Österreich muss als 14. reichstes Land viel mehr Flüchtlinge aufnehmen

Bundeskanzler Sebastian Kurz stellt sich vehement gegen die Aufnahme von Flüchtlingen aus Griechenland und der Türkei. Wir hätten in den letzten Jahren bereits so viel „geleistet“, sagt Kurz, der selbst nichts getan hat, sondern die Zivilgesellschaft. Würde seine Aussage stimmen, hätte Österreich als eines der reichsten Länder der Welt alle von der UNHCR anerkannten Flüchtlinge aufnehmen müssen, um auf dieselbe Leistung zu kommen, wie die Spitzenreiter Südsudan, Uganda, Tschad und Sudan. Ein Faktencheck.
9. März 2020 |

Kanzler Sebastian Kurz wiederholt mantraartig, dass Österreich in den letzten fünf Jahren 200.000 Menschen aufgenommen hat und das Land nicht mehr Flüchtlinge verkraften würde. In der ORF-Pressestunde am Sonntag sagte er: „Wir haben damit mehr geleistet, als fast alle anderen Länder dieser Welt und in der Europäischen Union.“ Zunächst sei vorangestellt: Wir sind grundsätzlich der Meinung, dass jeder Mensch das Recht hat, dorthin zu reisen und sich niederlassen, wo er oder sie will. Wir wollen uns die Zahlen, mit den Kurz um sich wirft, dennoch genauer anschauen.

Mehrheit bekommt Asyl

Im Zeitraum 2015-2018, so die aktuell verfügbaren Zahlen des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR), haben weltweit 9.112.724 Menschen einen Asylantrag gestellt. In Österreich waren es 165.897 Menschen, das deckt sich auch mit der Statistik des Innenministeriums (dieses spricht von 169.106 Asylanträgen). Addiert man die Anträge des Jahres 2019 hinzu, kommt man auf 181.617 und damit Kurz’ Behauptung ziemlich nahe.

Pro einer Million Einwohner gerechnet ist Österreich damit mit den Asylanträgen auf Platz 7 weltweit, nach Serbien und dem Kosovo, Ungarn, Schweden, Malta, Deutschland und Griechenland.

Betrachtet man die letzten 19 Jahre (diese Zahlen sind von UNHCR verfügbar), ist Österreich sogar auf Rang 6 bei den Asylanträgen.* Beinahe eine halbe Million Menschen beantragte Asyl, im Schnitt also über 25.000 pro Jahr. Davon wurden nur 29 Prozent abgelehnt. Die meisten Antragsteller_innen kamen aus Afghanistan, Tschetschenien, dem Irak, Kosovo und aus Syrien.

Reichtum als Maßstab

Wirklich aussagekräftig ist der Ländervergleich über die Asylzahlen pro Kopf allerdings nicht. Richtig wäre es, den Wohlstand eines Landes (Bruttoinlandsprodukt) als Maßstab zu nehmen, immerhin profitieren österreichische Unternehmen und der Staat seit Jahrzehnten in einer neokolonialen Welt über Billigproduktion und Absatzmärkte in Entwicklungsländern. Sie zerstören den Menschen die Lebensgrundlage, liefern Waffen, die in Bürgerkriegen zehntausende Menschen dahinraffen, und zwingen damit Menschen auf die Suche nach einem Ausweg aus der Hölle.


Österreich ist das 14. reichste Land der Welt. Bei den Asylanträgen pro Wirtschaftleistung sind wir allerdings nur auf Platz 40 für den Zeitraum 2015-2018 und gar auf Rang für 46 für die letzten 19 Jahre, zeigen Recherchen von Linkswende jetzt. Wir müssten also viel mehr Menschen Schutz geben, wenn Kurz’ „Leistung“ stimmen soll.

Alle UNHCR-Flüchtlinge aufnehmen

2018 hatte Österreich nach UNHCR-Definition insgesamt 128.769 Schutzberechtigte aufgenommen, pro Einwohner reichte das global gesehen gerade für Platz 14 (der Libanon nimmt 11 Mal so viele Flüchtlinge auf, wie Österreich, siehe Grafik unten). Auf die Wirtschaftsleistung bezogen ist das Resultat allerdings noch einmal schlechter, Österreich liegt hier nur auf Platz 56 (248 Flüchtlinge pro Mrd. Euro Wirtschaftsleistung). Um auf die Werte der Spitzenreitern Uganda, Tschad, dem Sudan und Südsudan (rund 40.000 Flüchtlinge pro Mrd. Euro) zu kommen, müsste Österreich über das Doppelte seiner Bevölkerung, etwa 20 Millionen Menschen, zusätzlich aufnehmen. Das wären alle von UNHCR anerkannten Flüchtlinge.

Das 14. reichste Land der Welt Österreich liegt auf Platz 14 der weltweit aufgenomenen Flüchtlinge pro Einwohner_innen, aber nur auf Rang 54 bezogen auf seinen Reichtum. Um auf denselben Wert wie die Top-Länder zu kommen, müsste Österreich sofort alle von der UNHCR anerkannten 20 Millionen Flüchtlinge aufnehmen. Quellen: UNHCR, Internationaler Währingsfonds. Grafik: Linkswende jetzt

Insgesamt sind die Antragszahlen in den letzten Jahren stark gesunken, weil sich die reichsten Staaten zunehmen vor den Folgen ihrer imperialististischen und klimafeindlichen Politik abschotten. Die Anträge sind in Österreich so niedrig wie seit über 20 Jahren nicht mehr. 2019 wurde nur durch die Jahre 2007 und 2010 unterboten. Die Zahl der offenen Verfahren (27.156) ist 2019 unter die des Jahres 2014 gesunken (31.338). Von einer angeblichen Überforderung, von der Kurz spricht, kann keine Rede sein.

Millionen kommen?

Der Kanzler schürt dennoch in militärischem Ton Panik. Sollte die Grenze „fallen“, so Kurz, würden „Millionen gewaltbereiter Migranten“ in das Land einfallen. Die Neonazis der „Identitären“ behaupten im Gleichklang mit Kurz, dass 4,7 Millionen Migranten nur darauf warten würden, nach Europa zu kommen.

Noch nie waren so viele Menschen weltweit auf der Flucht. Über 70,8 Millionen Menschen wurden aus ihrer Heimat vertrieben, 20,4 Millionen davon fallen unter das Mandat der UNHCR. Ein Drittel kommt aus Syrien, 13 Prozent aus Afghanistan und 11 Prozent aus dem Südsudan. Alleine in den letzten drei Monaten mussten in der syrischen Region Idlib beinahe eine Million Menschen vor dem entsetzlichen Stellvertreterkrieg zwischen der Türkei, Russland und anderen Regional- und Großmächten fliehen, die Hälfte davon Kinder. Und die Internationale Organisation für Migration (IOM) schätzt, dass bis 2050 bis zu einer Milliarde Klimaflüchtlinge hinzukommen könnten. Die Mehrheit dieser Menschen sind Teil der globalen Arbeiter_innenklasse, und wir werden sie willkommen heißen, wenn sie sich entscheiden, zu uns zu kommen.

Letzte Option

Aber wir sollten trotzdem auch einen realistischen Blick auf die Motive der Menschen hinter den Zahlen haben. Die meisten Flüchtlinge (85 Prozent weltweit) bleiben in der Nähe eines Konflikts – in der Hoffnung auf eine Befriedung und mögliche Rückkehr. Von 7,6 Millionen syrischen Flüchtlingen leben 81 Prozent in nur vier Nachbarländern: 3,6 Millionen Syrer_innen leben in der Türkei, eine Million im Libanon, 680.000 in Jordanien und 250.000 im Irak. Dennoch tut der Kanzler so, als wären diese Menschen alle in Österreich.

Allerdings, je länger ein Konflikt andauert, desto mehr Menschen werden sich nach anderen Perspektiven umsehen – und selbstverständlich ist der Weg in den reicheren „Norden“ eine völlig legitime Option. Nach Jahren der Tortur und rassistischen Hetze gegen Araber im Land am Bosporus sind nur mehr sechs Prozent der Syrer_innen in der Türkei bereit, zurück in eine „Sicherheitszone“ in Syrien zu gehen, ein Viertel verweigert unter allen Umständen die Rückkehr. Es ist ihr Recht, dorthin zu gehen, wo sie in Sicherheit und Würde leben können.

Mehrheit will helfen

UNHCR appelliert, unmittelbar 1,4 Millionen Menschen in Resettlement-Programmen aufzunehmen. Das wäre leicht möglich. Und die Front der Aufnahme-Verweigerer in der Europäischen Union (EU) bröckelt. Die deutsche Regierung hat bereits angekündigt, bis zu 1.500 Kinder aus den griechischen Lagern aufzunehmen. Das verhältnismäßig kleine Albanien hat bereits begonnen, die ersten von weiteren 30.000 Flüchtlingen aufzunehmen. Auch in Österreich haben sich zahlreiche Bürgermeister_innen und grüne Landeschefs zur Aufnahme von Flüchtlingen bereit erklärt. Die Solidaritätsbewegung und die „Nachbar in Not“-Mentalität ist in Österreich noch immer da, wir müssen sie nur wieder sichtbar machen.

Das Nachrichtenmagazin profil veröffentlichte aktuell eine Umfrage, wonach 31 Prozent der Befragten sagen, dass Österreich gemeinsam mit anderen EU-Ländern Flüchtlinge aufnehmen sollte, 61 Prozent sind dagegen. Eine überwältigende Mehrheit von 66 Prozent der Österreicher_innen sagte hingegen im Herbst in einer Umfrage der Europäischen Kommission, dass man Flüchtlingen helfen sollte, nur 28 Prozent waren dagegen, der Rest enthielt sich.

Das zeigt, wie kurzlebig Stimmungen sein können. Wichtig ist daher, dem Bundeskanzler mit den richtigen Fakten zu kontern und laut und selbstbewusst als Zivilgesellschaft aufzutreten: Ja, wir haben Platz und wir werden Flüchtlinge in Österreich willkommen heißen. Eine gute Gelegenheit, die solidarische Mehrheit zu mobilisieren, gibt es am Samstag, 21. März, bei der Demonstration am UN-Tag gegen Rassismus in Wien. 2015 kann und muss sich wiederholen!

Demonstration am UN-Tag gegen Rassismus, 21. März 2020,
14:00 Uhr, Karlsplatz Wien.
*Hinweis: Der Inselstaat Nauru, der für Australien
als Gefängnisinsel für Flüchtlinge fungiert und bei den Asylanträgen in den
letzten 19 Jahren auf Platz 1 kommen würde, wurde exkludiert, da die im
Verhältnis zur Gesamtbevölkerung hohen Asylantragszahlen nur aus der
jahrelangen Folter resultieren.