Interview mit Mina Canaval – Solidarität mit der letzten Generation

Linkswende sprach mit Mina Canaval von der letzten Generation über Klimaaktivismus, Repression und das sinkende Vertrauen in den Rechtsstaat. "Was wir gerade sehen müssen ist, dass die Macht im Staat nicht vom Volk ausgeht, wie es in der Demokratie eigentlich gedacht ist, sondern von den Konzernzentralen."
26. Mai 2023 |

Linkswende: Seit gestern hat sich eure Lage noch einmal sehr zugespitzt. Die bayrische Polizei hat die „Letzte Generation“ als kriminelle Organisation eingestuft und hat Hausdurchsuchungen durchgeführt. Ich steige deshalb damit ins Interview ein, weil das doch ein ganz grelles Licht auf die Regierungen wirft und auf ihre Ernsthaftigkeit im Klimaschutz. Es scheint nicht mehr nur so, es ist jetzt sonnenklar, sie sind entschlossen, ihre Zusagen zu den Klimaschutzabkommen nicht einzuhalten. Wie erklärt ihr euch, was da in Deutschland gerade passiert.

Mina Canaval: Wir verstehen das als pure Hilflosigkeit des Staates. Wir haben das Problem der Klimakatastrophe.

Jetzt können sie mit ihrem Einsatz gegen uns immerhin den Eindruck vermitteln, dass sie etwas tun, nämlich uns beseitigen. Dieses Vorgehen gegen Klimaaktivist:innen erzeugt immerhin die Illusion von Handlung, es ist halt destruktiv. Wenn sie wollten, könnten sie uns längst von der Straße haben. Dazu bräuchten sie nur das Pariser Klimaabkommen einhalten oder die deutsche oder österreichische Verfassung einhalten. Dafür bräuchten sie halt einen Plan, haben sie aber nicht.

Linkswende: Diese Kriminalisierung folgt auf systematisches Schlechtreden von euch, was doch auch schon als Aufruf zur Gewalt verstanden wurde. Das ist doch ein Signal an den rechten Pol der Gesellschaft, dass sie ihren Gefühlen freien Lauf lassen dürfen. Wenn ein Nehammer über euch herzieht, oder …

Mina: wenn ein Olaf Scholz über uns sagt, die sind doch alle bekloppt. In Deutschland ist die Gewalt gegen die Aktivist:innen ja noch extremer als bei uns. Wir spüren jedes Mal wie die Aggressionen mehr werden, nachdem solche Politikeraussagen kommen. Diese Aussagen legitimieren und bekräftigen solche Selbstjustiz ja. Und es wird nie thematisiert, dass Selbstjustiz und Gewalt gegen Klimaaktivis:innen nicht Okay ist – das passiert scheinbar einfach so. Umgekehrt findet überhaupt keine Auseinandersetzung darüber statt, warum sich die Leute auf die Straßen kleben, zumindest bei der ÖVP vermisse ich das völlig.

LW: Also täusche ich mich nicht, dass es hier eine Komplizenschaft gibt, zwischen dem Teil der Gesellschaft, der sich gegen die nötigen Fortschritte stemmt, und dem Staat, der zumindest nach seiner Selbstdarstellung darüber stehen und für Gerechtigkeit sorgen sollte.

Mina: Ich weiß nicht, ob man es Komplizenschaft nennen kann, aber zumindest wird dieses Zusammenwirken beobachtet und gesehen. Eine Tolerierung und Legitimierung findet statt.

LW: Ich frage deshalb, weil ich als Revolutionär ja gar keine Illusionen in den Staat habe. Und ich habe den Eindruck, ihr habt heimlich auch keine.

Mina: Naja, jedes Mal, wenn ich wieder bei einem friedlichen Protest Polizeigewalt erlebe, dann verliere ich noch ein bisschen mehr den Glauben, dass der Staat dazu da ist, die Interessen der Menschen zu schützen. Was wir gerade sehen müssen, ist dass die Macht im Staat nicht vom Volk ausgeht, wie es in der Demokratie eigentlich gedacht ist, sondern von den Konzernzentralen.

LWj: Wenn ich mir vor Augen halte, wie bescheiden eure Forderungen sind, dann denke ich, die habt ihr bewusst so weit runter geschraubt. Ihr wisst doch besser als die meisten, dass es viel mehr braucht als Tempo 100 und ein Ende von Öl- und Gasbohrungen. Ihr konntet doch gar keine Illusionen mehr gehabt haben, sonst hättet ihr ja die Maßnahmen gefordert die wirklich nötig ist – und die uns der kapitalistische Staat niemals geben wird.

Mina: Die strategische Überlegung ist die: Wir haben eine sehr störende Protestform und im krassen Gegensatz dazu diese bescheidenen Forderungen, das sind wirklich Babyforderungen. Die Umsetzung kostet nichts und sie tun niemandem weh. Unser Protest soll zuerst einmal nur aufzeigen, wie unfähig der Staat ist, Überlebensschutz zu organisieren. Damit die Menschen sehen, wir haben ein größeres Problem. Wir müssen uns alle engagieren und in den zivilen Widerstand gehen, wenn wir wollen, dass die Missstände aufhören. Damit wir eine klimagerechte Welt erreichen, in der es allen Menschen gut geht, nicht nur den Reichen.

LWj: Ihr habt den Ball also über die Bande gespielt zurück an die Bevölkerung: Schauts, wir müssen was tun, wir müssen den Druck erhöhen.

Mina: Genau, die Leute müssen das sehen. Wir in der Klimagerechtigkeitsbewegung wissen das schon länger. Stillstand in der Klimapolitik erleben wir ja schon seit dreißig Jahren.

LWj: So haben wir es auch verstanden, als Weckruf! Ich spüre auch persönlich den Druck der von euren Aktionen ausgeht – ich muss jetzt wieder etwas tun. Es war ja schwierig während der Pandemie etwas zu tun. Dann kam der Ukrainekrieg und die Energiekrise. Und ihr habt erstens den Stillstand durchbrochen und zweitens die Protestbewegung auf ein neues Niveau gehoben. Indem ihr nie an die Konsumenten appelliert, sondern ausschließlich an die Regierung, habt ihr diesen Fokus auf den persönlichen Lebenswandel überwunden. Die Regierung hat die Macht sofort große Veränderungen zu erreichen. Sie ist gefordert. Stattdessen lanciert die Wirtschaft, Österreich solle sich gar nicht um die Emissionen kümmern, sondern CO2-einsparende Technologie produzieren und die dann an die großen Verschmutzer exportieren.

Mina: Es widerspricht dem Stand der Wissenschaft. Keine ernst zu nehmender Wissenschafter:in sagt, dass wir die Kurve noch kratzen können, indem wir auf Technologie setzen. Im letzten IPCC-Bericht in der Working Group 3 steht: „However, innovation and even fast technological change is not enough.“

LWj: Wie reagiert ihr auf das Argument, das kleine Österreich emittiert ja eh nur einen Bruchteil der Emissionen, man soll sich doch bitte in China ankleben?

Mina: Es stimmt natürlich, dass Österreich nur einen kleinen Teil emittiert, und dass die Klimakatstrophe ein globales Problem ist, das wir global werden lösen müssen. Aber dann ins Feld zu führen, wir müssen nichts tun, oder es ist eh irrelevant, weil wir ja nur 0,2 Prozent der weltweiten Gesamtemissionen machen, ist halt eine Ausrede, die vor allem von konservativen und neoliberalen Politiker:innen verwendet wird. Wir haben eine historische Verantwortung, weil wir schon sehr lange Treibhausgase emittieren und wir haben eine der höchsten Pro-Kopf-Emissionen weltweit. Wir haben aus der Industrialisierung die Ressourcen und wir haben natürlich eine Verantwortung für die Weltgemeinschaft. Wir müssen deshalb früher als andere die Transformation schaffen.

LWj: Einer der weltweit führenden Klimawissenschafter ist Keywan Riahi vom Institut für angewandte Systemanalyse in Laxenburg. Er meinet im ORF-Interview ganz klar, dass es eine echte Systemänderung braucht, um das Klima noch zu retten. Wie stellst du dir den Weg von euren Aktivitäten zum Systemwandel vor.

Mina: Wir verstehen uns als der Feueralarm einer schlafenden Gesellschaft. Wenn wir erreicht haben, dass die Verdrängung beendet wird, dann kann die Transformation beginnen. Die muss demokratisch erarbeitet und legitimiert werden. Der Bürger:innenrat hat schon Forderungen ausgearbeitet, wie Österreich bis 2040 klimaneutral werden kann. Das ist eh viel zu spät, aber sie setzen bei den richtigen Hebeln an. Die Umsetzung ihrer Forderungen könnte ein erster Schritt sein.