feinde nicht ernst, aber an dem Tag, an dem sie zurückschlagen werden, werden sie, hundertmal besser bewaffnet als wir, uns zerschlagen. Dann Adieu der parlamentarischen Aktion, Adieu den wirtschaftlichen Verbänden, Adieu der Sozialistischen Partei!« Für Turati, den ehrlichen Kämpfer für den Achtstundentag und für eine gründliche Bildungsarbeit unter Arbeitern und Arbeiterinnen, war der Sozialismus das natürliche Ergebnis des allgemeinen Fortschritts, auch und nicht zuletzt einer immer aufgeklärteren Bourgeoisie.

Aber die Arbeiterklasse sei eben noch nicht reif für den Sozialismus. Als dem damaligen Chefredakteur von Avanti!, Bissolati, im Jahr 1911 das Angebot einer Regierungsbeteiligung der Sozialisten unterbreitet wurde, fiel die Antwort seines Parteigenossen Turati sehr reserviert aus: »Beteiligung an der Macht? Wenn es sein muss, vielleicht; aber sie ist sicherlich nicht möglich.« Das Haupthindernis sei die mangelnde Vorbereitung der Arbeiterklasse: »Was ist heute der Sozialismus in Italien? Der Sozialismus der großen Masse hat ihre äußere Haut kaum berührt; und da, wo er tiefere Wurzeln geschlagen hat, in jenen besser organisierten Oasen, dient er, wie konnte es anders sein, zwar keinen verachtenswerten, dafür aber nur beschränkten und engen Interessen.« Bissolati wurde wegen seiner Befürwortung der Eroberung Libyens kurze Zeit später aus der Partei ausgeschlossen.

Eine solche harmonische Entwicklung war immer ein Trugbild, aber in den Krisenjahren nach dem Ersten Weltkrieg, als jede Klasse und sogar jede Schicht sich nur um die eigenen dringenden Interessen kümmerte und kein Raum für Kompromisse übrig blieb, erst recht. Die desolate wirtschaftliche Lage Italiens ließ nur offene Konflikte zu, die auf die eine oder andere Weise nach einer gewaltsamen Lösung suchten – entweder Revolution oder tiefste Reaktion.

Nach dieser hitzigen Debatte über die Notwendigkeit und Unvermeidlichkeit von Gewalt ging der sozialistische Parteitag dazu über, die Parlamentswahlen zu organisieren. Denn die Partei blieb trotz Linksschwenks im wesentlichen eine Parlamentspartei. Sie unternahm keinen einzigen Schritt, um die Revolution zu organisieren, oder auch nur um sich selbst für eine Revolution vorzubereiten.

Der faschistische Wahlkampf 1919

Im Vorfeld der Parlamentswahlen vom November 1919 war die faschistische Partei uneinig. In einigen Städten gingen sie Wahlbündnisse mit anderen rechten Parteien ein, in anderen riefen sie zum Wahlboykott auf. In dieser Situation setzte sich Mussolini mit seiner Linie durch, lieber ganz allein als Faschisten, Futuristen und Arditi zu kandidieren, auch auf die Gefahr hin, die Wahlen zu verlieren.

Für ihn hatte der Kampf um die Straße größere Bedeutung als der Wahlkampf. Und dementsprechend organisierte er seine zentrale Wahlkundgebung. Er rief Arditi aus mehreren Städten und 150 Marinesoldaten herbei. Polizeischutz lehnte er ab. Es gab strikte Anweisungen: Während der Kundgebung sollten die Faschisten schweigen, damit die Ordner Störer sofort identifizieren und die ihnen erteilten Befehle hören konnten.

Schon zwei Stunden vor Beginn umringten die bewaffneten Arditi den ganzen Platz und kontrollierten alle Passanten penibel. Der Platz wurde von hunderten, von Ordnern hochgehalten Fackeln beleuchtet. Als Bühne diente ein Lastwagen, umringt von hundert weiteren Ordnern in Kriegsuniform. Darüber wehten die schwarze Fahne der Arditi und das Banner der von Mussolinis Freund d’Annunzio besetzten Stadt Fiume im damaligen Jugoslawien. Die Kundgebung wurde mit einem Pistolenschuss eröffnet, es stieg eine Rakete auf, die den ganzen Platz illuminierte. Jeder der fünf Redner wurde mit einem Pistolenschuss gegrüßt.

In seiner Rede beteuerte Mussolini, das Parlament, so wie es bestand, zu zerstören. Nur die Ex-Soldaten, die »Aristokratie der Schützengräben«, hätten das Recht, Gesetze zu erlassen. Er wolle die vollkommene Freiheit des Volkes.

Trotz dieses ganzen Spektakels war der Wahlausgang ein Fiasko für die Faschisten, die keinen einzigen Sitz gewannen, aber auch für alle anderen interventionistischen Parteien.

Doch auch die Partei der gegen den Krieg eingestellten Ex-Soldaten mit ihren 300.000 Mitgliedern schnitt nur mäßig ab, weil sie sich nicht auf ein Programm einigen konnte. Schuld daran war die Sozialistische Partei, die keine Zukunftsperspektive für die Exsoldaten entwarf.

Die Sozialisten ihrerseits gewannen die Wahl mit überwältigenden 1,8 Millionen Stimmen und eroberten 156 Sitze im Parlament. Sie wurden somit zur stärksten Fraktion.

Ein Beispiel für die Linksstimmung gab die Industriestadt Turin. Hier gewann ein sozialistischer Eisenbahner, der sich am Berliner Spartakusaufstand im Januar 1919 beteiligt hatte, 193.000 Stimmen.

Noch war Mussolinis Zeit nicht gekommen. Noch befand sich die Arbeiterbewegung im vollen Aufschwung.

Aus Verbitterung über die Wahlschlappe warfen die Faschisten eine Granate auf eine Kundgebung der Sozialisten zur Feier ihres Wahlsiegs und verletzten 10 Teilnehmer schwer.

Daraufhin forderten die Sozialisten den Polizeichef dazu auf, die Arditi aus der Stadt zu entfernen und die Fasci di Combattimento aufzulösen.Mussolinis Il Popolo dItalia machte sich lustig über eine sich als revolutionär gebärdende Partei, die soeben die Wahlen haushoch gewonnen hatte und stets von Revolution faselte, aber anstatt die Revolution zu machen, die Polizei um Hilfe bat: »Die Leninisten und die Eiterbeule PSI sagen, sie wollen die Macht erobern, um so Italien zu regieren. Und was hindert sie daran? Warum machen sie das nicht?«

Das Biennio Rosso

Die Nachkriegsjahre 1919-20 mit ihrer enormen Militanz in den Industriezentren wie auf dem Land sind bekannt unter dem Namen Biennio Rosso, die beiden Roten Jahre. Die Arbeitgeber und die Großgrundbesitzer wollten dieser Militanz ein für alle Mal ein Ende setzen und schritten zur Gegenoffensive.

Im Jahre 1920 nutzten die Metallarbeitgeber eine wirtschaftliche Flaute, um die Metaller in die Knie zu zwingen. Die Metallarbeiter-Gewerkschaft FIOM, nach Monaten vergeblicher Verhandlungen und einer schließlich kategorischen Ablehnung jeglicher Lohnerhöhung seitens der Industriellen, stand mit dem Rücken zur Wand. Sie sah keine andere Handhabe, als Arbeit nach Vorschrift zu verordnen, die dann im Monat September, als Gegenmaßnahme zu den Aussperrungen durch die Arbeitgeber, in eine massive Betriebsbesetzungswelle mündete. Den ganzen Monat September über hielten 500.000 Metaller, dazu auch Eisenbahner, ihre Betriebe in der eigenen Hand.

Um einen Eindruck von der euphorischen Stimmung während der Besetzungen zu bekommen, kann ein berühmtes Telefonat zwischen einer Transportfirma und FIAT dienen. Die Transportfirma wollte etwas mit dem FIAT-Manager klären: »Hallo, mit wem spreche ich? – Hier spricht das FIAT-Sowjet. – Ach so! … Entschuldigung … Ich melde mich später nochmals.«

Ein weiteres, berühmt gewordenes Telefonat, das Paolo Spriano in seinem »The Occupation of the Factories« zitiert, verlief zwischen dem Premierminister Giolitti und dem FIAT-Boss Agnelli, der die Regierung eindringlich aufforderte, endlich zu intervenieren. Giolitti hörte aufmerksam und geduldig zu und sagte dann:

»Nur die Zeit wird das Problem lösen. Es gibt keine andere Lösung als Gewalt.« Agnelli: »Ja, ganz genau …« Giolitti: »Vielleicht. Aber wir müssen uns im Klaren sein, was das bedeutet. Ich werde es nicht zulassen, dass unsere Sicherheitskräfte auf der Straße schutzlos den roten Garden ausgeliefert werden, sollten sie unter Beschuss geraten. Um die Arbeiter aus den Fabriken zu vertreiben, brauchen wir Artillerie …« »Da bin ich ganz bei Ihnen …« »Wir sind in der Lage, sie sofort zur Verfügung zu stellen. Die 7. Bergartillerie ist in Turin stationiert. Ich werde sie sofort zur Stelle herbei ordern. Morgen bei Sonnenaufgang wird Fiat bombardiert und von den Besetzern befreit.« Agnelli: »Nein! Nein! …« Giolitti: »Na, was denn?« Keine Antwort.

Giolitti, ein gewiefter, mit allen Wässern gewaschener Politiker, wusste, dass nicht Artillerie, sondern der Opportunismus der sozialistischen und Gewerkschaftsführer die Sache ohne Blutvergießen besorgen würde.

Die Führungen der Sozialisten und der Gewerkschaften knicken ein

Diese sehnten sich in der Tat nach einer Kompromisslösung. Bereits im Frühjahr 1920 hatten sie einen militanten, über einen Monat andauernden Streik der Turiner Arbeiterschaft sich selbst überlassen, anstatt aktive Solidarität im ganzen Land zu organisieren. Ein ähnliches Vorgehen sollte sich nun im September 1920 wiederholen.

Noch am Morgen des 10. September, als sich die Besetzungen gerade in der zweiten Woche befanden, hatte die maximalistische Parteiführung der Sozialisten von der »revolutionären Entscheidungsschlacht« gesprochen und die Führung des gewerkschaftlichen Dachverbands CGdL schwang große Reden von der »gewerkschaftlichen Kontrolle der Industrie«.

Aber schon am gleichen Abend jenes 10. Septembers sagten die Gewerkschaftsführer zu den sozialistischen Führern: »Ihr glaubt, dass der Augenblick der Revolution gekommen ist. Schön. Wir fordern euch auf, die Führung der Gesamtbewegung zu übernehmen.« Die Sozialisten bekamen kalte Füße und gaben den Ball zurück an den Gewerkschaftsrat der CGdL, der am nächsten Tag in einem formalen Wahlgang mit 591.425 zu 409.569 Stimmen beschloss, die Revolution von der Tagesordnung zu streichen.

Der Besetzungsstreik zog sich noch ein paar Wochen hin und konnte schließlich Lohnerhöhungen und das vage Versprechen von gewerkschaftlicher Kontrolle erringen. Die Streikenden selbst schwankten zwischen Genugtuung über die erreichten Erfolge und Missmut über die verpasste Gelegenheit, weitreichendere Ziele durchzusetzen. Insgesamt war die Dynamik der Arbeiterbewegung gebrochen.

Die Gewalt nimmt Fahrt auf

Nach dem Ende der Fabrikbesetzungen Ende September 1920 ging es dann Schlag auf Schlag. Angelo Tasca schreibt: »Im ersten Semester 1921 haben die Faschisten in ganz Italien 17 Zeitungsredaktionen und Druckereien, 59 Volksheime, 110 Arbeitskammern, 83 Lokale der Landarbeiterligen, 151 sozialistische Büros und 150 Kulturheime zerstört. Beinahe alle diese Zerstörungen sind zwischen März und Mai erfolgt.«

Er zitiert den Sozialisten Mario Cavallari:

Bei diesen Streifzügen fahren hinter den Lastautos der Faschisten die Lastautos der Carabinieri her; und die Carabinieri singen unterwegs die gleichen faschistischen Kampflieder. In Porto Maggiore ist bei einem tragischen Zwischenfall ein Faschist ums Leben gekommen. Die Ortschaft wird daraufhin bei Nacht von rund tausend Faschisten überfallen, die Handgranaten werfen, in Wohnungen eindringen, Häuser in Brand stecken, Menschen verprügeln und verwunden − und all dies unter den Augen der Sicherheitsbehörde. Dies ist indes nicht alles: Die Carabinieri haben die Zugänge zur Ortschaft blockiert; jedes Mal wenn ein Lastauto mit Faschisten kommt, wird es angehalten; die Carabinieri fragen, ob sie bewaffnet sind, und – falls die Frage verneint wird − statten sie die Faschisten mit Waffen und Munition aus.

Das Versagen der Arbeiterführungen

Es stellt sich die drängende Frage, wie die italienische Arbeiter- und Landarbeiterbewegung, mit ihren Massenmitgliedschaften, ihren dutzenden Zeitungen und Kooperativorganen, Vereins- und Gewerkschaftshäusern, Parteibüros, Bibliotheken, ihrem hohen Organisationsgrad und anderem mehr in so kurzer Zeit zerschlagen werden konnte. Wieso organisierten sie keine effektive Gegenwehr, wieso schlugen sie nicht die Faschisten mit Massengewalt nieder, statt sich abschlachten zu lassen?

Dafür gibt es eine Reihe von Gründen.

Die Arbeiterbewegung, aber auch die Bewegung der Landarbeiter, befand sich sozusagen im Siegesrausch und unterschätzte die faschistische Gefahr, auch wenn sie direkte Zielscheibe faschistischer Übergriffe wurde.

Sogar der großartige Marxist Antonio Gramsci, der in Turin eine eigene Zeitung, LOrdine Nuovo, herausgab, schrieb kaum über die faschistische Gefahr. Er konzentrierte sich ganz und gar auf die Fabrikkommissionen und auf die Errungenschaft, dass diese von der ganzen Belegschaft eines Unternehmens gewählt wurden, und nicht nur von Gewerkschaftsmitgliedern.

Für ihn bildeten diese Kommissionen den Kern eines zukünftigen Arbeiterstaats, vergleichbar mit den russischen Sowjets. Diese Kommissionen spielten tatsächlich eine zentrale Rolle während der Streiks und Fabrikbesetzungen im April und im September 1920. Aber sie waren letztlich doch nur defensive Organe, jede für sich damit beschäftigt, die Angriffe der Bosse in ihren jeweiligen Betrieben abzuwehren.

Olivetti, Boss des italienischen Unternehmerverbands Confederezione dell’industria italiana, verfasste einen Gastbeitrag für Gramscis Zeitung Mitte Mai 1920, also nicht mal vier Monate vor den Fabrikbesetzungen, in dem er die Widersprüche von Gramscis Konzept gnadenlos offenlegte: Entweder sollten sich die Fabrikkommissionen wie die deutschen Betriebsräte auf klar umrissene und begrenzte Funktionen beschränken, damit könne er gut leben, oder es bräuchte einen voll entfalteten Arbeiterstaat wie in Russland, damit sie weitergehende Funktionen erfüllen könnten. Aber Gramscis Vorstellung von Kommissionen, die noch im Rahmen des Kapitalismus das Monopol der Kapitalisten herausfordern und gar den Übergang hin zum Kommunismus organisieren sollten, sei ein absolutes No-Go. Lenin seinerseits warf Gramsci Syndikalismus vor.

Gramsci selbst merkte wenige Jahre später selbstkritisch an, dass er eine zentrale Frage vernachlässigt habe, nämlich, rechtzeitig eine Fraktion innerhalb der mächtigen Sozialistischen Partei gegründet zu haben, die eigenständig hätte die Bewegung über Turin hinaus verbreiten können. Er wäre allerdings auf erbitterten Widerstand gestoßen, wie sich zeigte, als die PSI-Führung die Piedmont-Ausgabe ihrer Zeitung, die ebenfalls unter Gramscis Leitung stand, wegen seiner Unbotmäßigkeit kurzerhand einstellte.

Die Arditi del Popolo

Es ist nicht so, dass die Faschisten auf keinen Widerstand stießen. Die Arditi del Popolo, eine antifaschistische Volksmiliz, wurden im Juni 1921 gegründet, allerdings erst, nachdem die Arbeiterbewegung ihren Höhepunkt überschritten hatte. Aber noch wäre es nicht zu spät gewesen, wenn die Arditi del Popolo eine breite, aktive und auch formelle Unterstützung durch die großen Arbeiter- und Landarbeiterorganisationen erfahren hätten. Sie zählten nach wenigen Monaten immerhin 20.000 Mitglieder, blieben aber weitgehend auf sich allein gestellt mit ihrer eigenen Kultur und eigenen Symbolen des Antifaschismus.

Mussolini erblickte in ihnen durchaus eine reale Gefahr für seine eigene Bewegung und, gewieft wie er war, schloss er nach monatelangen Verhandlungen mit der Sozialistischen Partei einen »Nichtangriffspakt«. Damit wollte er die PSI in falscher Sicherheit wiegen und die radikalen Arditi del Popolo isolieren.

Dieses Manöver war eins der Meisterstücke Mussolinis. Die PSI und die Gewerkschaftsführung empfahlen nun ihren Mitgliedern, zu Hause zu bleiben und Konfrontationen mit den Faschisten aus dem Weg zu gehen. »Bleibt in euren Wohnungen; reagiert nicht auf die Provokationen. Auch Schweigen und Feigheit sind zuweilen echter Heldenmut.«

Die erst am 21. Januar 1921 gegründete Kommunistische Partei unter der Führung Bordigas handelte nicht weniger unverantwortlich, als sie ihre eigenen »klassenbewussten« Rote squadre mit auf ihrem Höhepunkt 6000 Mitgliedern gründete. Mitgliedern der Kommunistischen Partei war es verboten, die Arditi del popolo zu unterstützen. Auch die Arbeiterallianz gegen Faschismus im Jahr 1922 wurde nur halbherzig von der PCI unterstützt – von Tasca in Turin schon, aber nicht von Gramsci, der sie als bürokratisches Manöver kritisierte.

Die Faschisten hatten weitere Vorteile über ihre Gegner. Sie waren bewaffnet, sogar mit Maschinengewehren. Obwohl verboten, wurden sie nie deswegen belangt, ganz anders als die Arbeiter. Ein weiterer großer Vorteil war die Beweglichkeit der Squadristen. Sie konnten auf ihren LKWs von weitem herkommen, während die Arbeiter und die Landarbeiter an ihre Wohnorte gebunden waren. Es war der Vorteil des Bewegungskriegs gegen den Stellungskrieg, wie es Tasca formuliert.

Die Finanziers des Faschismus

Es ist wichtig, das Wesen des Faschismus richtig einzuordnen. Es handelt sich um eine von den staatlichen Institutionen unabhängige und eigenständig organisierte militante und gar militaristische Bewegung von Kleinbürgern unter eigener Führung – das war Trotzkis Analyse.

Tasca beschreibt die Zusammensetzung der ersten Squadre: »In der Poebene sind die Städte in der Regel weniger rot als das Land; in den Städten leben die reichen Agrarier, die Offiziere der Garnisonen, die Universitätsstudenten, die Beamten, die Rentiers, die Freiberufler, die Kaufleute. Aus diesen Schichten kommen auch die ersten Faschisten und die ersten Kader der bewaffneten Kampfgruppen, der squadre

Andererseits ist diese Bewegung vom Wohlwollen und gar der aktiven Unterstützung des Staats abhängig. So befahl Kriegsminister Bonomi – der gleiche Bonomi, den Mussolini 1912 aus der Sozialistischen Partei ausgeschlossen hatte – bereits am 20. Oktober 1920, wenige Wochen nach Beendigung der Fabrikbesetzungen, 60.000 vor der Entlassung stehenden Reserveoffizieren unter Weiterzahlung von Vierfünfteln ihres Soldes, sich Mussolinis fasci di combattimento zu unterstellen. Mussolini stand stets im engen Kontakt mit den Eliten der Großgrundbesitzer und Industriellen. Ich denke, dieses Doppelgesicht des Faschismus widerspiegelt sich auch in der AfD.

Die wöchentlichen Mitgliedsbeiträge waren niedrig: 1 Lira für Studenten, 2 für Arbeiter, 3 für Angestellte. Diese Beiträge wurden von extra dafür abgestellten Ex-Offizieren eingesammelt, und dienten, bescheiden wie sie waren, dem inneren Zusammenhalt der Partei.

Mussolinis faschistische Zeitung Il Popolo dItalia wurde kostenlos verteilt, was ihre Finanzierung durch Großspenden erforderte.

Manche Unternehmer versorgten ihre ganze Belegschaft mit Exemplaren. Das änderte allerdings nichts an der harten Propagandalinie der Zeitung gegen einzelne Kapitalisten, auch solche, die die Zeitung üppig finanzierten.

Mussolinis taktisches Verhältnis zu Gewalt

Aber auch in anderer wichtiger Hinsicht wusste Mussolini stets alle Tasten der Klaviatur zu spielen. Mit anderen Worten, er hatte viele Doppelgesichter, nicht nur eins den Bossen und ein anderes der Arbeiterklasse zugewandt.

So hatte er ein durchaus taktisches Verhältnis zu Gewalt, was manche seiner Anhänger nicht verstanden. So sprach er mal davon, sich notfalls zu »mäßigen«, mal davon, die Gewaltkarte wieder zu ziehen.

In einer Rede am 4. Mai 1921 am Vorabend von Parlamentswahlen hatte er noch gesagt: »Wir werden, solang es notwendig sein wird, die Schädel unserer Gegner in mehr oder minder delikater Weise mit Prügeln traktieren, bis die Wahrheit sich in ihren Gehirnen einen Weg gebahnt haben wird.« Aber nur sechs Tage zuvor hatte er noch zur Vorsicht gemahnt: »Es geht für die Faschisten darum, dass sie nun nicht selber den Sinn für das Maß verlieren. Ein solcher Verlust könnte einen großen Sieg zunichte machen oder sabotieren. Wenn man einmal gesiegt hat, ist es gefährlich, das Ausmaß des Sieges noch übersteigern zu wollen.«

Diese verschiedenen Herangehensweisen spiegelten aber auch den Charakter seiner Basis wider, die er nicht immer unter Kontrolle hatte. Es kam zwischenzeitlich sogar zu einem offenen Bruch in der Partei, aus dem Mussolini beinahe als Verlierer hervorgegangen wäre. Seine Basis in Bologna hatte gar offen revoltiert und im Vorfeld einer regionalen Versammlung der Fasci die ganze Stadt mit Plakaten gegen den »Verräter Mussolini« tapeziert. Mussolini sah sich gezwungen, seine Funktion im Exekutivkomitee der Fasci abzulegen und die Faschisten genossen ihre neu gewonnene Freiheit für weitere blutige Brandschatzungen.

Schließlich konnte Mussolini das Ruder wieder an sich reißen, indem er einen »Kompromiss« schloss, der beiden Seiten ihr Gesicht wahrte. Seine selbst formulierten Gedanken hierzu verdienen es, zitiert zu werden:

Soll der Faschismus Partei werden? Nach langen Überlegungen und eingehender Prüfung der politischen Lage bin ich zum Schluss gelangt, die Frage mit Ja zu beantworten … Entstehung und Verlauf der faschistischen Krise haben uns ein Dilemma aufgezwungen: Entweder macht man eine Partei oder ein Heer … Nach meinem Dafürhalten muss das Problem folgendermaßen gelöst werden: Es muss eine derart festgefügte und disziplinierte Partei geschaffen werden, dass sie sich, falls sich dies als notwendig erweisen sollte, sofort in ein Heer verwandeln kann, das auf der Ebene der Gewalt agieren könnte – sei es um anzugreifen, sei es um Angriffe abzuwehren. Man wird der Partei eine Seele, das heißt ein Programm geben müssen.

Die Psychologie eines Faschisten

Diese Spannungen innerhalb der faschistischen Reihen werden sehr plastisch in Vasco Pratolinis Roman »Chronik armer Liebesleute« geschildert. Darin beschreibt der Autor auch die Psychologie eines typischen kleinbürgerlichen Faschisten, hier eines gewissen Osvaldos, der den Antifaschisten Maciste ermordet und somit seine ersten Sporen als echter Faschist verdient hatte:

Und fortan fühlte er sich, mit vollem Recht, als einer von ihnen. … Gegen die Gewissensbisse haben die Menschen als Gegengift das Ideal entdeckt. … Und nachdem er sich eingestehen musste, dass er alles in seinem Leben vermasselt hat, bleibt einem Menschen nur zwei Wege offen: entweder Selbstmord begehen, oder die Haut zu wechseln. … Sich mit dieser Gewissheit auseinandersetzend, mit der Verzweiflung des Schiffbrüchigen, wird er das Ufer der Überzeugung erreichen, er wird authentisch ein anderer Mensch. Er wird sich nicht mehr daran erinnern, was er einmal war. Nicht, weil er sich nicht erinnern will, sondern weil er sich nicht wird erinnern können.

Tasca fasst es mit den Worten zusammen: »Ich brauche nicht zu denken, also bin ich.«

Der Marsch auf Rom

An Mussolini, wenn er heute überhaupt noch bekannt ist, wird sich oft nur im Zusammenhang mit seinem »Marsch auf Rom« im Herbst 1922 erinnert. Mussolini selbst und seine faschistische Bewegung – auch seine Nachfolger heute – stilisieren diesen Marsch zu einem großen, heldenhaften Siegeszug.

Tasca weist detailliert nach, dass es sich in Wirklichkeit, in militärischen Kategorien betrachtet, um ein dilettantisch geführtes Unternehmen handelte, das um Haaresbreite in einem Debakel geendet hätte. Seine um Rom herum postierten 40 oder 50 tausend Fasci hätten es mit der regulären Armee niemals aufnehmen können, vielmehr versanken sie, vom anhaltenden Sturzregen bis auf die Knochen durchnässt, halb verhungert und verdurstet, im Schlamm.

Mussolini selbst »marschierte« nicht nach Rom, sondern fuhr am Abend des 29. Oktober 1922 mit dem Nachtzug von Mailand nach Rom. Aber auch erst, nachdem ihm der König zuvor schriftlich zugesagt hatte, ihn und ihn allein mit der Regierungsbildung zu beauftragen.

In den Wochen zuvor hatte Mussolini eine rege diplomatische Aktivität entfaltet. Er verhandelte, bedrängte und bedrohte Politiker verschiedener Parteien, gewann das Plazet des Vatikans, der verkünden ließ, er sei »dankbar dafür, das politische Angebot der Faschisten an die Kirche kennenzulernen« – auch eine der vielen Wendungen Mussolinis, der in den Anfangsmonaten seiner Bewegung eine streng »republikanische« und anti-klerikale Linie gefahren war –, zog führende Militärs auf seine Seite, mobilisierte gleichzeitig seine Fasci zu verschiedenen Besetzungsaktionen von Präfekturen, die, auch wenn sie nur an manchen Orten erfolgreich waren, so doch eine allgemeine Atmosphäre des Chaos verbreiteten und unter seinen sowieso unentschlossenen politischen »Gegnern« das Gefühl aufkommen ließen, dass es keine stabile Alternative zu Mussolini gebe.

Als er schließlich, in voller squadristischer Montur, dem König in seinem Palast seine Aufwartung machte, sagte er ihm, er käme gerade von der tobenden Schlacht, die glücklicherweise ohne Opfer verlaufen sei, und nahm den Regierungsauftrag an.

Der König hielt Mussolini 21 Jahre lang die Treue bis zu dessen Sturz 1943, bevor er dann den neuen Ministerpräsidenten und alten Faschisten Badoglio mit Waffenstillstandsverhandlungen mit den Alliierten beauftragte. Die Alliierten hatten ihrerseits kein Problem damit, den König und Badoglio als rechtmäßige Vertreter Italiens anzuerkennen.

Der Charakter des Faschismus

Wenn wir in Form einer Auflistung die Charakteristika des Faschismus zusammenfassen wollten, könnten wir etwa 10 Punkte festhalten: enorme Flexibilität, grenzenlose Bereitschaft zur Anwendung rücksichtsloser Gewalt, Mobilisierung des wutentbrannten Kleinbürgertums, unabhängige Organisierung in streng hierarchischen, nach dem Führerprinzip organisierten Parteien, Zerschlagung der Arbeiterbewegung als zentrales Ziel, Unterordnung unter den Kapitalismus, imperialistische Zielsetzung, Einordnung und Unterordnung des Individuums in eine gesichtslose Masse (oder, wie es Hitler 1923 in Mein Kampf ausdrückte: faschistische Massendemonstrationen brennen in das Gehirn des kleinen Mannes die stolze Überzeugung ein, dass, obwohl nur ein kleiner Wurm, er doch Teil es großen Drachen ist), und vor allem wichtig für uns: Aufhaltbar, wenn er nur rechtzeitig und durch eine breite Gegenfront gestoppt und zerschlagen wird.

Aber eine Auflistung allein ist unbefriedigend. Wir sollten auf Trotzkis Analyse Anfang der 1930er als Richtschnur zurückgreifen, als er vor der drohenden Gefahr einer Machtergreifung durch Hitler warnte und für eine antifaschistische Einheit der großen deutschen Arbeiterparteien, KPD und SPD, gegen die Nazis plädierte. Er zerriss die damals herrschende KPD-Politik, die im Faschismus lediglich eine weitere bürgerliche Herrschaftsform sah und die Sozialdemokratie als »Sozialfaschisten« beschimpfte. So schrieb Trotzki 1932 in seiner Schrift »Was Nun? Schicksalsfragen des deutschen Proletariats«:

Die Sozialdemokratie, die heutige Hauptvertreterin des parlamentarisch-bürgerlichen Regimes, stützt sich auf die Arbeiter. Der Faschismus auf das Kleinbürgertum. Die Sozialdemokratie kann ohne Arbeiter-Massenorganisationen keinen Einfluss ausüben. Der Faschismus seine Macht nicht anders befestigen als durch Zerschlagung der Arbeiterorganisationen. Hauptarena der Sozialdemokratie ist das Parlament. Das System des Faschismus fußt auf der Vernichtung des Parlamentarismus. Für die monopolistische Bourgeoisie stellen parlamentarisches und faschistisches System bloß verschiedene Werkzeuge ihrer Herrschaft dar: sie nimmt zu diesem oder jenem Zuflucht in Abhängigkeit von den historischen Bedingungen. Doch für die Sozialdemokratie wie für den Faschismus ist die Wahl des einen oder des andern Werkzeugs von selbständiger Bedeutung, mehr noch, die Frage ihres politischen Lebens oder Todes.

Dass eine solche Einheit zwischen beiden Arbeiterparteien möglich gewesen wäre, beweist die Entwicklung in Frankreich im Februar 1934, als die zunächst getrennt aufmarschierenden antifaschistischen Demonstrationen der Sozialisten und der Kommunisten sich zu einem einzigen, siegreichen Strom zusammenschlossen.

Zurück zu heute

Um die Eingangsfrage zu beantworten: Verhältnisse wie nach dem Ersten Weltkrieg mit ihren enormen Spaltungen, Massenmobilisierungen und offensiver Organisierung aller Gesellschaftsschichten herrschen heute nicht in Italien. Es ist dennoch mehr als erschreckend, dass es der italienischen Arbeiterbewegung nicht gelingt, gegen die Faschisten massenhaft vorzugehen. Somit hat sie ihnen das Kampffeld schon im Voraus überlassen.

David Paenson – mit besonderem Dank an Horst Haenisch, Autor von »Kann der Marxismus den Holocaust erklären? Kapitalismus, Staat, Völkermord« für wertvolle Anregungen sowie an Angelo Kumnenis für sein sorgfältiges Korrekturlesen.