Die Arbeit des Körpers: Von der Hochindustrialisierung bis zur neoliberalen Gegenwart – Wolfgang Hien

„Die Arbeiter_innenklasse gibt es nicht mehr, körperliche Arbeit wird durch immaterielle Dienstleistungen verdrängt, die Industrie 4.0 führt zu menschenlosen Fabriken“, solche Plattitüden sind in Seminarräumen, Zeitungsredaktionen und Talkshows allgegenwärtig. „Intellektuelle“ schaffen es, solche Sätze zu formulieren, während alles, was sie umgibt – vom Stuhl, auf dem sie sitzen, über das Smartphone, das sie benutzen, bis zum Essen, das sie bestellen – durch körperliche Arbeit geschaffen wurde. Der Medizinsoziologe Wolfgang Hien zeigt in seinem Buch, wie sich Arbeit zwischen körperlichen Leiden (die andere Seite des Wohlstandes), dem Stolz auf das schaffende Kollektiv und der Rebellion gegen unzumutbare Zustände bewegt.
25. Januar 2023 |

Hiens Studie beginnt in der Phase der kapitalistischen Frühindustrialisierung, führt über den Nationalsozialismus – die Vernichtung von Menschen durch Arbeit – in die Zeit des keynesianischen „Wirtschaftswunders“ und schließt mit einer Betrachtung der neoliberalen Phase des Kapitalismus. Während der sozialwissenschaftliche Mainstream aufgrund der Dauerbeschäftigung mit Diskursen, Systemen und Identitäten von Arbeit nichts mehr wissen will, fokussiert sich der Großteil der linken Geschichtsschreibung auf Gewerkschaften, Parteien und große gesellschaftliche Umbrüche. Hien zeichnet in seinem Buch ein anderes Bild: durch einen Blick von Unten setzt er den Fokus auf das Leben der Massenarbeiter_innen im Betrieb.

Schutz der Arbeiter_innen oder Schutz der Arbeit

Die Arbeiter_innen im Betrieb, ihre körperlichen und seelischen Erfahrungen sind Gegenstand des Buches. Durch umfassendes Datenmaterial, das sich von Romanen zum Arbeitsalltag, über mündliche Interviews, bis hin zu Veröffentlichungen von Basisinitiativen und Betriebsgruppen und medizinische Fachzeitschriften erstreckt, gelingt es ein aufschlussreiches Bild der unterschiedlichsten Berufszweige im Laufe der Epochen darzustellen. Der Blick von Unten auf die Massenarbeiter_innen im Betrieb führt automatisch dazu, dass die Kämpfe um den körperlichen Schutz der Arbeiter_innen vor Verletzungen im Zentrum stehen.

Es ist kein Zufall, dass die offiziellen Verlautbarungen der Gewerkschaftsspitzen im Buch eine untergeordnete Rolle spielen. Im Rahmen sozialpartnerschaftlicher Politik versuchten die institutionalisierten Flügel der Arbeiter_innenbewegung den Fokus auf den Kampf um Unfallversicherungen zu legen, nicht auf eine andere Organisierung der Arbeit. Die Hoffnung der sozialdemokratischen Führungsfiguren Victor Adler und August Bebel, durch Unfallversicherungen nicht nur kompensativ sondern auch präventiv zu wirken, bestätigte sich nicht. Unfallzahlen stiegen weiter, und körperliche Folgeschäden von Arbeit stehen bis heute an der Tagesordnung. Noch in den 60er-Jahren, den „glorreichen Zeiten“ des Wirtschaftswunders und Massenkonsums, starb ein Drittel aller Erwerbstätigen vor Erreichen der Rentengrenze, ein weiteres Drittel wurde frühinvalide. So wichtig Arbeitsversicherungen und Maßnahmen zum Schutz der Arbeiter_innen offensichtlich sind, es steckte in ihnen immer auch das Ziel der Befriedung der Arbeiter_innen im Bestehenden.

Eines von hunderten Beispielen für diese im Buch formulierte These ist die Geschichte von Günter Wallraff (späterer Investigativjournalist) der 1963 als Reinigungsmann im Thyssen-Stahlwerk Duisburg Hamborn arbeitete. Aufgrund einer drohenden Verstopfung des Schüttelrost müssen die Reinigungskräfte bei 100 Grad durch den Kühlerkasten klettern, um die Stahlrutsche freizuklopfen. Die Maschinen laufen ohne Pause weiter. Wenn der Erste zusammenbricht, muss der Nächste rein. „Die Haare in der Nase glühen. Ich kann nicht durchatmen, weil ich das Gefühl habe, innerlich zu verbrennen. Durch die Asbesthandschuhe verbrenne ich mir die Finger. Ich haue sinnlos drauflos und habe jedes Gefühl verloren.“ Als Wallraff seinen Bericht über die unerträgliche Hitze, in der gewerkschaftlichen Metaller-Zeitung veröffentlichen wollte, interveniert der Betriebsrat – der Bericht verschwindet in der Schublade. Ob in Schiffswerften, Bergbau, Stahlindustrie oder der Chemieindustrie, durch die Epochen hindurch wurde der Schutz des Lebens der Arbeiter_innen der Profitproduktion geopfert. Solange Gewerkschaften den Standpunkt des Interessenausgleichs von Kapital und Arbeit verfolgen, können sie eingeschüchtert durch die Drohungen (Werkschließungen und Massenentlassung) diese Opferung von Leben abmildern, aber nicht beenden.

Auch wenn die klassischen Industriejobs bei Hien im Fokus stehen, sind auch seine Schilderungen über die verheerenden psychischen Auswirkungen von klassischen Bürojobs, in den modernen Callcenter und in der IT-Branche umfassend und treffend.

Die Naturzerstörung beginnt bei den Arbeitern

Innerhalb der Klimabewegung wird immer wieder darüber diskutiert, wie es sein kann, dass Kapitalisten und Politiker_innen wissenschaftliche Erkenntnisse absichtlich ignorieren. Hiens Studie zeigt, das Ausblenden wissenschaftlicher Tatsachen zur Aufrechterhaltung der kapitalistischen Profitproduktion ist keine neue Erscheinung. Der Zusammenhang von Asbest und Lungenerkrankungen (bspw. Staublunge) war bereits Anfang des 20. Jahrhunderts bekannt. In den 30er-40er Jahren war völlig klar, dass regelmäßige Arbeit mit Asbest (es wird vor allem zum Wärmeschutz in der Industrie eingesetzt) erhöht das Krebsrisiko um ein hundertfaches. 1936 wurden schwere Asbesterkrankungen erstmals in die Unfallversicherungen für Berufskrankheiten aufgenommen. Das gesamte Wissen änderte nichts daran, dass die Verwendung von Asbest nach dem Zweiten Weltkrieg einen gigantischen Aufschwung erlebte.

Als progressive Wissenschaftler_innen im Bündnis mit nicht-gewerkschaftlichen Betriebsgruppen begannen, Asbest zum Thema zu machen, wurden sie mit denselben Argumenten bekämpft wie heutzutage Klimaschützer_innen: Ihr gefährdet Arbeitsplätze, seid verweichlicht, der Körper kann sich an alles gewöhnen usw.  Betriebsärzte verheimlichten oder individualisierten die tödlichen Auswirkungen, Mediziner_innen spielten die Auswirkungen von Asbest herunter oder betrachteten Krebs als hinzunehmendes Berufsrisiko für Arbeiter_innen.

1983 weigerten sich Arbeiter_innen, das mit Asbest verseuchte Schiff „United States“ in der Bremer-Wulkan-Werft zu reparieren. Die Weigerung von Teilen der Werftarbeiter_innen, ihr Leben zu riskieren, spaltete Gewerkschaft wie Belegschaft. Während die einen Arbeiter_innen den Schutz ihres Lebens betonten, sahen die anderen die Bedrohung für ihre Familie im Falle von Entlassungen. Dieses Beispiel zeigt, dass Klassenkampf immer auch ein Kampf um die Politik innerhalb der Klasse ist. Erst in den 90er-Jahren wurde Asbest in den kapitalistischen Zentren verboten. Ein Jahrhundert-Kampf für die politische Anerkennung der wissenschaftlichen Tatsache, dass Arbeit mit Asbest lebensbedrohlich ist. Global betrachtet führt dies jedoch nur dazu, dass asbestverseuchte Schiffe heutzutage zur Reparatur und Umrüstung nach Indien überführt werden. Jetzt sind es indische oder chinesische Arbeiter_innen, die ohne echten Schutz ihr Leben opfern.

Ökosozialismus

Wenn auch eher untergründig – nicht als zentrales Hauptthema – zeigt das Buch ein ums andere Mal, die kapitalistische Zerstörung des Lebens der Arbeiter_innen und die Zerstörung der Natur sind ineinander verwoben. Technologischer und wissenschaftlicher Fortschritt, der nicht im Dienst der Menschheit, sondern des Kapitals steht, ist eine permanente Katastrophe. Die versprengten Diskussionen, die es in der Chemie, Bergbau und Stahlindustrie insbesondere in 70er und 80er-Jahre über die Frage, wie könnte eine Umrüstung der Produktion auf ökologisch sinnvoller und Güter-technisch nützlicher Ausrichtung funktionieren, wieder auszugraben, ist eine Aufgabe für Ökosozialist_innen im 21. Jahrhundert.

Darum erfüllt das Buch nicht nur seine Aufgabe eines faktenreichen Überblicks über das Leben der Arbeiter_innen in der Produktion, sondern liefert wichtige Anstöße zum Weiterdenken.