Die Pandemie darf soziale Ungleichheit nicht verschärfen

Die Regierung hat im März als eine der ersten und drastischsten Maßnahmen Schulen und Kindergärten in einen Notbetrieb versetzt. Somit waren die Einrichtungen für die meisten Kinder de facto geschlossen, Betreuung und Bildung wieder verstärkt in die Familien verlagert. Es war vorhersehbar, dass die Abhängigkeit von Bildungserfolg und familiärem Hintergrund noch mehr zunimmt. Es wurden kaum Maßnahmen ergriffen, mit denen dieser Dynamik effektiv entgegengewirkt wurde. Gastkommentar von Bildungswissenschafter Christian Andersen
12. Oktober 2020 |

Die jetzige Öffnung von Schulen und Kindergärten ist ein positiver Schritt, weil Bildungsprozesse von Angesicht zu Angesicht weniger von der familiären Situation abhängig sind als bei Fernunterricht. Damit steigt aber auch die Zahl der Kontakte zwischen Menschen und mit dieser Steigerung der Kontakte steigt die Infektionsgefahr um ein Vielfaches.
Um das Infektionsgeschehen nicht ansteigen zu lassen, braucht es Maßnahmen, die das Infektionsrisiko minimieren und umsetzbar sind. Dazu bedarf es einer Kommunikation, die darauf ausgerichtet ist, Maßnahmen vor Ort umzusetzen.

Die in der Bundesregierung gepflegte Vorschriftsrhetorik ist zur Eindämmung des Virus nicht geeignet. In dieser werden Vorschriften erlassen und die Einhaltung soll durch Strafhöhe und moralischen Druck sichergestellt werden. Zu streng will das Coronaquartett und auch Bildungsminister Faßmann dann auch nicht auftreten. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit zeigen sie ihr Verständnis für die Unterschreitung des Mindestabstandes und machen das Tragen der Maske zur moralischen Pflicht jedes Einzelnen. Mit solchen Formulierungen stellt sich die Frage, wie ernst und wichtig die Maßnahmen sind. Wie wichtig ist ein Mindestabstand, wenn er eh nicht eingehalten werden kann? Wie wichtig ist uns eine Regelung, wenn selbst die Einhaltung des Mindestabstandes vor dem Eisgeschäft als schwer umsetzbar dargestellt wird? Wie wichtig ist die Maske, wenn sie zur Mindestabstandsunterschreitungsmaske wird?

Die Pandemie können wir nur kollektiv in den Griff bekommen. Dazu müssen wir uns an Orten der Zusammenkunft auf Maßnahmen einigen, die wir einhalten. Für den Bildungsbereich heißt das, dass wir unter gleichzeitiger Berücksichtigung sozialer Gesundheit und dem Pandemiegeschehen Maßnahmen entwickeln, mit denen wir arbeiten können. Aufgabe von Bund beziehungsweise Gemeinde ist es dann, die Umsetzung der Maßnahmen zu unterstützen.

Wir brauchen in allen Einrichtungen Zeit und Ressourcen, um Konzepte zu entwickeln, mit denen wir die Pandemie eindämmen und gleichzeitig gelingende Bildungsprozesse ermöglichen. Im März führte selbst im Freien die Nichteinhaltung von gesetzlich nicht vorgeschriebenen Mindestabständen zu empfindlichen Strafen für Privatpersonen. Aber für den Schulbetrieb sind nach wie vor keine Mindestabstände vorgesehen. Während manche Schulen viel Platz pro Person bieten, ist Abstandhalten in anderen Schulen kaum möglich. Während die Wichtigkeit von Bildung und das Einhalten von Mindestabständen von Seiten der Politik häufig hervorgehoben wird, sind keine Maßnahmen getroffen worden, mit denen beide Ziele gemeinsam verfolgt werden können. Wir brauchen im Bildungsbereich Konzepte, aus denen hervorgeht, wo die Einhaltung wichtiger Maßnahmen nicht möglich ist und wo die Politik gefordert ist, für die notwendigen Rahmenbedingungen zu sorgen.

Wissen wir, in welchen Schulklassen ein Abstand von zumindest 1 Meter zwischen Schüler_innen nicht gut eingehalten werden kann? Welche Rahmenbedingungen brauchen Kindergärten um sicherzustellen, dass alle Kinder regelmäßig Hände waschen? Kann die Desinfektion aller Kontaktflächen gesichert werden? Jeglicher zusätzliche Aufwand, der mit der Eindämmung der Pandemie einher geht, zieht Personalressourcen ab, der für Betreuungs- und Bildungsarbeit dringend benötigt wird. Verantwortungsvolle Politik will wissen, wo es zu Umsetzungsschwierigkeiten kommt, um unterstützen zu können.

Wir brauchen keine Vorschriftsrhetorik, die sich nicht selbst ernst nimmt. Wir brauchen keine Entlastung durch die Relativierung der Notwendigkeit von Maßnahmen. Vor dem Eissalon kann ein Meter eingehalten werden. In Schulen diesen Abstand einzuhalten, ist um vieles schwieriger und umso wichtiger. Gerade weil diese Regelungen und Verhaltensvorschriften so wichtig sind, müssen Maßnahmen zur Umsetzung von Seiten der öffentlichen Hand unterstützt werden. So würde ich mir wünschen, dass Schulen die Möglichkeit erhalten, auch leerstehende Gebäude und Geschäftsflächen zu nutzen. Damit die Pandemie soziale Ungleichheit nicht noch mehr verstärkt, braucht der gesamte Bildungsbereich zusätzliche Ressourcen.