Proteste in Polen reißen nicht ab – der Kampf um Abtreibungsrechte gewinnt an Unterstützung
Die Proteste begannen am 22. Oktober, nachdem der Verfassungsgerichtshof (TK) Abtreibungen bei stark deformierten Föten verboten hatte. Der TK wurde mit regierungsfreundlichen Politikern besetzt, um sicherzustellen, dass die Wünsche von Jaroslaw Kaczynski umgesetzt werden. Er ist der Anführer der ultrakonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) und der mächtigste Politiker Polens.
Empörung und Abscheu haben die ersten Proteste ausgelöst. Die Demonstrationen vom Samstag waren eine Fortsetzung, wurden aber durch die Wut über das brutale Vorgehen der Polizei am 18. November weiter angeheizt. An diesem Tag griffen Schläger in Zivil die Menge an, als der Marsch sich dem Ende näherte. Zuerst hielten die Leute sie für Faschisten, die in der Vergangenheit Frauenmärsche angegriffen hatten. Aber es waren Polizisten. Sie setzten Tränengas ein, zogen Teleskopschlagstöcke hervor und fingen an, auf die Demonstrant_innen einzuprügeln. Es stellte sich heraus, dass Agenten des Büros für antiterroristische Operationen unter ihnen waren.
Sogar eine linke Abgeordnete wurde mit Tränengas angegriffen, und der stellvertretende Parlamentspräsident, ein linker Abgeordneter, wurde vor dem Parlament von der Polizei zusammengeschlagen. Am Samstag wurde erneut eine weitere Abgeordnete mit Tränengas attackiert. PiS-Anführer Kaczynski wird von zwei Seiten herausgefordert, von seinem eigenen Lager heraus und von der extremen Rechten. Er will seine eigene Härte demonstrieren und übt deshalb Druck auf die Polizei aus, sich gegenüber den Demonstrant_innen viel härter zu verhalten.
Brutalität
Wie so oft bei Massenprotesten kann eine sanfte Reaktion der Regierung mehr Menschen ermutigen, auf die Straße zu gehen. Aber wenn sie sich für Brutalität entscheidet, kann dies genauso Empörung hervorrufen — und mehr Menschen kommen auf die Straße. Das ist am Samstag geschehen. Mit der Demonstration wurde der 102. Jahrestag des Sieges um das Frauenwahlrecht in Polen begangen.
In der Hauptstadt Warschau wurde der Kreisverkehr im Stadtzentrum, der nach Roman Dmowski benannt ist, dem bekanntesten antisemitischen Politiker Polens des 20. Jahrhunderts, in den Kreisverkehr für Frauenrechte umbenannt. Neue Schilder überdeckten die alten. Mehrere Hauptstraßen wurden blockiert, als die Polizei versuchte, die tausenden Demonstrierenden zu stoppen. Die Demonstration dauerte vier Stunden. Seit über fünf Wochen haben die Frauenproteste das Gesicht Polens verändert. Eine in der zweiten Novemberwoche durchgeführte Umfrage ergab, dass 70 Prozent der Bevölkerung die Demonstrationen unterstützen. Davon haben sich 13 Prozent der Leute an den Frauenprotesten beteiligt. Das bedeutet, dass Millionen an mindestens einem Protest teilgenommen haben.
Unterstützung
Weitere 57 Prozent unterstützen die Demonstrationen, haben sich ihnen aber nicht angeschlossen. Unter den 18 bis 24-Jährigen geben erstaunliche 29 Prozent an, an den Protesten teilgenommen zu haben. Viele Protestierende sind jünger als 18 Jahre. Die Märsche haben weitere bedeutende Erfolge erzielt. Sie haben der Rechten — sowohl den katholischen Nationalisten der PiS als auch den Faschisten — einen Schlag versetzt. Während hunderttausende Menschen demonstrierten, war der von den Faschisten organisierte Marsch zum Unabhängigkeitstag am 11. November der kleinste seit zehn Jahren.
In den Meinungsumfragen liegt die PiS nur mehr knapp in Führung. Die stärkste Oppositionspartei, die neoliberale Bürgerplattform (Platforma Obywatelska), die die Vorgängerregierung bildete, ist kaum vorangekommen, ebenso wenig die sozialdemokratische Linkskoalition. Stattdessen ist der Hauptnutznießer bei den parteipolitischen Umfragen Polen 2050, angeführt von einem prominenten liberalen katholischen Fernsehmoderator, der die Frauendemonstrationen unterstützt. Er gilt als Außenseiter, der Veränderungen herbeiführen kann, weil er noch nicht im Parlament sitzt. Polen 2050 hat in einer kürzlich durchgeführten Umfrage 20 Prozent erreicht.
Aber die wichtigste politische Veränderung ist der Glaube an die Notwendigkeit von Massenprotesten. Die Bewegung hat eine neue Generation furchtloser, junger, hauptsächlich weiblicher Protestierender hervorgebracht. Oder besser gesagt, sie haben sich selbst geschaffen. Sie blockieren Hauptstraßen und ignorieren polizeiliche Drohungen. Und sie kommen immer wieder zurück.
Arbeiterklasse für Frauenrechte
Die Proteste haben die reaktionäre katholische Kirchenhierarchie weiter geschwächt. Schon vor dem Ausbruch des Coronavirus wurden die Kirchenbesuche weniger. Jetzt ist die Kritik an der Kirche lauter als je zuvor. Außerdem hat der Premierminister das Abtreibungsverbot des Verfassungsgerichtshofs noch nicht verabschiedet, obwohl die Frist dafür am 2. November abgelaufen war. Es ist also rechtlich noch nicht in Kraft. Das zeigt die Angst der Regierung vor den Demonstrant_innen.
Die Entscheidung des Tribunals hatte zunächst zur Folge, dass sich noch mehr Krankenhäuser von jeglichen Abtreibungsdiensten und sogar von einigen vorgeburtlichen Untersuchungen zurückzogen. Aber die durch die Massendemonstrationen entstandene Verzögerung bei der Veröffentlichung des Urteils hat einige Krankenhäuser zu der Erklärung ermutigt, dass sie bereit sind, Abtreibungen vorzunehmen, wenn schwerwiegende fötale Fehlbildungen festgestellt werden. Einige Krankenhäuser haben eine Zwischenposition eingenommen. Sie bieten die immer noch formell legale Abtreibungen an, ohne diese Tatsache zu veröffentlichen.
Trotz der Tatsache, dass tausende der an den Protesten beteiligten Personen Gewerkschaftsmitglieder sein müssen, waren die besten Reaktionen der größten Gewerkschaften nur verbale Unterstützung. Aber wenn sie die Chance haben, werden die Arbeiter_innen noch weiter gehen.
Rafal, ein Straßenbahnfahrer auf der Demonstration am Samstag in Warschau, sagte: „Die meisten von uns bringen Botschaften auf dem elektronischen Bildschirm an der Vorderseite unserer Straßenbahnen an. Sie sagen Dinge wie ‚Frauen, wir sind bei euch‘.“ Auch Beschäftigte im Gesundheitsbereich teilen Bilder von sich selbst in sozialen Medien. Mit Covid-Masken und Uniformen bekleidet, tragen sie das Blitzsymbol der Demonstrierenden.
Die Proteste und die Reaktion der Polizei haben dazu geführt, dass viel mehr Menschen die Rolle der Polizei in der Gesellschaft in Frage stellen und erkennen, wie stark wir sein können, wenn wir gemeinsam kämpfen. Einer der wichtigsten Slogans ist „Solidarität ist unsere Waffe“. Der Horizont der Menschen erweitert sich. Das sind großartige Zeiten, um für die Notwendigkeit einer revolutionären Politik zu argumentieren.