100 Jahre Russische Revolution: Festival der Unterdrückten!

Rechte Historiker beschreiben die Russische Revolution von 1917 als einen Putsch der Bolschewistischen Partei. Sie wird als totalitäre, antidemokratische Minderheit dargestellt, die den Massen ihren Willen aufgezwungen hat. Nach dieser Auffassung der Revolution war der Stalinismus die unausweichliche Konsequenz der Machtübernahme durch die Arbeiter_innen und der Rolle der revolutionären Partei der Bolschewiki unter Lenin. Für die Sozialist_innen von heute ist es wichtig, das richtig zu stellen, denn die Realität war eine völlig andere.
6. April 2017 |

Die Russische Revolution von 1917 war kein antidemokratischer, totalitärer Putsch, sondern der Ausbruch von radikaler Demokratie und das Erblühen des Potentials gewöhnlicher Menschen. Sie erlaubte uns einen Blick für die Möglichkeiten einer vollkommen anderen Gesellschaftsform.

Es waren die Arbeiterinnen, die 1917 am Internationalen Frauentag aufmarschierten, und so die Februarrevolution auslösten. Wie Leo Trotzki, eine der führenden Figuren in der Revolution, später in seinem Meisterwerk Die Geschichte der Russischen Revolution über den 23. Februar (8. März nach westlichem Kalender) schreibt:

„Die Tatsache bleibt also bestehen, daß die Februarrevolution von unten begann nach Überwindung der Widerstände der eigenen revolutionären Organisationen, wobei die Initiative von dem am meisten unterdrückten und unterjochten Teil des Proletariats, den Textilarbeiterinnen spontan ergriffen wurde“

Textilarbeiterinnen stürmen voran

Historikerin Barbara Evans Clements beschreibt, wie an diesem Tag Arbeiter_innen „aus ihren Arbeitsstätten und Häusern strömten, nach Brot und einem Ende des Krieges verlangten und, als sie an Fabriken und Wohnhäusern vorbeikamen, die Menschen im Gebäude aufforderten, sich ihnen anzuschließen. Polizei blockierte die Brücken in Richtung Stadtzentrum, also rutschten die Frauen die Böschung zum Flussufer hinunter und gingen über das Eis.“ Frauen warfen Steine und Schneebälle an Fabriksfenster und verlangten, dass die Arbeiter_innen mit ihnen hinaus auf die Straße gehen.

Tomsker Eisenbahner_innen feiern in Sibirien den Sieg der Februarrevolution 1917. Auf Transparenten wird der 8-Stunden-Tag gefordert.

 

Die Bolschewiki hatten gedacht, dass die Zeit noch nicht reif war, doch die Stimmung griff um sich und bald waren alle auf den Straßen, und so begann die Revolution. Wenn die Arbeiter_innenklasse in Bewegung kommt, fallen revolutionäre Parteien manchmal hinter die Klasse zurück, doch sie engagierten sich schnell in dem Aufstand.

Binnen einer Woche waren der Zar und seine Diktatur gestürzt. Aber der Kampf war nicht nach einem Tag oder gar einer Woche vorüber. Eine Revolution ist kein Ereignis, sie ist ein Prozess. Viele gehen davon aus, dass eine Revolution der Punkt ist, an dem es zur bewaffneten Machtübernahme kommt. Das ist ein entscheidender Moment, aber in Russland im Jahr 1917 geschah das erst nach über sechs Monaten.

Arbeiter errichten Sowjets

Die Februarrevolution explodierte als eine großartige soziale Bewegung von unten mit einfachen Forderungen: Brot, Frieden und Land. Diese Forderungen konnten aber nicht erfüllt werden, ohne die Gesellschaft komplett auf den Kopf zu stellen. Neben der Wahl einer provisorischen Regierung kam es auch zu Revolten, in denen Arbeiter_innen und Bauernschaft zu den handelnden Subjekten der Geschichte wurden. Die Erfahrungen aus der Revolution von 1905 waren in Erinnerung geblieben, auch nach den dunklen Jahren nach ihrem Niedergang. Massenstreiks und das Schaffen von Arbeiter_innenräten („Sowjets“), die zur neuen Basis politischer Macht geworden waren, wurden in den revolutionären Tagen von 1917 wiederbelebt.

Als Lenin im April aus dem Exil zurückkehrte, erkannte er die Sowjets als den Keim einer Doppelherrschaft und zum Entsetzen mancher seiner Genoss_innen forderte er (unter anderem in den berühmten Aprilthesen): „Nieder mit der Übergangsregierung!“ Das hielt die Bolschewiki nicht davon ab, die provisorische Regierung gegen die Konterrevolution zu verteidigen oder gegen ihren verfrühten Sturz zu argumentieren. Sie verhinderten im August einen versuchten Putsch des „weißen“ Generals Kornilow, der erklärt hatte: „Selbst wenn wir halb Rußland niederbrennen und das Blut von drei Vierteln der Bevölkerung vergießen müssen, wir werden es tun, wenn es zu Rußlands Rettung notwendig sein sollte.“

Frauen im Zentrum

Wie bei jeder ernsthaften Revolution, wurde die Russische Revolution zu einem Festival aller Unterdrückten. Hunderttausende arme Arbeiter_innen und Bauern, die meist Analphabeten waren und glaubten, ihr hartes Leben sei durch einen unveränderlichen Gott bestimmt, lernten das Lesen und Schreiben und beteiligten sich an den großen Debatten des Tages.

Sie übernahmen nicht nur die Kontrolle über ihr eigenes Leben, sie füllten auch die öffentlichen Plätze, um sich alles von griechischen Dramen bis Poesie anzusehen. Frauen, der am schlimmsten unterdrückte Teil der Bevölkerung (in manchen Gegenden war es legal, wenn Männer ihre Frauen mit der Peitsche schlugen), strömten in die revolutionäre Bewegung.

Den Bolschewiki war von Beginn an klar, dass es für den Erfolg entscheidend war, die Frauen für die Revolution zu gewinnen. Das bedeutete in erster Linie, die materielle Grundlage für Frauenunterdrückung aufzubrechen, die Knochenarbeit der privatisierten Hausarbeit.

Der Stolz der Revolution

Die Bolschewiki schufen auch eine spezielle Abteilung für die politische Arbeit unter Frauen, bekannt unter der Abkürzung „Zhenotdel“. Wenn Tinte und Papier vorhanden waren, wurde sogar eine Monatszeitung herausgegeben, die Kommunistka. Die Abteilung wurde von Inessa Armand geleitet und später von Alexandra Kollontai. Tausende Frauen meldeten sich, um mitzumachen – Zhenotdel-Freiwillige reisten tausende Kilometer und besuchten Fabriken und Dörfer, um für die Revolution zu werben. Sie nutzten „Agitzüge“ und „Agitschiffe“ wie die Roter Stern, die die Wolga rauf und runter fuhr, um abgelegene Orte zu erreichen.

Sie hatten kunstvolle Plakate und Sänger- und Tanzgruppen dabei; sie hielten Treffen ab, zeigten Filme und Theaterstücke und schufen „Lese-Hütten“ mit Tafeln, um das Lesen und Schreiben zu lehren. Sie reisten auch in die muslimischen Gebiete im Süden und trugen dabei oft Kopftücher, um sich unter die verschleierten Frauen mischen und mit ihnen arbeiten zu können.

Die Bolschewiki leiten trotz Bürgerkrieg eine Alphabetisierungskampagne ein.

 

Lenin zeigte seinen Stolz über die Fortschritte, die die Frauen in der Revolution bereits nach einem Jahr erreicht hatten (in Die große Initiative): „Nehmen wir die Lage der Frau. Keine einzige demokratische Partei der Welt hat in dieser Beziehung auch nur in einer einzigen der fortgeschrittensten bürgerlichen Republiken in Jahrzehnten auch nur den hundertsten Teil von dem geleistet, was wir gleich im ersten Jahr unserer Herrschaft geleistet haben.“

Er schrieb weiter: „Von den niederträchtigen Gesetzen über die Rechtsungleichheit der Frau, über die Beschränkungen der Ehescheidung, die schändlichen Formalitäten, an die sie geknüpft war, über die Nichtanerkennung der unehelichen Kinder, über die Nachforschung nach ihren Vätern usw. – Gesetzen, von denen es in allen zivilisierten Ländern zur Schande der Bourgeoisie und des Kapitalismus so zahlreiche Überreste gibt, haben wir im wahrsten Sinne des Wortes keinen Stein auf dem anderen gelassen.“

Als Trotzki gefragt wurde, ob es wahr sei, dass man sich im revolutionären Russland einfach auf Anfrage scheiden lassen konnte, antwortete er, „eine bessere Frage wäre: ist es wahr, dass es noch Länder gibt, wo das nicht der Fall ist?“ Zu den Errungenschaften der Revolution zählen:

  • Vollständige soziale und politische Gleichstellung der Frau
  • Das Recht, ein öffentliches Amt einzunehmen und das Wahlrecht für Frauen
  • Beide Ehepartner hatten das Recht, sich auf Antrag scheiden zu lassen
  • Das Prinzip gleichen Lohns für gleiche Arbeit
  • Bezahlte Karenz für vier Monate vor und nach der Entbindung sowie Kinderfürsorge auf staatliche Kosten
  • Die Legalisierung der Abtreibung, die auf Antrag in staatlichen Spitälern durchgeführt wurde
  • Die Entkriminalisierung von Homosexualität

Parteien im Praxistest

All das wurde in einem Land erreicht, in dem bis Februar 1917 unter dem Zaren die brutalste, rückschrittlichste und korrupteste Diktatur herrschte. Der Zar und seine Familie lebten in unvorstellbarem Reichtum und hatten die Alleinherrschaft. Die Arbeiter_innenklasse machte nur eine kleine Minderheit der Gesamtbevölkerung aus, obwohl Arbeiter_innen in manchen der größten Arbeitsstätten der Welt konzentriert waren. Der Großteil der Bevölkerung lebte als Bauern und Bäuerinnen unter Jahrhunderte alten Bedingungen der Leibeigenschaft. Gemeinsam mit russischen Arbeitern wurden sie im ersten Weltkrieg zu Millionen an die Front geschickt, um in diesem imperialistischem Massaker zu sterben. Sie wollten Frieden.

Verbrüderungen an der Front: russische, deutsche und österreichische Soldaten Arm in Arm.

 

Die Bolschewiki haben nicht einfach die Kontrolle über die Revolution übernommen, wie so oft behauptet wird. Die dominante Position, in der sie im Oktober 1917 waren, war das Ergebnis wahrer Demokratie im Herzen der Revolution. Organisationen wurden an ihrer Praxis in der Hitze des Gefechts gemessen. Die Bolschewiki kämpften für ihre Ideen und um die Führung.

In den Wahlen von 1917 wird der Einfluss des Kampfes deutlich: Beim Sowjetkongress im Juni 1917 erreichten die Sozialrevolutionäre 285 Abgeordnete, die Menschewiki 248 und die Bolschewiki nur 105. Doch im Zuge des revolutionären Prozesses entwickelte sich die Bolschewistische Partei zur Mehrheitspartei innerhalb der Arbeiter_innenklasse, wie die Wahl der Abgeordneten im Oktober zeigt: diesmal erreichten die Bolschewiki 390 Abgeordnete, während die Sozialrevolutionäre 160 und die Menschewiki 72 bekamen.

Revolution inspiriert die Welt

Bis Oktober wurde klar, dass die herrschende Klasse sich nicht länger halten konnte, sie war am zerfallen und die revolutionäre Bewegung war nicht aufzuhalten. Die Bolschewiki führten im Oktober den entscheidenden Schritt an, mit dem Arbeiter_innen die Macht übernahmen. Es war ein unblutiger, gut organisierter Aufstand. Tatsächlich starben bei der Produktion von Eisensteins Film Oktober (1928) mehr Menschen als in der Oktoberrevolution selbst.

Mit Hilfe der Millionen Bauern und Bäuerinnen, die sich überall in Russland das Land ihrer verhassten Grundherren aneigneten, kamen die Arbeiter_innen in der Oktoberrevolution an die Macht. Inmitten des imperialistischen Krieges, Ausbeutung und Knechtschaft war die Revolution ein Hoffnungsschimmer für Millionen Arbeiter_innen in ganz Europa. Obwohl vor der Zeit von Handys, Internet und Fernsehen, verbreiteten sich die Erfahrungen und Ideen der Bolschewiki und die Inspiration zur Revolution gegen Krieg und Tyrannei über Grenzen hinweg. Sie erreichten sogar die Schützengräben im Norden Frankreichs, wo Soldaten begannen gegen die Offiziere zu rebellieren. Die Meuterer wurden abfällig als „Bolschis“ bezeichnet.

 

Doch was folgte ist Stoff für einen anderen Artikel, denn der Ausblick auf eine sozialistische Gesellschaft hielt nur allzu kurz an. Die herrschenden Klassen Europas sahen ihren eigenen Reichtum und ihre Herrschaft bedroht und griffen den jungen Arbeiter_innenstaat an. Ein grausiger Bürgerkrieg führte zum Verlust einiger der engagiertesten und klassenbewusstesten bolschewistischen ­Arbeiter_­innen. Der Kern der treibenden Kräfte in der Revolution wurde im Kampf gegen die Zaristen und imperialen Mächte ausgelöscht.

Stalins Konterrevolution

Die Sowjetunion wurde zu etwas völlig anderem als eine sozialistische Gesellschaft, doch der endgültige Niedergang der Revolution war nicht unumgänglich. Wäre die Revolution in der Wirtschaftsmacht Deutschland erfolgreich gewesen, so wäre auch im wirtschaftlich schwächeren Russland ein dauerhafter Sieg möglich gewesen. Aber es sollte nicht sein. Stalins Aufstieg zur Macht war ein Zeichen, dass die Revolution zerschlagen war, er bedeutete die Konterrevolution. Um seine Macht zu sichern, musste er die gesamte alte bolschewistische Führung liquidieren.

Es war nicht die Revolution der Arbeiter_innen, die Stalins Tyrannei hervorbrachte. Sie wurde erst durch die Niederschlagung der Revolution ermöglicht. Eine herrschende Klasse, die ihren Sturz befürchtet, wird ihre Herrschaft verteidigen, Rache nehmen und versuchen jede Chance zukünftiger Revolten zu bekämpfen. Deswegen liegt es an den Sozialist_innen von heute, die Errungenschaften und das Potential des wichtigsten Kampfs des 20. Jahrhunderts zu feiern und Darstellungen anzufechten, die die Geschichte verfälschen.

Wie Stalin die Russische Revolution auslöschte

Wie Stalin die Russische Revolution auslöschte

Die Russische Revolution von 1917 ist der Beweis, dass eine andere Welt möglich ist. Alle Menschen, die Kapitalismus überwinden und für eine sozialistische Alternative kämpfen wollen, sollten stolz sein, sich „Bolschis“ zu nennen.

 

Judith Orr ist führendes Mitglied der Socialist Workers Party (SWP) in Großbritannien und Autorin von „Marxism and Women’s Liberation“. Sie spricht am antikapitalistischen Kongress Marx is Muss von 5. bis 7. Mai im Wiener Amerlinghaus. Das gesamte Programm findest du hier.
Der Verfasser/die Verfasserin hat den Artikel mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt.