Victor Serge: Das Jahr Eins der Revolution
Victor Serge, geboren am 30. Dezember 1890 in Brüssel als Wiktor Lwowitsch Kibaltschitsch, gelangte 1919 nach mehreren gescheiterten Anläufen nach Russland, wo er bis 1936 blieb, und warf sich sofort mit vollem Elan in die Geschehnisse. Er begann als Schulinspektor für das neue Schulwesen zu arbeiten und wurde bald als Übersetzer und Organisator für die Bolschewiki (soeben in Kommunistische Partei Russlands umbenannt), bzw. der internationalen Organisation Komintern tätig. Er heiratete Ljuba Russakowa, ebenfalls eine Exilrussin, die er auf dem Schiff nach Russland kennengelernt hatte.
Sie kamen mitten im Bürgerkrieg an, der Millionen Russen das Leben kosten würde. Die junge Sowjetrepublik war auf scheinbar aussichtlosen Posten. Den Konterrevolutionären kamen 14 ausländische Mächte zu Hilfe, ihre Ressourcen schienen unbegrenzt. In Russland dagegen herrschte Hungersnot und seine Armee hatte sich aufgelöst. Serge erlebte, und beschrieb eindrucksvoll, wie die Bolschewiki und allen voran die revolutionären Arbeiter_innen, gegen eine erdrückende Übermacht und allen Widrigkeiten zum Trotz, eine stehende rote Armee aufbauten. Russlands unendliche Landmasse zu verteidigen, als die konterrevolutionäre Truppen die transsibirische Eisenbahn und beinahe alle entlegenen Häfen kontrollierten, war ein Kunststück der revolutionären Kriegsführung.
Allerdings war diese Epoche des so genannten Kriegskommunismus auch besonders umstritten. Sie begann mit den Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk. Die Verhandlungsgegner Deutschland, Österreich, Rumänien und das Osmanische Reich überrannten nach dem Friedensangebot die Regionen mit den meisten Getreide- und Rohstoffreserven, die Ukraine und den Kaukasus. Serge beschreibt, welche Schwierigkeiten Lenin hatte, den linken Flügel der Partei im Zaum zu halten, der lieber einen glorreichen und tödlichen Krieg weitergeführt hätte, als einen so teuren Frieden zu erkaufen. Er schildert ausgiebig, wie Lenin sich in der Partei in der Minderheit fand und unterstützt von den realen Entwicklungen die Linksradikalen umstimmen und in der Partei halten konnte. Lenin musste entgegen den Mythen über ihn, nur allzu oft gegen den Strom schwimmen. Lieber hätte er Leningrad und Moskau an die Deutschen verloren als die Revolution in einem Krieg gegen die Deutschen komplett zu verlieren. „Wir werden durchhalten! Wenn nötig, werden wir uns … bis in die Kamtschatka zurückziehen, aber wir werden durchhalten!“
Der Bürgerkrieg begann in Finnland. Konterrevolutionäre Truppen massakrierten alle „Roten“, derer sie habhaft werden konnten. Mehr als 100.000 Menschen wurden bestialisch ermordet, ein Viertel der Arbeiterschaft. Serge erklärt: „Die siegreichen besitzenden Klassen sind sich vollkommen bewusst, dass sie ihre eigene Herrschaft nach einem sozialen Kampf nur sichern können, indem sie der Arbeiterklasse ein Blutbad zufügen, das grausam genug ist, um sie danach für Dutzende von Jahren zu entkräften.“ Serge zitiert Larissa Reissner, eine Kämpferin der Roten Armee, die ein Jahr später an der entscheidenden Schlacht von Swijaschsk teilnahm: Dramatisch unterlegen hielten sie Front, praktisch ohne schweren Waffen, aber unfassbar motiviert und todesmutig: „der Verteidiger von Swijaschsk würde grinsend auf die Uhr schauen und sich sagen: „Um 03.00 Uhr, oder um 04.00 Uhr, oder um 06.20 Uhr bin ich noch am Leben, dann hält auch Swijaschsk durch.“ Victor Serge schrieb weiter unermüdlich Bücher. Als er von Stalin verfolgt wurde, schrieb er Romane, darunter Die große Ernüchterung. Der Fall Tulajew, das die Diktatur Stalins aufs Korn nimmt und Schwarze Wasser, „ein Roman über Revolution, Liebe und Verbannung, 1936–1938“. Serge starb völlig verarmt 1947 in Mexiko, wo er mithilfe von Trotzkis Witwe Natalia Sedowa seine politische literarische Arbeit fortsetzen konnte.