Watschenmann: „Der Krieg war nur müde“
1954. Heinrich, eine kriegsgebeutelte Existenz, will der beste Watschenmann Wiens werden und den Menschen Krieg und Faschismus austreiben, die Aggressionen, die noch immer in ihnen schlummern. Nach dem Vorbild der Watschenmänner im Wiener Prater – mannsgroßen Figuren, die einen brummenden Ton von sich geben, wenn man sie ohrfeigt – stellt sich Heinrich eigene Regeln auf, provoziert die Menschen, fordert Prügel heraus, beschwört den Schmerz, denn „sonst hört das nie auf“. Nur die Österreicher müssen zahlen, denn sie haben die Zeit des Nationalsozialismus einfach bloß verdrängt.
Für den mittellosen Heinrich, beeindruckend dargestellt von Katharina Klar, der nach dem Krieg in einer Baracke bei der Prostituierten Lydia (Birgit Stöger) und dem Boxer Dragan (Rainer Galke) Unterschlupf findet, „hat der Krieg noch kein End’ gefunden, der tobt sich weiter aus. Und wenn sonst keiner kratzt an den Narben, Heinrich macht es selbst, bevor sie zuwachsen. Er glaubt den anderen den Frieden nicht. Späht hinein in ihre Seelen, wo Gewitter leuchten, die man nicht hört“, heißt es im Roman von Karin Peschka.
Vertuschen
Den Stoff haben nun Bérénice Hebenstreit (Regie) und Michael Isenberg (Dramaturgie) im Wiener Volx/Margareten (Margaretenstraße 166) auf die Bühne gebracht. Sie leisten damit einen essentiellen Beitrag zur Vergangenheitsbewältigung, die immer auch Gegenwartsbewältigung ist. Wer uns das Vergleichen verbieten will, wie das ÖVP-Kanzler Sebastian Kurz im Gedenkjahr 2018 getan hat, „der will uns verbieten, aus der Geschichte zu lernen“, sagte Michael Köhlmeier anlässlich einer Gedenkveranstaltung im Februar in Mauthausen.
Die Figur des „Lichterl-Sigi“ (Sebastian Klein) prahlt damit, eine ganz wichtige Rolle in der SS gespielt zu haben. Dass ihm niemand wirklich glaubt (weder die russischen Besatzungsbehörden noch, weniger überraschend, die einheimischen Wiener), wirft ein besonderes Schlaglicht auf die nie wirklich stattgefundene Entnazifizierung in Österreich.
Geschichtliche Funktion
1954 wird vom Literaturkritiker Anton Thuswaldner als ein „blinder Fleck“ in der österreichischen Literatur beschrieben. Zahlreiche Autoren blendeten nach dem Krieg die Gegenwart und jüngere Vergangenheit aus, ganz in dem Sinne, wie die Politik die „Stunde Null“ ausrief, einen voraussetzungslosen Neubeginn. Einer, der vehement gegen diese Verdrängung anschrieb, war der Holocaustüberlebende Jean Améry. Der Autor beschäftigte sich in dem Essayband Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten (1966) eingehend damit, ob und wie die schrecklichen Wunden des Nationalsozialismus verheilen können.
Amérys Ressentiment gegenüber dem deutschen Volk, hier gewissermaßen übertragbar auf das österreichische, solle eine geschichtliche Funktion ausüben: „Gestachelt von den Sporen unseres Ressentiments allein […], würde das deutsche Volk empfindlich dafür bleiben, dass es ein Stück seiner nationalen Geschichte nicht von der Zeit neutralisieren lassen darf, sondern es zu integrieren hat.“ Er sah die Aufgabe seines Ressentiments als Protest gegen das Zuschütten und Vergessen, als Nachholung der ausgebliebenen deutschen Revolution. Heinrich ist das Gewissen, wenn man so will, der österreichischen Mittäterschaft im Nationalsozialismus. Die Motive Heilung und Hoffnung ziehen sich durch die Thematik des Watschenmanns.
Randexistenzen
Dramaturg Michael Isenberg erzählte in der Stückeinführung am 12. Februar, wie schmerzhaft es war, das unglaublich vielfältige Panorama an eigenständigen Figuren aus Peschkas Roman auf einige der Randexistenzen, die das Überleben in der Nachkriegsgesellschaft trotz „Wirtschaftswunder“ lernen mussten, in der Bühnenfassung zu reduzieren. „Es bleibt immer jemand auf der Strecke, egal wie gut sich die Wirtschaft entwickelt“, sagte Peschka (geboren 1967) einmal im Rahmen einer Lesung.
Katharina Klar überzeugt in der Rolle des Heinrich, der mehr und mehr dem Wahnsinn verfällt; er geht dem Publikum unter die Haut, versucht einem selbst die Wut herauszukitzeln. Hristina Šušak überspielt mit kreischenden Geigen und ohrenbetäubenden Schlägen die Prügelszenen und lässt die Zuschauer_innen mitleiden. Um den Schmerz auszuhalten, stellt sich Heinrich vor, er wäre ein Rabe, und wird letztendlich zum Reptil, das der Gesellschaft die Zunge herausstreckt.
Anti-„Herr Karl“
Heinrich, der Watschenmann, ist so etwas wie eine Gegenfigur zum „Herrn Karl“ (1961) von den Kabarettisten Carl Merz und Helmut Qualtinger. Herr Karl war der typische Opportunist, der zuerst bei den Sozialisten war, nach 1934 zu den Heimwehren ging, sich dann den Nazis anbiederte, sich nach dem Krieg mit den russischen und amerikanischen Besatzern arrangierte und nach Abschluss des Staatsvertrages zu seinen österreichischen Wurzeln zurückfand. Während alle hungerten, habe er, der Herr Karl „immer alles gehabt“.
Heinrich erfüllt eine historische Funktion gegen die „Banalität des Bösen“ (Hannah Arendt), gegen die zur Normalität gewordene Ungeheuerlichkeit. Gerade in Zeiten, in denen die Grenzen dessen, was gesagt und getan wird, von rechtsextremen Parteien wie der FPÖ immer weiter verschoben werden, und das „offizielle Österreich“ sich mehr pflichtbewusst als ehrlich seiner Vergangenheit stellt, ist der Watschenmann ein verdammt notwendiger Weckruf an das Gute.
Nächste Spieltermine: 17. und 20. Mai, 12. Juni. Alle Infos unter volkstheater.at