Christian Baron: Ein Mann seiner Klasse

Christian Baron musste als Kind erfahren, was es heißt, zu hungern. Mitten in Deutschland. In seinem Debütroman Ein Mann seiner Klasse erzählt er seine Familiengeschichte, zeigt, dass auch in reichen Ländern nicht alle gleich reich sind und bringt damit die Klassenfrage zurück in die deutschsprachige Literatur.
14. Oktober 2020 |

Aus denen wird nie was.“ Ein Satz, der Barons Kindheit begleitete. Einmal im Jugendamt aufgeschnappt, ein andermal beim Fußball. Heute ist Baron Journalist, Autor und Redakteur bei Freitag. Er hat es also „geschafft“, ist was geworden – eine Ausnahme, wie er selbst sagt. Mit Ein Mann seiner Klasse – gleichzeitig autobiografischer Roman und Sozialstudie – lässt Baron die Leser_innen seine Kindheit miterleben. Ein ebenso berührendes wie erschreckendes Stück Geschichte von ganz unten. Der Vater, ungelernter Möbelpacker, stand jeden Tag um sechs Uhr morgens bereit. Das Geld reichte trotzdem nie, oft wurde der Strom Mitte des Monats abgestellt – für das Kind unverständlich: „Warum sollte sein Chef ihm nicht genug Geld geben, um seine Familie zu ernähren, das ergab doch überhaupt gar keinen Sinn, welcher Chef würde denn so was tun!“ Baron erzählt vom Stolz des Vaters, der nie zum „Betteln“ zum Amt gegangen wäre, vom Stolz auch des Kindes auf den Vater, der ein echter „Malocher“ war.

Dennoch ist der Roman alles andere als eine Sozialromanze. Hass und Mitleid mischen sich beim Lesen, wenn die Kinder sich im Kissen vergraben, um den dumpfen Aufprall vom Kopf der Mutter an der Wand nicht zu hören. Wenn der Vater der Mutter in den Babybauch tritt. Wenn die Geschwister zitternd warten, bis der besoffene Vater die Tür eingetreten hat. Oder wenn der Junge vor Hunger Schimmel von der Wand kratzt, weil Pilze doch essbar sind. Tragisch auch die Geschichte der depressiven, mit 32 Jahren an Krebs verstorbenen Mutter. Sie wünschte sich vom Sohn zum Geburtstag, dass er ihre Lieblingsbücher lese. Einige ihrer Gedichte über Umweltzerstörung nahm Baron in den Roman auf, sie wollte einmal eine große Dichterin werden. Nach ihrem Tod nimmt ihre Schwester, Tante Juli, die Kinder bei sich auf. Den Vater sollten sie nur noch ein paar Mal sehen.

Ines Schwerdtner, selbst ein Kind dieser Klasse, beschreibt im Magazin Jacobin, wie schwer es ihr fiel, dieses Buch zu lesen. Scham und Schmerz kämen hoch, aber auch das Bewusstsein gemeinsamer, viel zu selten erzählter Erfahrungen. Und: „Er spricht zu den Leserinnen und Lesern, öffnet eine Welt für all jene, die Armut vielleicht selbst nicht erlebt haben, aber doch die Verhältnisse abschaffen wollen, in denen sie immer wieder aufs Neue weitervererbt wird.“

Und das ist der vielleicht wichtigste Aspekt des Romans: er porträtiert unsere Klassengesellschaft. Damit knüpft mit Baron endlich wieder ein deutschsprachiger Autor an die Tradition der Arbeiterliteratur an, die im 19. Jahrhundert mit Namen wie Émile Zola oder Heinrich Heine ihren Anfang nahm, mit dem Aufstieg der Arbeiter_innenbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt feierte und im Realsozialismus schließlich zum Arbeitshelden feiernden Kitsch verkam. Mit der schwachen Arbeiter_innenbewegung der letzten Jahre hat sich die Herausforderung für diese literarische Gattung geändert. Beginnend mit Didier Eribon, dann Édouard Louis (deren Lektüre auch Baron ermutigte) in Frankreich, nun Baron, stellen sich Schriftsteller dem „Wenn man will, kann man alles werden“-Märchen entgegen.
Das Amt, das den Jungen vom „Sozialhilfe-Adel“ nicht aufs Gymnasium lassen will. Polizisten, die den betrunkenen Vater verhöhnen, ihn treten, Zigaretten auf seinem Arm ausdrücken. Und dann wieder Elemente von Klassenkampf, etwa wenn am Arbeitsplatz des Vaters ein Spielzeug „vom Laster fiel.“

Baron schaffte es dank der Unterstützung seiner Tanten raus aus der Armut, aus der Verzweiflung, die sein Vater im Alkohol ertränkte. Und aus der Klasse, die einmal Hoffnungen in politische Veränderung setzte, heute aber „nicht mehr auf die Idee käme, die SPD oder die Grünen als Vertreter ihrer politischen Interessen zu begreifen.“
Baron erzählt nicht nur die Geschichte seiner Klasse, sondern eines Systems, das auf der Einteilung der Gesellschaft in Klassen beruht.
Eine absolute Leseempfehlung!

Armut in Österreich 2019:

-16,9 % armutsgefährdet
-davon 21 % Kinder und Jugendliche
-Armutsrisiko 1,4 mal höher für Personen aus bildungsfernen Familien

Quelle: Statistik Austria