Hyperreality: Festival auf der Sophienalpe
Als Teil der Wiener Festwochen ließ das Festival zwei Jahre lang Wien – nach dem großen Hype der 1990er-Jahre – zumindest wieder ein wenig in den Mittelpunkt der internationalen Klubkultur mit avantgardistischer Ausrichtung rücken. Nach dem Abgang von Festwochen-Intendant Thomas Zierhofer-Kin und der Weigerung seines Nachfolgers Christophe Slagmuylder, das Sub-Festival fortzusetzen, hat sich Hyperreality nun auf eigene Beine gestellt. Weniger subventioniert als zuvor und mit neuem Team hat Kuratorin Marlene Engel es trotzdem beziehungsweise jetzt erst recht wieder geschafft, ein beachtliches und ambitioniertes Programm auf die Beine zu stellen.
Nach den vorigen, jeweils an der Wiener Peripherie gelegenen Austragungsorten Schloss Neugebäude in Simmering und F23 in Liesing, geht es 2019 noch radikaler stadtauswärts, nämlich ins altehrwürdige Hotel auf der Sophienalpe, quasi mitten im Wienerwald. Parallel zu den Wiener Festwochen werden jeweils die ganze Nacht sowohl die Bühne im ehemaligen Veranstaltungssaal als auch das trockengelegte Hallenbad („Pool“) bespielt.
Antikapitalismus
Im Presse-Info-Text heißt es auf der Website des Festivals: „Wirklich experimentelle, avantgardistische Musik wirft Fragen über Kulturen auf, die innerhalb eines kapitalistischen Systems operieren, anstatt sie zu reproduzieren, und sie kritisiert diese Homogenisierung des Kulturbegriffs. Das versteht Hyperreality unter Club Culture.“
Und weiter: „Im Rahmen von Hyperreality ist die Clubkultur im Sinne einer sozial-künstlerischen Institution gemeint und kein Begriff, der dazu dient, unsere Realität in sexistische und patriarchale Strukturen zu klemmen (Stichwort Türpolitik). Seit Mitte der 90er werden immer wieder aufkommende DIY Musikkulturen von Dynamiken überrollt, die Welten bauen, anstatt sie zu zerlegen. Hyperreality ist nicht nur ein Fenster in ein diverses musikalisches und kulturelles Hier und Jetzt, sondern auch eine Erinnerung daran, dass der utopische Glanz der Musik vielleicht nicht völlig erloschen ist.“
Experimentell, avantgardistisch
Dazu sei als Anspieltipp der neue Song D.I.Y. von Bbymutha empfohlen. Die als Brittnee Moore in Chattanooga, Tennessee geborene Rapperin erzählt in ihren Texten aus dem Leben einer alleinerziehenden vierfachen Mutter, von Selbstermächtigung und von guten Orgasmen. Nach vier Veröffentlichungen im vergangenen Jahr (Mixtapes und EPs) ist ihr Debütalbum Christine für April 2019 angekündigt.
Am Tag davor wird die radikale US-Soundpoetin und Noise-Rap-Aktivistin Moor Mother gemeinsam mit DJ Haram als neues Duo 700Bliss die Bühne des Festivals entern. Moor Mother heißt mit bürgerlichem Namen Camae Ayewa, stammt aus Philadelphia, und betreibt gemeinsam mit ihrer Partnerin, der Bürgerrechtsanwältin Rasheedah Phillips, Schreibworkshops und Kreativkurse für benachteiligte Kinder und Jugendliche: The AfroFuturist Affair. Ihr Ende 2016 erschienenes Album Fetish Bones ist eine Kampfansage gegen (weiße) Gewalt und den ewigen Rassismus gegenüber Afroamerikanern, in die gleiche Kerbe schlägt die aktuelle Veröffentlichung Spa 700.
Wild Pop
Eines der Highlights des ersten Festival-Wochenendes ist ein Noise-Impro-Pop-Duo, das die britische Musikerin und bildende Künstlerin Freya Edmondes alias Elvin Brandhi gemeinsam mit ihrem Vater, der unter dem Pseudonym Mykl Jaxn auftritt, gegründet hat. Die Tracks, denen die beiden das Markenzeichen „Wild Pop“ verpasst haben, werden direkt auf Video gebannt und ins Netz gestellt. Der Vater sorgt für Beats, Noise und Glitches, die Tochter, die einige Zeit in Wien gelebt hat, improvisiert dazu am Mikrophon. Zum Kennenlernen sei Empty Weeping von der soeben erschienenen EP Shelf Life empfohlen.
Wem dies zu sperrig klingt, kann zeitgleich auf der großen „Stage“ dem Auftritt von Nina Kraviz beiwohnen. Die russische DJane und Musikproduzentin im Bereich Acid Techno, Minimal Techno & Deep House veröffentlichte 2012 ihr Debütalbum, 2014 gründete sie ihr eigenes Plattenlabel. Sie ist international gefeierter Clubmusik-Superstar und hatte beim letztjährigen Hyperreality-Festival so viel Spaß, dass sie spontan beschloss, auch dieses Jahr dabei zu sein.
60 acts – 30% Männer
Es ist unmöglich, hier auf alle Acts einzugehen: Von der in Berlin lebenden Tami T., die mit eindringlichem Sound die Lust am Queering von elektronischen Musikgenres und der eigenen Stimme zelebriert (Anspieltipp: I Never Loved This Hard This Fast Before) bis zum japanischen Multiinstrumentalisten Jigga, der auf seinem Mini-Album Lilllill (veröffentlicht 2018) Stimmen aus dem alten Japan und traditionelle asiatische Musik mit dem Lärm und der Überforderung des modernen Lebens kreuzt.
Insgesamt stehen an den vier Festival-Tagen beziehungsweise -Nächten 60 Künstler_innen auf dem Programm, davon sind zumindest 70% Frauen, non-binary, Inter- oder Transpersonen. Der Slogan dazu lautet „Jetzt Neu: 30% Männer =)“. Mit vier Auftragsarbeiten werden zusätzliche Ressourcen für lokale Künstler_innen geboten, um neue Arbeiten zu entwickeln und uraufzuführen.
Zwischen den Wochenenden bietet Hyperreality außerdem erstmals ein Workshop-Programm zur Wissensvermittlung und Produktion an. Das Programm wird im April online gehen – die Teilnahme ist gratis.
Das besondere Ambiente des Veranstaltungsortes ist ein zusätzlicher Leckerbissen: Nach dem Konkurs wurde die Sophienalpe im Sommer 2018 von dem sehr sympathischen Team um Claudia Hahn und Adnan Redha neu übernommen.
Hyperreality findet von 17. bis 18. Mai sowie von 24. bis 25. Mai statt.