10 Jahre Audimax-Besetzung: „Gesellschaft kann zum Besseren verändert werden“
Es ist Oktober 2019, der Audimax-Hörsaal der Universität Wien ist bis zum letzten Platz mit Klimaaktivist_innen gefüllt. Alle warten gespannt auf den Vortrag von Politikwissenschafter Ulrich Brand im Rahmen der Vorlesungsreihe „Klimawandel und Klimakrise“. Brand tritt ans Rednerpult, und erinnert, bevor er zum eigentlichen Thema kommt, dass er zum ersten Mal vor genau zehn Jahren im Audimax gelesen hat – nicht etwa in einer regulären Vorlesung, sondern zu den Besetzer_innen, die im Herbst 2009 beschlossen hatten, gegen das neoliberale (Aus-)Bildungssystem und seine Auswirkungen aufzustehen. Dafür bekommt er viel Applaus, obwohl die neue Generation, die heute den Klimaaufstand lebt, die Besetzung nur mehr vom Hörensagen kennt.
Niemand, wirklich niemand, hatte im Sommer 2009 vorausgesehen, was im Herbst über die Universitäten hereinbrechen sollte. Am 20. Oktober besetzten die Lehrenden und Studierenden der Akademie der Bildenden Künste in Wien aus Protest gegen die Einführung des Bachelor-Master-Systems und die Ökonomisierung der Bildung ihre Aula. Ihre Proteste hatten Vorbildwirkung: Zwei Tage später zog eine Demonstration von der Akademie, an der sich viele Studierende anderer Unis beteiligten, an der Universität Wien vorbei und besetzten spontan den größten Hörsaal – das Audimax.
Raum wieder angeeignet
Die Nachricht vom besetzten Audimax verbreitete sich wie ein Lauffeuer, innerhalb weniger Stunden waren mehrere hundert Studierende im Hauptgebäude der Universität. Die angerückte Polizei musste angesichts der Wucht der Bewegung wieder abziehen. Uns war klar, dass wir etwas „Großes“ begonnen hatten, eine echte Befreiung von den vorherrschenden gesellschaftlichen Zwängen versuchten. Wir haben uns öffentlichen Raum zurückgeholt und wieder demokratisiert (auch wenn viele damals dies noch nicht so genau zu benennen wussten). An dieser Stelle muss angemerkt werden: Der Autor wurde in diesen Stunden selbst in die Politik gesogen.
„Es wurde, wie häufig in solchen Momenten, für viele junge Menschen erfahrbar, dass politisches Engagement sich lohnt, Freude macht und mit kritischem Denken und kollektivem Engagement Gesellschaft durchaus zum Besseren verändert werden kann“, sagt Ulrich Brand gegenüber Linkswende jetzt.
Schon in den ersten Stunden bildete sich eine Pressestelle heraus, die Netzwerkarbeit über das Internet, Livestreams und in den Arbeitsgruppen lief an, die Protestwelle kam ins Rollen. Der Funke sprang auf alle Universitätsstädte in Österreich und sogar auf Hochschulen in Deutschland, der Schweiz, Polen und England über. Solidaritätsbekundungen trafen aus Tokio und Rio de Janeiro ein. Den Höhepunkt erreichte die Bewegung am 27. Oktober, als 50.000 Menschen „Geld für Bildung statt für Banken und Konzerne“ forderten.
There is an alternative!
Drei Tage darauf versuchte Wissenschaftsminister Johannes Hahn mit einem Zugeständnis die Lage zu kalmieren – 34 Millionen Euro mehr für die Universitäten. Vergebens. Er musste kurz darauf seinen Posten räumen, die Regierung verfrachtete ihn nach Brüssel in die EU-Kommission.
Im Audimax wurde über mehrere Wochen über eine andere Gesellschaft debattiert: mit dem Globalisierungskritiker Jean Ziegler, dem Musiker Konstantin Wecker oder der (inzwischen leider verstorbenen) Ute Bock. Ihr Neffe, Filmemacher Tom-Dariusch Allahyari, hat damals für ein besonderes Highlight gesorgt. Gegenüber Linkswende jetzt erinnert er sich: „Es war einer der schönsten Momente sowohl in meinem politischen wie in meinem filmischen Leben: Im überfüllten Audimax feierten hunderte rebellische Studierende lautstark den Auftritt meiner Tante, der Flüchtlingshelferin Ute Bock. Gemeinsam mit der Viennale-Leitung, Hans Hurch, hatten wir unsere Doku ‚Bock for President‘ auf der besetzten Uni uraufgeführt – eine Premiere der besonderen Art. Antirassismus war für die Unibrennt-Bewegung selbstverständlich.“
„Die Audimax-Bewegung hat eine breite hochschulpolitische Diskussion ausgelöst, die bis heute nachwirkt“, so Brand. Studiengebühren mit ihren sozial ungleichen und ausschließenden Wirkungen seien politisch kaum mehr durchsetzbar und es wäre deutlich geworden, dass man das Wissenschaftssystem deutlich besser ausfinanzieren müsse. Tausende junge Menschen entdeckten eine völlig andere Sicht auf die Welt und dass sie mit kollektivem Widerstand etwas verändern und Räume zurückgewinnen können – wie die Menschen, die sich heute für die Lösung der Klimakrise engagieren, die gleichfalls durch den neoliberalen, entfesselten Kapitalismus erst so richtig angefacht wurde.