Corona auf Lesbos: „Die Schande Europas“

In den griechischen Flüchtlingslagern droht mit der Corona-Pandemie eine völlige Katastrophe. Die Lager müssen sofort evakuiert werden. Österreich und andere Staaten müssen sich verpflichten, Menschen aufzunehmen, wenn sie es mit der Bekämpfung des Coronavirus ernst meinen. Ein Gastbeitrag von Tim Höltje.
25. März 2020 |

Man stelle sich eine traumhaft schöne Insel im Mittelmeer vor. Mediterranes Wetter, türkises Wasser. Man stelle sich vor, tausende Menschen würden dort stranden. Man stelle sich vor, jemand verfrachtet diese Menschen in schon maßlos überfüllte Lager, die eher einem Gefängnis gleichen. Man stelle sich vor, dass sie dort jahrelang im Dreck ausharren. Traurigerweise braucht es dafür jedoch wenig Vorstellungskraft. „Die Schande Europas“, wie der Soziologe Jean Ziegler sein Buch über das Lager Moria nannte, existiert.

Auf Lesbos, einer griechischen Insel, keine 10 km vom türkischen Festland entfernt, ist die Hölle sehr real geworden. Für 3.000 Menschen ausgelegt, leben dort im Lager Moria aktuell über 20.000. Teilweise gibt es eine einzige Wasserzapfstelle für 1.300 Menschen. Vor wenigen Tagen brach dort ein Brand aus. Ein sechsjähriges Kind starb in den Flammen. Weil das Lager so überfüllt ist, hatte die Feuerwehr Schwierigkeiten zur Feuerstelle zu kommen und löschte das Feuer erst nach einer Stunde.

Nun stelle man sich vor, Corona käme hinzu. Unter dicht an dicht gedrängten Menschen würde sich das Virus in Windeseile ausbreiten. Platz für Quarantäne gibt es nicht. Eine angemessene medizinische Versorgung gibt es nicht, keine Krankenstationen, Beatmungsgeräte, oder Intensivstationen. Drei Ärzte waren es Ende 2019. Drei Ärzte für über 20.000 Personen! „Die Insel macht einen krank“, sagte MacCan, eine Koordinatorin der Ärzte ohne Grenzen auf Lesbos. Wird das Virus sie töten?

Kurz trägt Mitschuld

Von der griechischen Regierung und den Regierungen der restlichen EU-Staaten wird das Elend als Teil einer menschenverachtenden Abschreckungsstrategie billigend in Kauf genommen. „Ohne hässliche Bilder wird es nicht gehen“, sagte Kanzler Kurz im Jahr 2016 in seiner damaligen Position als Außenminister. Als Vorsitzender der EU-Ratspräsidentschaft Österreichs im Jahr 2018 arbeitete er akribisch an diesen Bildern. Damals forderte er eine ausschließliche Debatte über den Schutz der Außengrenzen, anstatt Schritte in Richtung einer dringend notwendigen Reform und Vereinheitlichung europäischer Asylverfahren zu tun.

Zum Schutz der Grenzen rief er auf, nachdem die Türkei ihre Grenzen für Flüchtende geöffnet hatte. Kurz sprach von einem Angriff der Türkei und degradiert die Geflüchteten damit zu Kriegsinstrumenten und entmenschlicht sie. Dabei stehe man „geschlossen an der Seite Griechenlands“ und zur Unterstützung schickte Österreich noch einige Beamte, eine Drohne und ein Panzerfahrzeug hinterher. Durch seine Unterstützung stellt er dem griechischen Grenzschutz einen Blankoscheck aus. Mit einem solchen ideologischen Trommelfeuer kann es einen kaum wundern, dass an der griechisch-türkischen Grenze schon scharf geschossen wurde.

Ins gleiche Horn bläst er, wenn er vom „NGO-Wahnsinn“ fabuliert und damit Organisationen verleumdet, die Ertrinkende retten. Er diffamiert damit aber auch die NGOs, die sich auf Lesbos bemühen, die Menschen mit dem Allernötigsten zu versorgen. Aber damit nicht genug: indirekt stützt er damit auch die faschistischen Bürgerwehren, die auf Lesbos die Arbeit der NGOs behindern, Blockaden errichten, Geflüchtete verprügeln und bei ihren Schandtaten noch von der örtlichen Polizei geschützt werden. Wieder einmal offenbart Kurz damit seine zynische und menschenverachtende Haltung und arbeitet als Erster unter Gleichen an der Abschaffung der Menschenrechte, deren Einhaltung sich die EU-Staaten am Papier verpflichtet haben.

Mitgetragen wird das Ganze von dem Koalitionspartner in Wien: Die Grünen halten sich in dieser prekären Situation nach der im Koalitionsvertrag festgelegten Arbeitsteilung Klima – Grüne und Migration – ÖVP bedeckt. Auch Vizekanzler Kogler duckte sich schnell wieder weg, nachdem seine Forderung, Frauen und Kinder von der Insel aufzunehmen, von der ÖVP kritisiert wurde. Die Grünen-Abgeordnete Ernst-Dziedzic fordert zwar, dass die gezahlten Hilfsleistungen im Camp effektiver genutzt werden sollen. Aber was nutzt das Geld, wenn es keinen Platz gibt? Was nutzt es, wenn die Hilfsorganisationen ihr Personal wegen der drohenden Ansteckungsgefahr durch Corona abziehen? Was passiert mit einer Partei, die mit einem Maulkorb in Regierungsverantwortung gegen ihre eigenen Überzeugungen stimmt?

#WirHabenPlatz

Dass es in der Realpolitik auch menschlicher gehen kann, zeigt eine deutsche Initiative mit dem Namen „Sichere Häfen“. Dieses Städtebündnis gründete sich im Jahr 2018, als Antwort auf die rassistische Politik des damaligen italienischen Innenminister Salvini, der Seenotretter_innen mit ihren Schiffen und den Geretteten an der Einfahrt in italienische Häfen hinderte. Daraufhin boten die „Sicheren Häfen“ an, die Menschen von den Schiffen aufzunehmen.

Auch in der derzeitigen Krise fordern die Städte der „Sicheren Häfen“ einen eigentlich selbstverständlichen Humanismus ein. 500 unbegleitete, minderjährige Geflüchtete wollen sie aufnehmen. Flankiert wird das ganze aus der Zivilgesellschaft. Über Hashtags wie #WirHabenPlatzzeigen viele Menschen Solidarität und erklären sich bereit, Menschen in Not aufzunehmen.

Die zuständige deutsche Bundesregierung hält sich, was das angeht, bedeckt und lehnte kürzlich erst einen Antrag der Grünen ab, 5.000 besonders Schutzbedürftige aufzunehmen. Immer wieder verweisen sie auf eine europäische Lösung, verschweigen dabei aber, dass diese schon fünf Jahre auf sich warten lässt. Letztlich bildete sich auf den Druck von unten eine „Koalition der Willigen“, die sich bereit erklärte insgesamt 1.600 unbegleitete Minderjährige aufzunehmen.

Neben Deutschland gehören Frankreich, Irland, Finnland, Portugal, Luxemburg und Kroatien dazu und wahrlich ist damit nicht viel getan. Die Bedrohung durch Corona lässt nicht viel Zeit. Wenn wir nicht bald handeln wird es mehr Tote geben, als wir es uns vorstellen können. Europa darf sich nicht aus der Verantwortung ziehen, wenn Menschen an seiner Peripherie sterben! Und wenn die Regierungen untätig bleiben, ist es an der Zivilgesellschaft, Druck aufzubauen und einzufordern, was eigentlich selbstverständlich ist.

Hotels für Flüchtlinge

Wohin mit den Menschen? fragt vielleicht die ein oder andere. Nun: in Wien und anderen Orten stehen etliche Hotelzimmer aufgrund ausbleibender Besucherzahlen leer. Dass die Regierung als Erfüllungsgehilfe der kommerziellen Branchen in vorauseilendem Gehorsam bereits staatliche Unterstützung zusagte, ist auch keine Überraschung.  Warum also nicht die von den Konservativen so geliebte Wirtschaft subventionieren, indem man Menschen aus der Hölle evakuiert und vorzeitig in diesen, sowieso leeren, Zimmern unterbringt? Man könnte seinen Teil zur Lösung einer humanitären Krise leisten und gleichzeitig Arbeitsplätze erhalten. Wären das nicht zwei Fliegen mit einer Klappe? Außergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Maßnahmen!

Allerdings ist auch klar, dass es da nicht stoppen darf. Die einzig wirklich menschliche Lösung wäre die Öffnung der Grenze und die Verteilung und Unterbringung der geflüchteten Menschen.