„Wir erleben einen Aufstand gegen 30 Jahre Neoliberalismus in Chile“
Was zurzeit in Chile geschieht, kann man getrost eine Revolte nennen. Mehr als eine Million Menschen gingen am Freitag (25. Oktober 2019) in der Hauptstadt Santiago auf die Straße. Auch die Repressionsversuche von Polizei und Armee konnten den Massenandrang nicht stoppen.
Große Teile der werktätigen Klasse beteiligten sich an den Protesten: Busfahrer, Lehrer, Bergarbeiter, Hafenarbeiter und viele mehr. Die Fernfahrer_innen etwa blockierten die Autobahnen. Aus Valparaíso, Chiles wichtigstem Hafen, wird berichtet, dass sich Teile der Stadt bereits unter Kontrolle der sozialen Bewegung befinden. Der Staatsapparat musste sich zurückziehen.
Auf einem Treffen von sechs Gewerkschaften riefen die Vertreter_innen aus den Kupferminen dazu auf, dass sich all ihre Mitglieder der Straßenbewegung anschließen sollen. Es gibt bereits ernstzunehmende Rufe nach einem unbefristeten Generalstreik.
Das „Wunder Lateinamerikas“
Die große Mehrheit ist aufgestanden. Als die Massenproteste anfingen, schicktePräsident Sebastián Piñera das Militär und Panzer auf die Straße, um die Privilegien der herrschenden Klasse zu verteidigen. Aber die Menschen haben genug. Es geht ihnen um weit mehr, als die von der Regierung beschlossene Erhöhung der Ticketpreise im Nahverkehr. Sie rufen: „Es geht nicht uns um 30 Pesos, es geht um die letzten 30 Jahre.“
Chile wurde nach dem Militärputsch unter General Augusto Pinochet im Jahr 1973 zum ersten großen Versuchsfeld des Neoliberalismus. Die Diktatur zerschlug die Organisationen der Arbeiter_innenklasse. Noch Jahrzehnte später leiden die Werktätigen und die Unterdrückten darunter.
Pensionisten bekommen etwa 55 Euro im Monat. Einige müssen sich ihre Mahlzeiten aus der Mülltonne holen. Die Preise für Artikel des täglichen Bedarfs steigen in astronomische Höhen, dementsprechend dreht sich die Schuldenspirale nach oben.
Chile wurde einst als das „Wunder Lateinamerikas“ bezeichnet. Der opulente Lebensstil der Eliten basierte jedoch auf der Ausbeutung der arbeitenden Klasse. Lange hat man so getan, als wäre alles in Butter. Jetzt sehen wir, was unterhalb der Oberfläche wirklich vor sich ging.
Ablehnung des Establishments
Keine der traditionellen und etablierten Kräfte führen die Bewegung an. Und das darf auch nicht verwundern. Unter der sozialistischen Präsidentin Michelle Bachelet wurden von 2006 bis 2010 und 2014 bis 2018 im Kern dieselbe neoliberale Politik betrieben. Die meisten Menschen hassen all diese Kräfte. Sie suchen nach einer Alternative. Besonders die Jugend hat aus den jahrelangen Streiks, Protesten und Auseinandersetzungen mit der Polizei, im Kampf für eine freie Bildung, gelernt.
Wir brauchen eine neue Partei, eine revolutionäre Organisation. Die arbeitende Klasse erinnert sich an ihre eigene Stärke in neuer Frische. 1972 gab es heftige Kämpfe und die Bildung der sogenannten „Cordones industriales“ – des „Industriegürtels“. Diese demokratischen Organe der organisierten Arbeiterschafft setzten die Bosse vor die Tür und begannen, Fabriken und andere Arbeitsstätten kollektiv zu betreiben.
Revolutionäre Perspektive
Es sind spannende, aber auch gefährliche Zeiten. Das Ganze ist von weltweiter Bedeutung. Gegenwärtig kommt es zu Revolten in vielen Ländern und die Eliten zittern. Veränderung ist möglich. Vor zwei Monaten kam es zu großen Streiks von Lehrer_innen und Supermarktangestellten. Aber das führte noch nur der aktuellen Explosion. Der Kampf der jungen Leute gegen die Ticketpreise brachte dann das Fass zum Überlaufen.
Es gibt viel Hoffnung, allerdings brauchen wir revolutionäre Organisationen, um das Potential bestmöglich zu nutzen, und dürfen den etablierten linken Kräften nicht trauen. Wir müssen von der Herausforderung einzelner Führer voranschreiten hin zur Herausforderung des kapitalistischen Systems selbst.
Der Beitrag ist ein Auszug aus dem Referat von Mario Nain auf der Konferenz des International Socialism Journal („Cuba, the Pink Tide and revolution in Latin America“) in London und ist zuerst auf socialistworker.co.uk erschienen.