Anne Weber: Annette, ein Heldinnenepos
Traditionell denkt man beim Heldenepos an bärtige, vor Männlichkeit strotzende Recken, die in längst vergangenen Kriegen allerlei tapfere Taten vollbrachten. Frauen müssen sich meist mit der Rolle der schönen Maid begnügen. Anders bei Anne Weber: sie schuf mit Annette, ein Heldinnenepos eine moderne Variante. Die Autorin, die ihre Texte zuerst auf Französisch schreibt und dann selbst ins Deutsche übersetzt (oder umgekehrt), bekam dafür den Deutschen Buchpreis 2020. Die Kraft von Anne Webers Erzählung kann sich mit der Kraft ihrer Heldin messen: Es ist atemberaubend, wie frisch hier die alte Form des Epos klingt“, so die Begründung der Jury.
Ein Leben für den Widerstand
Anne Beaumanoir, genannt Annette, wird 1923 in der Bretagne geboren und wächst unter einfachsten Verhältnissen auf. Als 17-Jährige knüpft sie erste Kontakte mit der kommunistischen Résistance, der sie sich bald anschließt und bald darauf wieder in Ungnade fällt, weil sie eigenmächtig zwei jüdische Jugendliche vor den Nazis rettet und bei ihren Eltern versteckt. Sie führt im Umfeld der gaullistischen Résistance Aufträge aus. Nach der Vertreibung der Deutschen nimmt Annette den Kampf gegen die französischen Besatzer in Indochina auf, gegen jene, mit denen sie zuvor Seite an Seite gegen die Nazis kämpfte („Die Herren Generale schienen die / Besetzung fremder Länder legitim zu finden, solang sie / selber sie Besatzer sind“). Sie heiratet (ein zweites Mal, die erste Ehe hält nicht lange) und führt eine Zeit lang ein recht bürgerliches Leben in Marseille, bekommt Kinder und wird zur angesehenen Neurophysiologin.
Ab 1954 findet sie in der algerischen Unabhängigkeitsbewegung einen neuen Ansporn und eine neue Abmahnung durch die KP – weil die die Freiheitsbestrebungen Algeriens nicht unterstützt, sondern im Gegenteil die französische Militärregierung, tritt sie aus der Partei aus. Sie schließt sich der FLN, der Nationalen Befreiungsfront Algeriens, an, wird verhaftet und zu 10 Jahren verurteilt. Sie flieht nach Tunis, wo sie im Krankenhaus die Stelle Frantz Fanons übernimmt und wird nach jahrelangen Kämpfen und Umwegen Mitglied der Regierung des unabhängigen Algeriens. Nach dem Militärputsch muss sie wieder fliehen. In Frankreich wird sie weiter als Terroristin gesucht, lebt daher lange im Exil in Genf.
Das Kreisen um die großen Fragen
So die groben Eckdaten und so weit auch genügend Stoff für ein Heldinnenepos. Die wahre Kraft dieses Textes liegt aber gerade darin, dass es weit mehr als eine biografische Nacherzählung ist oder gar ein plumper Lobgesang, wie die Gattung vielleicht vermuten ließe. Vielmehr lässt Weber ihre Annette auf dem weißen Papier erneut zur Welt kommen, wie sie auf der ersten Seite ankündigt. Eine zweite Annette, die wir aus der zeitlichen Distanz kennenlernen und die so in einen größeren geschichtlichen Kontext eingebunden ist. „Ich bleibe bei meinen Fragen, wie zum Beispiel: Darf man Menschen töten für ein bestimmtes Ziel?“, so Weber. An diese und andere Fragen tastet sich die Autorin heran mit dem Bewusstsein, dass sie die Feder aufs Papier setzt, dass sie, im Spiel mit der Materialität des Geschriebenen, um die reale Annette herum eine fiktive entstehen lässt.
Auf diese Weise öffnet sich Weber einen Raum zur Reflektion: Wann ist Gewalt gerechtfertigt? Was ist Recht und was Gerechtigkeit? Sie stellt sich vor, welche Bücher die französische Polizei wohl bei der Hausdurchsuchung aus Annettes Bücherregal zieht und welche eine Antwort bieten wollen: Camus, Fanon, Kropotkin, Sartre oder doch Rousseau? Dazu erlaubt sich die Autorin immer wieder Exkurse, etwa zur Rolle Frankreichs als Kolonialregime: „Es gab sie also doch, diese ultrarechte / Gruppe wahnwitziger Kolonialisten, die Andersdenkende / ermordete. Ihr Deckname war Rote Hand, ihr / eigentlicher Name: Frankreich.“
In all den politischen Wirren findet sie auch Platz für die persönlichen, menschlichen Gefühle ihrer Heldin: Das Hadern mit der Entscheidung, die eigenen Kinder für den Kampf Algeriens zurückzulassen. Den Verlust von Roland, ihrer großen Liebe, den die Landsleute erst als Partisan erschossen und dann zum Hauptmann ernannten, der fürs Vaterland gestorben sei, „wobei es zu vergessen scheint, dass bis / dahin ein gelber Stern der einzige Orden war, den er / von seinem Vaterland bekam.“ Auch mit schmunzelnden Kommentaren spart Weber nicht: Annette bekommt von den Gaullisten Geld für ihre Arbeit in der Résistance, mehr als bei den Kommunisten. Die Differenz gibt sie an die KP weiter, und so finanzierte de Gaulle die verhassten Kommunisten ein bisschen mit. Weber ist ein vielfältiges, wirklich großartiges Werk gelungen, das den Namen Epos zu Recht trägt.