Kunst und Revolution

Künstler_innen und sozialistische Revolutionär_innen sind seit jeher ein Dorn im Auge der Herrschenden. Kein Wunder, streben doch beide nach einer von Unterdrückung und Ausbeutung befreiten Gesellschaft, in der jeder Mensch sich frei entfalten kann.
18. Februar 2020 |

Wahre Kunst, das heißt Kunst, die sich nicht mit Variationen über bereits gegebene Modelle zufriedengibt, sondern danach strebt, den inneren Bedürfnissen des Menschen und der heute lebenden Menschheit Ausdruck zu verleihen, kann nicht anders als revolutionär sein, das heißt, sie kann nur eine vollständige und radikale Neuordnung der Gesellschaft anstreben, und sei dies nur, um das intellektuelle Schaffen aus den Ketten zu befreien, die es niederhalten, und um so der ganzen Menschheit möglich zu machen, sich in Höhen zu erheben, die in der Vergangenheit nur einsame Genies erreicht haben.“

So heißt es im Aufruf Für eine unabhängige revolutionäre Kunst, den der russische Revolutionär Leo Trotzki im mexikanischen Exil – auf der Flucht vor Stalin – gemeinsam mit André Breton, einem der bedeutendsten Surrealisten, 1938 verfasste.

Das Zitat bringt den Zusammenhang zwischen Kunst und Revolution auf den Punkt. Beiden gemeinsam ist die Ablehnung der bürgerlichen Gesellschaft in einer kapitalistischen Weltordnung und aller damit verbundenen Ausbeutungs- und Unterdrückungsmechanismen. Treibende Kraft sowohl für künstlerisches als auch politisch revolutionäres Schaffen ist die Hoffnung auf eine bessere, freie Welt. Um dahin zu kommen, müssen Möglichkeiten ausgelotet und Grenzen überschritten werden. Hier liegt die besondere Rolle von Kunst: nicht nur im Bestehenden denken, sondern darüber hinaus – Was wäre, wenn?

Die Suche nach Wahrheit

Marx schrieb 1854, dass Romanschriftsteller_innen, wie Dickens oder Brontë, „der Welt mehr politische und soziale Wahrheiten vermitteln, als alle Berufspolitiker, Publizisten und Moralisten zusammengenommen von sich gegeben haben.“ „Wahrheit“ ist das Stichwort. Vor allem die Avantgarde-Bewegungen des 20. Jahrhunderts sahen darin ihr zentrales Schaffensmoment. Sie bezogen sich neben Marx auch auf Nietzsche und Freud – die Denker der sogenannten „Hermeneutik des Verdachts“, der Interpretation des Zweifelns.

Marx deckte mit seiner Kapitalanalyse das Ausbeutungsverhältnis im Kapitalismus auf. Nietzsche begrub mit dem Glauben an ein höheres Wesen („Gott ist tot“) gleich alle Wert- und Moralvorstellungen mit. Die Leerstelle müsse der orientierungslos zurückgebliebene Mensch nun zu füllen versuchen. Und Freud, Begründer der Psychoanalyse, brachte das Verdrängte, Unbewusste ins Spiel und zeigte, dass unter der Oberfläche der Wahrnehmung mehr steckt. Zusammengefasst: Der moderne Mensch lebt in einer Welt des bloßen Scheins.

Der Angelus Novus von Paul Klee war für Walter Benjamins Kulturphilosophie eine wichtige Anregung. Foto: Wikipedia Commons

Diesen Schein aufzudecken, muss heißen, den Vorhang der heilen Welt beiseiteschieben und das Grauen dahinter zum Vorschein bringen. Zeigen, dass die erdrückenden gesellschaftlichen Verhältnisse nicht naturgegeben, sondern Ergebnis eines von (den herrschenden) Menschen gelenkten Prozesses sind. Nicht zuletzt die Erfahrung des Ersten Weltkriegs zeigte, dass der Glaube an einen damit verbundenen Fortschritt ein Irrglaube ist. Dass technische Neuerungen nicht nur die Lebensbedingungen vereinfachen, sondern auch die Kriegsführung perfektionieren können.
Walter Benjamin, einer der bedeutendsten Kulturphilosophen des 20. Jahrhunderts, beschrieb dies in Bezug auf ein Bild von Paul Klee, dem Angelus Novus. Dieser „Engel der Geschichte“ würde, statt freudig in die Zukunft zu schreiten, rückwärts stolpern. Vor sich, also in der Vergangenheit, lägen Zerstörung und Leid – die Trümmer der Geschichte.

Hoffnung auf Freiheit

Was also soll Kunst in einer solchen Welt leisten? Einfach weiter das Schöne darzustellen, würde bedeuten, die Gegebenheiten zu akzeptieren, ja gutzuheißen. Will man die Verhältnisse aber ändern, so muss das heißen, diese Gesellschaft zu bekämpfen, die Geschichte hinter der Geschichte zum Vorschein zu bringen, die Wahrheit hinter der Lüge.

Dieser Anspruch des Kampfes steckt schon im Wort Avantgarde (Vorhut). Ursprünglich aus dem Militärischen stammend heißt es, führende Speerspitze zu sein. Den verschiedenen Strömungen, wie Dadaismus und Surrealismus, gemeinsam ist der Hass auf die verlogene bürgerliche Gesellschaft. Nicht zufällig sind die meisten Vertreter_innen der maßgeblich Kunstgeschichte schreibenden Avantgarde politisch im Kommunismus zu verorten. Oft waren sie selbst Ausgestoßene, weil sie nicht dem bürgerlichen Ideal entsprachen – wie Oscar Wilde, der aufgrund seiner offenen Homosexualität im Gefängnis landete. Die Hoffnung auf Erfüllung des Wunsches nach Freiheit liegt in der Veränderung der Gesellschaft. Die Verbindung liegt auf der Hand: Sowohl Kunst als auch Kommunismus haben als Ziel eine befreite Gesellschaft vor Augen.

Marx schreibt im Kapital, dass die Personen im Kapitalismus sich nur als „Charaktermasken“ gegen­übertreten, d.h. als Personifikationen der öko­nomischen Verhältnisse. Der Mensch ist nicht Subjekt, sondern nur eine gesellschaftliche Rolle. Der einzelne Mensch dahinter ist austauschbar. Interessant ist erstens, dass Marx diese Formulierung aus der Kunst übernommen hat (im Theater stellen Masken bestimmte Personentypen dar), und zweitens, dass das Symbol der Maske als Verkörperung der Entfremdung in der Kunst zentrales Mittel ist.

Dada und Surrealismus

Im Cabaret Voltaire – 1916 in der Züricher Spiegelgasse eröffnet – führten die Dadaisten die Kunst ad absurdum. Hier kehrte die Maske als das Fremde schlechthin immer wieder, sie diktiert die Handlung. In ihrer Übertreibung des Maskenspiels rufen die Dadaisten auf zur Demaskierung der zur Norm erstarrten Lügen.

Andrè Breton, Kopf der Surrealisten (1924). Foto: Wikipedia Commons

Die Berliner Dadaisten formulierten in ihrem Manifest unter anderem: „Der Dadaismus fordert die internationale revolutionäre Vereinigung aller schöpferischen und geistigen Menschen der ganzen Welt auf dem Boden des radikalen Kommunismus.“

Ebenso wie die Charaktermaske als sich real manifestierter Schein entlarvt werden soll, soll auch die Kunst an sich als Kunst vor die Menschen treten, und nicht den Anschein erwecken wollen, Wirklichkeit zu sein. Die Künstler_innen wendeten sich ab von der naturalistischen Darstellung der verhassten Wirklichkeit. Mit der Kunst als Erholung – um gestärkt in den neuen Arbeitstag zu starten – soll Schluss sein.

Auch der Surrealismus will die gesellschaftliche Erstarrung aufbrechen. Der kalten, rationalisierten Welt sollen neue Gefühle eingehaucht werden, der in der Aufklärung verdampfte Zauber soll von Neuem Einzug in das Leben der Menschen halten. In der Zeitschrift La Revolution Surrealiste heißt es dann auch, der Surrealismus sei „ein Glaube nicht nur an die Revolution, sondern auch an die Liebe.“ In den Manifesten des Surrealismus beschrieb Breton die Bewegung als eine sozial-revolutionäre: „Marx sagt, die Welt verändern. Rimbaud (Schriftsteller, Anm.) sagt, das Leben verändern.“ – Der Surrealismus sei die Synthese dieser beiden Ideen, er bekenne sich zur „sozialen wie zur psychischen Revolution.“

In Bezugnahme auf Freud sind die zentralen Themen des Surrealismus die Befreiung der unbewussten Lust und der Phantasie, das Wandeln im Traumreich – das Erstaunliche ins Leben zurückholen. Die gesellschaftlich Verdrängten treten nun in den Mittelpunkt: Geisteskranke, Verbrecher, Verrückte – all jene, die nicht der bürgerlichen Norm entsprechen. Damit verbunden ist die Faszination für abseitige Orte, wo sich die Lügen der Gesellschaft manifestieren. Prostitution ist dabei ein wiederkehrendes Thema – das Sinnbild für die heuchlerische, alles zur Ware machenden Welt.

Hugo Ball, Mitbegründer der Dada-Bewegung, im Cabaret Voltaire, Zürich 1916. Foto: barriochino

Auch Drogenexperimente spielen eine große Rolle: dem bloßen Funktionieren dionysische Rauscherfahrungen entgegensetzen (von Dionysos, dem griechischen Gott des Rausches; im Gegensatz zu Apollon, dem Gott der Vernunft).

Russische Revolution

Der Anfang des 20. Jahrhunderts war auch eine Zeit des Neubeginns. Revolutionen erschütterten die alte Ordnung, Monarchien brachen zusammen und machten Platz für neue Hoffnung. Mit der anfangs sehr erfolgreichen russischen Revolution eröffnete sich mit radikalen gesellschaftlichen Umwälzungen, wie der Gleichstellung von Mann und Frau, die Möglichkeit der freien künstlerischen Entfaltung. Was zuvor nur den zahlungskräftigen bürgerlichen oder adeligen Schichten vorbehalten war, öffnete sich jetzt auch für Arbeiter_innen und Bäuer_innen. Überall bildeten sich Lesezirkel, Laienchöre und -theatergruppen.

Der Hunger der Massen nach Kultur war groß: Im Oktober 1917 versammelten sich ca. 40.000 Arbeiter_innen in Petrograd, um den Vorträgen des späteren Bildungsministers, Anatoli Lunatscharski, über Shakespeare und das griechische Drama zu lauschen.

Das Theater nahm einen besonderen Stellenwert ein, vor allem aufgrund seiner Mündlichkeit und Bildlichkeit. Das war von Vorteil, weil wegen des Kriegs Papier knapp und der Großteil der Bevölkerung Analphabeten war. Ziel war zum einen, allen Menschen Zugang zu Kultur zu ermöglichen, zum anderen auch politische Aufklärung. Ein Beispiel ist die „Lebende Zeitung“, Theatergruppen, die auf der Bühne Zeitungsartikel vorlasen und z.B. pantomimisch begleiteten.

Mit der Revolution begannen radikale Alphabetisierungsmaßnahmen. Der US-amerikanische Journalist John Reed schrieb in Zehn Tage, die die Welt erschütterten: „Ganz Russland lernte lesen […]. Der Drang nach Wissen, so lange unterdrückt, brach sich in der Revolution mit Ungestüm Bahn … Russland saugte den Lesestoff auf, unersättlich, wie heißer Sand das Wasser. Und es waren nicht Fabeln, die verschlungen wurden, keine Geschichtslügen, keine verwässerte Religion oder der billige Roman, der demoralisiert – es waren soziale und ökonomische Theorien, philosophische Schriften, die Werke Tolstois, Gogols und Gorkis.“

Die zum Teil schon vor der Revolution bestehende Avantgarde, wie etwa der russische Futurismus, unterstützte zu einem Großteil die Bolschewiki. Der Regisseur Meyerhold etwa rief in Anlehnung an die Oktoberrevolution den „Theateroktober“ aus. Er wollte das Theater zur Plattform für revolutionäre Ideen machen.

Marc Chagall, expressionistisch-kubistischer Maler, begrüßte die Revolution ebenfalls begeistert. Als Kommissar für die Schönen Künste und Gründer einer neuen Kunstschule hatte er maßgeblichen Einfluss auf die Szene und arbeitete mit vielen bekannten Künstler_innen der russischen Avantgarde, wie z.B. Kasimir Malewitsch, zusammen.

Proletkult

Über den Anspruch einer neuen, revolutionären Kunst teilten sich die Meinungen, die sich grob einteilen lassen anhand der Frage, ob Kunst unabhängig oder ein politisches Instrument sein soll. Für letzteres stand die „Proletarische Kultur“, kurz „Proletkult“. Deren führender Theoretiker Bogdanov forderte, dass diese neue Kultur nur von den Arbeiter_innen selbst verwirklicht werden könne. Inhaltlich sollten nicht einzelne Helden im Mittelpunkt stehen, sondern die Masse der Arbeiter_innen als Kollektiv. Als Bühne dienten öffentliche Plätze oder Industrie-Areale.

Zum Ausdruck kam dies vor allem in den Massentheateraufführungen. Tausende Menschen beteiligten sich z.B. an dem Stück „Erstürmung des Winterpalasts“. Die Blütezeit dieser Masseninszenierungen war 1918-1920, als die revolutionäre Euphorie groß war. Mit den Entbehrungen des Bürgerkriegs ließ diese jedoch nach und die Kunst wurde mehr und mehr wieder zum Propagandainstrument. Deutlich wird das an einem Foto des genannten Spektakels. Jahre später wurde es als Originalbild von 1917 ausgegeben, aus der ursprünglichen Fotografie wurden Zuschauer_innen und Regisseure entfernt – die Revolution selbst wurde zum Theater. Unter der von Stalin orchestrierten Konterrevolution trat an die Stelle der freien Kunst das Diktum des „Sozialistischen Realismus“.

Theateraufführung „Erstürmung des Winterpalasts“, 1920. Foto: Kulturblog Twitter

Die Ablehnung jeder bürgerlichen Kultur durch den „Proletkult“ stieß etwa bei Trotzki von Anfang an auf vehemente Kritik. In seiner bahnbrechenden Schrift Literatur und Revolution schreibt er: „Wollte man aus lauter Opposition gegen die kontemplative, impressionistische, bourgeoise Kunst der letzten Jahrzehnte die Kunst als Mittel der Darstellung, als anschauliche Erkenntnis ablehnen – es hieße wahrhaft der Klasse, die eine neue Gesellschaft aufbaut, ein Instrument von allergrößter Wichtigkeit aus der Hand schlagen.“

Kunst als politische Rebellion

Was die Anfangszeit der russischen Revolution beispielhaft zeigte – was in einer von Unterdrückung und Ausbeutung befreiten Gesellschaft möglich ist – war und ist Ziel aller progressiven künstlerischen Bewegungen.

Peter Weiss schreibt im zweiten Band seines Romans Die Ästhetik des Widerstands: „Seit dem Frühjahr Sechzehn beherbergte die Spiegelgasse die ganze Revolution, denn nun war auch Lenin dort eingezogen. […] Hoch oben an der buckligen Gasse, da fand das Planen statt, tief unten, da entlud sich die phantastische Unvernunft. Die Spiegelgasse wurde zum Sinnbild der gewaltsamen, doppelten, der wachen und der geträumten Revolution.“

Weiss bezieht sich auf die Züricher Dadaisten, und fasst zusammen, was Revolution und Kunst zusammenschweißt. Kunst kann Alternativen zum Bestehenden denken und verkrustete Weltanschauungen aufbrechen. Die soziale Veränderung braucht es, um die in der Kunst entworfenen Utopien umsetzen zu können. Solange nicht die Verhältnisse so sind, dass alle Menschen sich zu künstlerischen Genies aufschwingen könnten, wird die Kunst das Bestehende herausfordern.