Geschichte, die sich wiederholt: Die Reise der Verlorenenen

Mit Die Reise der Verlorenen von Daniel Kehlmann erinnert das Theater in der Josefstadt an die gescheiterte Flucht von über 900 Jüdinnen und Juden, die 1939 an Bord der St. Louis den Fängen der Nazis in Richtung Kuba zu entkommen versuchten.
5. Februar 2019 |

Am 13. Mai 1939 besteigen 937 jüdische Flüchtlinge den Luxusliner St. Louis mit der Hoffnung, dem grausamen Morden der Nazis zu entkommen. Ihr Ziel: Kuba. Der herbeigesehnte sichere Hafen lässt die Flüchtlinge jedoch nicht an Land, die erhoffte Rettung wird zur Irrfahrt, das Schiff nimmt wieder Kurs auf Europa. Etwa ein Drittel der Passagiere wird später ermordet werden.

Erinnerungsliteratur

Der Stoff mutet wenig theatertauglich an – umso bemerkenswerter ist das Ergebnis, das Regisseur Janusz Kica in Form eines Dokumentarstücks auf die Bühne des Theaters in der Josefstadt bringt. Die Grundlage bildete das 1975 erschienene Buch Voyage of the Damned (Das Schiff der Verdammten. Die Irrfahrt der St. Louis), in dem Gordon Thomas und Max Morgan-Witts die historischen Hintergründe mit Auszügen von Tagebüchern, Telefonmitschnitten und Gesprächsprotokollen festhielten. Ein Jahr später wurde das Zeitzeugnis verfilmt. Der deutsch-österreichische Schriftsteller Daniel Kehlmann adaptierte die Geschichte für die Bühne und schuf ein dramaturgisch höchst gelungenes Stück Erinnerungsliteratur.


Das Bühnenbild (Walter Vogelweider) ist an den Maschinenraum eines Schiffs angelehnt und bietet eine symbolisch aufgeladene Kulisse. Die vielen Zahnräder können durchaus als Hinweis auf die industrielle Vernichtung von Millionen von Menschen gedeutet werden, ebenso auf das maschinenartige Funktionieren des NS-Apparats, zu dem viele gehorchende, funktionierende Rädchen beigetragen haben. Immerhin spielt der Kapitän Gustav Schröder (Herbert Föttinger) mit dem Gedanken, die Maschine zu sabotieren, sein Schiff in britischen Gewässern auf Grund laufen zu lassen und so die Rettung zu erzwingen.

Ergreifende Fluchtgeschichten

Für die aufwändige Inszenierung stehen über 50 Menschen auf der Bühne, zusätzlich zu den 30 Rollen erzeugen zahlreiche Statisten einen Einblick in das Schiff mit seinen vielen unfreiwilligen Passagieren. Paradigmatisch erzählen einzelne Personen ihre Lebensgeschichte und wenden sich dabei direkt an die Zuschauer_innen. Das erzeugt Nähe und löst die Flüchtenden aus ihrer passiven Opferrolle, sie sind selbst handelnde Akteur_innen, die alles versuchen, um zu überleben.

So erzählt etwa der Hebräischlehrer Aaron Pozner (Roman Schmelzer) von seinen Erfahrungen im KZ und seiner Sehnsucht, Frau und Kinder wiederzusehen. Den Blick ins Publikum gerichtet, macht er nicht nur die eigene sondern auch die Hoffnung der Zuhörer_innen sogleich wieder zunichte. Er wird in Auschwitz vergast werden. Seine Geschichte kennen wir nur, weil sein Tagebuch erhalten blieb. Ähnlich ergeht es vielen der Passagier_innen, nur wenige schaffen es auf die Insel. So etwa Max Loewe (Marcus Bluhm), der aufgrund seines Suizidversuchs nach Havanna ins Krankenhaus gebracht wird. Die meisten jedoch müssen die Reise zurück nach Europa antreten, wo sie nach ewigen Verhandlungen verteilt werden.

Moralischer Fingerzeig

Das Stück macht sehr deutlich, dass es sich bei all dem Leid nicht nur um tragische Schicksale handelt. Hinter all den Schritten, die weiter in Richtung Tod führten, steckten kalkulierte menschliche Entscheidungen. Ob die der kubanischen Machthaber, die zwischen Korruption und Machtinteressen schwankend lieber früher als später die Grenzen dicht machen, oder die der USA, die von der Welt eine Moral einfordern, die sie selbst nicht erfüllen. Viele hätten die Möglichkeit gehabt, die Situation zu ändern und viele Leben zu retten.

Für die politischen Machthaber werden die Flüchtlinge zum Spielball rund um Korruption und Machtinteressen


Kehlmann greift hier nicht nur zum leisen moralischen Fingerzeig. Gleich in der ersten Szene richtet Otto Schiendeck (Raphael von Bargen), Ortsgruppenleiter und Nazispion auf der St. Louis, das Wort ans Publikum: „Und Sie, begnadet mit später Geburt, denken vielleicht gerade: ,Wer weiß, wie ich gehandelt hätte?‘ Aber ich verrate Ihnen was: Falls Sie wirklich nicht wissen, wie Sie gehandelt hätten, dann wissen Sie es schon. Dann hätten Sie gehandelt wie ich.“

Kehlmann will aufrütteln, will jeden dazu bringen, sich zu positionieren und weist so auf die aktuelle Politik hin. Man denke nur an Politiker, die sich damit brüsten, Fluchtrouten geschlossen zu haben. Selbst eine rechte Rezension greift das auf und hetzt, das sei nicht zu vergleichen, da es sich heute nicht um ein Schiff voll gebildeter Leute handele, sondern um „ein Boot voll von jungen – schlecht ausgebildeten – Männern aus der Dritten Welt, mit der Hoffnung auf ein gutes Leben im sozialen Wohlfahrtsstaat.“

Würdevolles Andenken

Dass der Ausgang des Stücks von vornherein klar ist, tut der Spannung keinen Abbruch. Ohnehin kann der Anspruch dieser Produktion nicht die Unterhaltung sein. Vielmehr geht es darum, die Geschichte zu dokumentieren und der Erinnerung an dieses grausame Kapitel einen Platz in der Gegenwartskunst zu geben. Das mittlerweile zur leeren Hülle eines so notwendigen Schlagworts gewordene „Nie wieder!“ bedarf einer ständigen, ernsthaften Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Die Reise der Verlorenen leistet dazu einen wichtigen Beitrag. Nicht nur, weil es den Verlorenen ein würdevolles Andenken schafft, sondern auch weil es Jeden und Jede auffordert, nicht zuzusehen, bis es verloren ist.

Etliche Lebensgeschichten werden angerissen, das Stück verlangt ein aufmerksames Publikum. Es geht nicht darum, sich in einem zum Helden stilisierten Protagonisten wiederzufinden, sondern die Breite der Tragödie darzustellen. So vielen Menschen hat die Abweisung des Schiffes das Leben gekostet, sie alle hätten es verdient, dass man ihre Geschichte erzählt.