Edward Said: Orientalismus
Tempelberg: Die Geduld Israels ist bewundernswert.“ lautet die Schlagzeile, die von palästinensischen Jugendlichen spricht wie von lästigen Kindern. Sie demonstrierten und starben wegen der gezielten Provokation der israelischen Streitkräfte am Tempelberg. In dem Artikel werden sie als kaltblütige Terroristen dargestellt, ihre Wut als von Europäern zu belächelnde Unvernunft- und das im selben Atemzug. Der Widerspruch macht deutlich, was Said als Orientalismus fasst: ein Blick auf die zum „Orient“ vereinheitlichten Länder und Kulturen, der sich durch rassistische Hochmütigkeit gegenüber den Eroberten auszeichnet. Der „Orientale“ wird dabei in vorgefertigte Kategorien des Anders-sein gepresst: Wenn Europäer normal sind, ist er abartig, sind sie „vernünftig“ ist er zugleich „leichtgläubig, dumm, gefährlich, sündig und wirr“.
Das Spektakel der Anderen
Die europäische Kultur gewann, so Said: „an Stärke und Identität, indem sie sich vom Orient abgrenzte.“ Die Selbstkrönung des Westens zum technisch- und humanistischen Pionier des Fortschritts, geht also Hand in Hand mit dem Zurückdrängen des Orients ins Traditionelle. So wird etwa die Tatsache, dass die Hamas entscheidenden Rückhalt in der Bevölkerung genießt, als Rückständigkeit und religiöser Fanatismus abgetan, obwohl es dafür handfeste politische Gründe gibt, allen voran das Scheitern der „Friedenspolitik“ der PLO bzw. der Fatah.
Die Geschichte vom sich nie entwickelnden Orient fasst auch im medialen Umgang mit Sexismus Fuß: die Darstellungen von Migranten als „kulturbedingt Frauenfeindlich“ soll rassistischer Hetze die Stange halten. Das zeigt sich aktuell im Fall Leonie. 14 Femizide ließ die Regierung allein in diesem Jahr zu, ohne Maßnahmen zu setzen, die Gewalt an Frauen künftig verhindern. Nun reicht ein mutmaßlicher afghanischer Täter aus, um den Mord an einem 13-jährigen Mädchen für die Rechtfertigung unmenschlicher Abschiebegesetze zu missbrauchen.Machtansprüche des Westens legitimieren sich besonders über ein von Mythen durchzogenes Wissen über den Orient. Im Widerspruch zum Osten als eine Art abstrakte Totalität des Anders-Sein, zeigt sich dieses in einer schier endlosen Verästelung von Detailstudien, welche in akademischer Arroganz den Anspruch auf Vollständigkeit und Verwaltung erheben. Für Europäer ein Grund den Ländern des Orients ihre Autonomie abzusprechen. Die Selbstverständlichkeit mit der über die zu Unmündig-erklärten gesprochen wird, zeigt sich in Debatten zum Nahostkonflikt von der grausigsten Seite. „Hass auf beiden Seiten“ ist das Schlagwort, unter dem die Unlösbarkeit der Auseinandersetzungen heraufbeschworen wird. Solidarische Stimmen, von Seiten der Israelis, die gegen Faschismus und staatliche Gewalt Position beziehen kommen selten zu Wort.
Angriff auf Imperialismus und Akademien
Said zeigt auf wie die akademische Disziplin der Orientalistik wie am Fließband Rechtfertigungen fabriziert: Für entmenschlichende Repräsentation, für Herrschaft und Kolonialismus. Eine fast schon ans Polemische grenzende Sichtweise, die notwendig ist, um die systematischen Entwürdigungen als „orientalisch“ gebrandmarkter Menschen sichtbar zu machen, dabei aber die historischen Ursachen für Unterdrückung eher ausklammert. Allein in Saids immer wiederkehrenden Kritik der westlichen Idee von Fortschritt klingt die Verschränkung der kapitalistischen Produktionslogik mit imperialen Strukturen an, die er jedoch nie weiter ausführt. Eine weitere große Leerstelle ist, dass, obwohl Said selbst aus Palästina stammt Widerstand gegen die ungerechtfertigten Fremdzuschreibungen des Westens nur am Rande Bemerkung findet. Ungeachtet dessen liefert er mit seinem Werk ein wertvolles theoretisches Werkzeug zur Entlarvung von medialem Rassismus, in das es sich, gerade jetzt, lohnt einen Blick zu werfen.
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