Uwe Timm: Ikarien

Kiepenheuer & Witsch, 512 Seiten. 24,00 Euro
4. Januar 2018 |

1945, die sogenannte „Stunde Null“: Michael Hansen, ein US-Offizier mit deutschen Wurzeln, kommt ins zerstörte Deutschland, ins Land seiner Kindheit – das er aber als solches nicht wiedererkennt. Er soll sich dem Leben des 1940 verstorbenen Alfred Ploetz widmen, einem bekannten Rassentheoretiker und Eugeniker. Zu diesem Zweck befragt er dessen ehemaligen Freund, den 81-jährigen Karl Wagner. Die beiden verbindet eine lange Geschichte, beginnend mit dem Traum einer gerechteren Welt. Zwei junge Männer, Marx lesend, vom „Sozialistengesetz“ Bismarcks verfolgt, sich nach der Gleichheit aller Menschen sehnend, brechen auf in die Neue Welt. Dort besuchen sie die Kommune „Ikarien“, eine nach Étienne Cabets utopischer Romanvorlage errichtete Idealgemeinschaft.

Trotz des gemeinsamen Ausgangspunkts entwickeln sich die Freunde im Laufe ihres Lebens in gegensätzliche Richtungen. Wagner verkehrt weiter in sozialistischen Kreisen, wird Anarchist und Pazifist, seine Haltung bringt ihn schließlich ins KZ. Er kommt frei, muss sich aber bis Ende des Krieges im Keller eines Antiquariats – gemeinsam mit „entarteter“ Literatur – versteckt halten. Ploetz hingegen blüht auf in der Welt seiner Forschung, die zum Ziel hat, durch Selektion den Menschen zu einer höheren Rasse zu formen. Alles Schwache ist hierzu auszumerzen. Mitleid ist Schwäche.

 

Kaum erträglich lesen sich manche Passagen über die alltäglich gewordene, automatisierte Vernichtung menschlichen Lebens, getarnt als Euthanasie: „Bei der zehntausendsten Tötung im Jahr 1940 gab es Freibier.“

Ploetz ist ein Beispiel dafür, wie diese Tötungsmaschinerie entstehen und so lange Zeit wüten konnte. Er ist ein großes Rad darin, ein Antrieb, der genauso wie viele kleine Rädchen von seinem Tun bedingungslos überzeugt war. Überzeugt davon, überlegen zu sein und dadurch das Recht zu haben, in seinen Augen „minderwertiges“ Leben für die Forschung zu missbrauchen oder als „Ballastexistenz“ loszuwerden.

Alfred Ploetz ist keine fiktive Person. Auch wenn dieser nicht selbst aktiv an den Tötungen beteiligt war, so gilt er doch als Begründer der Eugenik und „Rassenhygiene“ in Deutschland und lieferte somit die wissenschaftliche Grundlage für das Morden. Nach der Machtergreifung der Nazis bedankte er sich in „herzlicher Verehrung“ persönlich bei Adolf Hitler, weil dieser „die deutsche Rassenhygiene aus dem Gestrüpp ihres bisherigen Weges durch seine Willenskraft in das weite Feld freier Betätigung führt“.

Immer wieder lässt Timm Originalzitate einfließen, führt die verstaatlichte und deshalb umso bedrohlichere Grausamkeit ungeschönt vor Augen. Beängstigend die durch anfängliche Verharmlosung ermöglichte Verbreitung dieses Gedankenguts. Warnend die erschreckende Aktualität eines Themas, das eigentlich der Geschichte angehören sollte.

Uwe Timm bietet mit seinem neuen Roman einen verstörenden Einblick in den Rassenwahn der nationalsozialistischen Ideologie. Er versucht dabei, die typische Einteilung in Täter und Opfer zu durchbrechen. Er gibt sich weder zufrieden mit der Verdammung „aller Deutschen“ als Bestien, noch mit der schwachen Entschuldigung des Mitläufers, der nichts gewusst haben will. Er schaut hinter die Mythen der „Stunde Null“, der Entnazifizierung, des Neubeginns. Und immer wieder der Versuch zu verstehen. Das Land der Dichter und Denker, verzerrt durch wahnhaften Gehorsam und Pflichtbewusstsein. „Der Versuch, das zu verstehen, was letztendlich nicht zu verstehen war.“