Hungerkatastrophe trotz Getreideüberschuss

Die Weltöffentlichkeit ist vor einer drohenden Hungerkatastrophe gewarnt. Anstatt ihr mit aller Macht entgegenzutreten, wird sie durch die mächtigsten Finanzinstitutionen des Westens, Weltbank und Weltwährungsfonds, noch verschärft, schreibt Manfred Ecker.
8. August 2022 |

Kein Zweifel, Putins Krieg gegen die Ukraine ist ein schwerwiegender Faktor in der Entwicklung der kommenden Hungerkatastrophe. Aber Millionen Menschenleben könnten gerettet werden, wenn die führenden Industrienationen und ihre Konzerne ihren neoliberalen Kurs aufgeben würden. „Die Gefahr einer Massenhungersnot ist real, aber die Betonung des Krieges zwischen Russland und der Ukraine in den Medien vermittelt einen irreführenden Eindruck von den unmittelbaren und endgültigen Ursachen. Die Handelsströme sind nicht gleichzusetzen mit der gesamten Getreideernte. Tatsächlich schätzte das US-Landwirtschaftsministerium (USDA) im März 2022, dass die Weizenexporte aus der Ukraine und Russland nur um etwa sieben Millionen Tonnen bzw. 12 Prozent der vor der Invasion für das Erntejahr 2021/2022 erwarteten Menge zurückgehen werden“, schreibt Richard Solomon.

Chaos am freien Markt

Dabei ist es entscheidend zu verstehen, dass es aktuell keine wirkliche Getreideknappheit gibt. Es gibt trotz der Lieferprobleme aus der Ukraine einen Überschuss am Weltmarkt. Allerdings herrscht Chaos an den Getreidebörsen, was aber mehr über die Unfähigkeit des freien Marktes aussagt, als über das tatsächliche Angebot. Anders gesagt, Hunger entsteht dort, wo wegen der steigenden Preise die Nahrungsmittel unerschwinglich werden. Zahlreiche Studien haben klar gezeigt, „dass die Nachricht vom Krieg eine Kaskade von Spekulationen und Hortungen auf den globalen Getreidemärkten auslöste, die eine bestehende Weizenknappheit verschärfte und eine sich selbst erfüllende, künstliche Knappheit schuf.“ Die Preise müssten also nicht steigen. Genausogut könnte die Staatengemeinschaft die Preise fixieren und die Verteilung des Weizens nicht dem „freien Markt“ überlassen. Das ist der erste Punkt.

Neoliberalismus und koloniale Geschichte

Zweiter Punkt ist die Abhängigkeit der hauptbetroffenen Länder von Import-Export-Unternehmen. Ägypten ist heute der weltweit größte Weizenimporteur. Aber wie zum Teufel ist das Land, das über Jahrtausende die Kornkammer Kleinasiens, Nordafrikas und des Mittelmeerraums war, in diese Abhängigkeit geraten? Es war einerseits die gezielte Politik der internationalen Finanzinstitute, die Ägypten in diese Abhängigkeit brachten. Grob gesagt, haben Weltbank und andere Kreditgeber das Land dazu gezwungen, die Stützung der Kleinbauern und deren Produktion von Nahrungsmitteln aufzugeben und auf den fruchtbaren Böden „Cash Crop“ für westliche Exporteure anzubauen – typischerweise die Blumen, die günstig aber sehr gewinnbringend in unseren Supermärkten angeboten werden. Mindestens 14 weitere afrikanische Länder beziehen mehr als die Hälfte ihrer Weizeneinfuhren aus Russland und der Ukraine. In Eritrea, Somalia und der Demokratischen Republik Kongo liegt dieser Anteil bei über 80 Prozent. Die Mechanismen, die sie dorthin brachten, reichen zum Teil Jahrhunderte weit zurück. Die „Umstellung von Nahrungsmitteln auf Exportkulturen“, die im 19. und 20. Jahrhundert durch eine gewaltsame Kampagne der Landnahme und Zwangsarbeit erreicht wurde, führte zu „regelmäßigen und verheerenden Hungersnöten“. Baumwoll-, Tabak-, Kaffee-, Tee- und Kakaoplantagen löschten ein komplexes Gefüge indigener Landbesitzverhältnisse aus. Ein Paradebeispiel ist Mexiko, wo der Mais vor ca. 5000 Jahren entwickelt wurde, und das heute vom Maisimport aus den USA und den dortigen Preiseskapaden abhängig geworden ist. In der Geschichte all dieser Länder lässt sich eine Kollaboration der lokalen Eliten mit den imperialen Mächten nachweisen. Diese Beziehungen werden im Zweifelsfall, sprich nach Befreiungskämpfen, durch Gewalt wiederhergestellt. So arbeitet der Westen nicht nur eng mit dem Militärdiktator al-Sisi in Ägypten eng zusammen, sondern auch zahlreiche afrikanische Länder mit der kleineren Imperialmacht China.

Produktion nur um 1% geringer

Dritter Punkt ist, dass die Nahrungsmittelknappheit tatsächlich nur als Konsequenz des Chaos auf den freien Märkten existiert, während eigentlich genug vorhanden ist. Das Landwirtschaftsministerium der Vereinigten Staaten (USDA) schätzt, dass die weltweite Produktion im Jahr 2022 gerade um ein Prozent zurückgehen wird. In Erwartung des Ukraine-Konflikts stiegen die Preise schon im vergangenen Herbst, was die industriellen, exportorientierten Winterweizenanbauer in aller Welt dazu animierte, eine Rekordernte zu säen. Allein in den USA werden die Landwirte 83 Millionen Scheffel Weizen mehr ernten als im letzten Jahr. Auch Indien plant im Vergleich zum Vorjahr vier bis neun Millionen Tonnen Weizen zusätzlich zu exportieren. Der aktuell verordnete Exportstopp dürfte vor allem eine taktische Maßnahme sein. Marokko hat seine Weizen- und Gerstenernte in diesem Jahr um 206 Prozent gesteigert, und so weiter. Warum sollte es dann inmitten des Überflusses Massenhunger geben? Das hat wie gesagt mit den Preissteigerungen zu tun, die wiederum vor allem vom Markt angetrieben sind, und von der Unfähigkeit der weltweiten Lieferketten, das Chaos auf den Schwarzmeerhäfen und anderswo auszugleichen. Vereinfacht gesagt fehlt es an bedarfsorientierter Planung. Getreide wird nicht dorthin geliefert, wo es am dringendsten gebraucht wird, sondern dorthin, wo es am meisten Profit bringt. Dieses Chaos trägt dann zu den Lieferengpässen bei, die die Preise noch weiter antreiben.

Corona und die Märkte

Damit sind wir beim vierten Punkt angelangt: Corona hat in vielen Staaten des Südens katastrophale Auswirkungen auf die Wirtschaftsleistungen. Steigende Preise, nicht nur bei Nahrungsmitteln, sondern bei Sprit und anderen Bedarfsgütern, ruinieren Kleinbauern und treiben die Ärmeren in furchtbare Not. Es gab zahlreiche Appelle an die großen Geldgeber und ihre Wachhunde, Weltbank und IWF, ein Schuldenmoratorium auszurufen, damit die sinkenden Budgets nicht für die Rückzahlung von Krediten aufgebraucht werden, aber davon wollen die Großbanken nichts wissen. Daraus entsteht bei den Exporteuren Zweifel, ob ihre Getreidevorräte wirklich verkauft werden können. Schiffe werden nicht befüllt und Vorräte nicht aufgekauft, weil die Speicher begrenzte Kapazitäten haben. Unter anderem daraus entstanden die Lieferengpässe, die im Zuge der Pandemie sichtbar geworden sind, nicht nur, weil die Transportarbeiter krank oder in Quarantäne waren. Die Finanznot der Staaten des globalen Südens entstand spiegelbildlich zu den Preiskapriolen am Chicago Board of Trade, der Minneapolis Grain Exchange und der Euronext-Finanzzentren in Amsterdam, Brüssel, Paris und Mailand.

Klimawandel

Schlussendlich befeuert der Klimawandel die befürchtete Katastrophe: Kenia steht am Beginn der schlimmsten Dürre seit 1981. Drei Millionen Menschen im Land leiden bereits extremen Hunger, schon mehr als die Hälfte aller Kinder unter fünf Jahren gilt als unterernährt. Insgesamt droht 20 Millionen Menschen in Ostafrika eine Hungersnot. Und was macht Europa? Es schottet sich ab.

Es ist wenig überraschend, dass liberale Kommentatoren und unsere Politiker nur einen Schuldigen für die grauenhafte Krise benennen wollen, auf die wir zusteuern, aber wir müssen die Anklage und die Liste der Schuldigen ausweiten. Kapitalismus und die Politiker und Institutionen, die ihn immer aufs Neue durchsetzen und verteidigen gehören in Handschellen neben Putin auf die Anklagebank.